Der I.C.H. Verlag ist im Grunde der Bruder des Leipziger Einbuch-Buchverlages, der deshalb so heißt, weil er sich vorrangig autobiografischen Schriften widmet. Und weil es hier nicht um Bestseller-Status geht, veröffentlichen hier auch Autor/-innen ihre Lebensgeschichten, die nicht ins dominierende Raster passen. So wie Frank Freyer, der sich durchaus fragt, wie es zur Rumpeltour im eigenen Leben kommen konnte.
Denn nicht an allem sind die Mächtigen schuld. Und wer behauptet, in seinem Leben immer schon gewusst zu haben, wie die große Geschichte läuft, der lügt. Der lügt sich auch selbst in die Tasche. Misstraut den großen Biografien, könnte man sagen. Sie verkaufen einem lauter Leute, die sich für die Macher ihres eigenen Lebens ausgeben und alles weglassen, was der ganz gewöhnliche Erdenbürger ständig erlebt: Unsicherheit, Glück, Zufall, Fügung, Schwein, Opportunismus, falsche Entscheidungen, Reue, Zweifel, blaue Flecken usw.Das wird in westlichen Landesteilen nicht anders sein als in östlichen, nur müssen die Bewohner jenes Landstücks, auf dem mal die DDR existierte, mit deutlich mehr Brüchen umgehen. Und die meisten, wirklich die meisten müssen damit leben, dass sie bis zum 9. Oktober oder 9. November 1989 ganz und gar nicht im Dissens mit diesem Land gelebt haben.
Manche saßen tatsächlich am 9. Oktober behelmt und gerüstet in Bereitschaft und wussten schlicht nicht, wie ihnen geschah. Andere verwandelten sich schwups im Februar 1990 aus emsigen Mitläufern in immer schon gewesene Widerstandskämpfer. Und manche erwischten die Ereignisse des Herbstes mitten im Dienst, so wie auch Frank Freyer, der in diesem Büchlein versucht zu ergründen, warum er an einigen Stellen in seinem Leben nicht den Mut aufbrachte, sich zu verweigern.
Denn dass er – als schüchterner Mensch – eigentlich völlig falsch war, als er sich zu 25 Jahren Offiziersdienst in der NVA verpflichtete, das wusste er eigentlich schon vorher. Selbst sein Cousin sagte es ihm. Und als er nach 13 Jahren in Uniform, die ihm ganz augenscheinlich auch eine Menge psychische Probleme einbrachten, 1990 seinen Abschied nahm, schied er ganz und gar nicht mit Wehmut, gehört also ganz offensichtlich nicht zu den einstigen NVA-Offizieren, die diese Niederlage gegen den „Systemfeind“ nie verkrafteten und sich in entsprechenden Vereinen versammelten, um ihrem Traum vom Sozialismus nachzutrauern.
Freyer beleuchtet also mit seiner Lebenserkundung einen Teil der einstigen DDR-Gesellschaft, der für gewöhnlich in den meisten Betrachtungen zu diesen 40 Jahren DDR nie vorkommt. Denn es ist natürlich immer billig, die Welt einfach in Gut und Böse zu teilen, in Diktatur und Widerstand, in Sieger und Unbelehrbare.
Aber was ist eigentlich mit all denen, die im System DDR irgendwie versuchten, richtige Entscheidungen zu treffen und dann trotzdem merkten, dass es die falschen waren? Und die dann auch noch – wie Freyer – den Stolz hatten, nicht von der Fahne zu gehen und lieber die Zähne zusammenbissen und die Arschbacken zusammenkniffen, um zu ihrem Versprechen zu stehen?
In diesem Fall also durchaus zur eigenen Not, auch weil er seinen Vater nicht enttäuschen wollte und weil die Offizierslaufbahn in der DDR prestigeträchtig war, auch wenn er am Ende von massiven Anfeindungen durch Zivilisten gegen uniformierte Offiziere in Berlin berichtet. Aber ab 1985 war ja auch für ihn unübersehbar, dass sich der Wind drehte und im Osten durch Gorbatschow so ziemlich alles in Bewegung geriet. Da waren die Versuche der „Betonköpfe“ in Ostberlin, sich gegen jede Veränderung zu verwahren, schon unübersehbar.
Glück für Freyer: Aus dem Dienst bei der Truppe – also einer Infanterieeinheit mit durchaus renitenten Soldaten – wurde er von seinen Vorgesetzten schon bald entbunden und als Ausbilder abkommandiert. Dass die Wehrpflichtigen im stolzen Arbeiter- und Bauernstaat ganz und gar nicht freiwillig und gutgelaunt zum „Ehrendienst“ antraten, hatte er also selbst erlebt – und auch, was die Untergebenen mit einem Leutnant anstellen konnten, den sie als weich und sensibel erkannten.
Wie viele junge Menschen haben eigentlich in der DDR so eine falsche Entscheidung für sich getroffen, nur weil sie damit ein sicheres Einkommen und eine planbare Lebensperspektive bekamen? Und was wurde aus ihnen? Denn Fakt ist ja auch, dass die Hardliner und Betonköpfe in der Minderheit waren. Die meisten standen 1990 vor der alten, unsicheren Frage: Was nun? Und nicht alle scheiterten in der neuen Gesellschaft, die durchaus Bedarf hatte an Akademikern und Leuten mit Führungspraxis.
Die wurden nicht allesamt Versicherungsvertreter. Manche ergriffen die Gelegenheit beim Schopf und wurden erst Buchhalter, dann Ausbilder an einer Umschulungsakademie wie Freyer, der die ersten Jahre nach 1990 so schildert, wie sie viele Ostdeutsche erlebt haben: als eine Zeit des Aufraffens, Bewerbungenschreibens, des Ausprobierens und der Zuversicht. Denn das, was er sich jetzt wagte, hatte er ja nicht gelernt, auch wenn er aus seiner Offizierszeit einen Titel als Ökonom tragen durfte. Aber Politische Ökonomie hat nun einmal wenig mit richtiger Betriebswirtschaft und Buchhaltung zu tun.
Aber gerade weil er sich traute und Dinge ausprobierte, die er vorher nie gemacht hatte, blickt Freyer gerade auf diese Zeit der immer neuen Anfänge nach 1990 mit Stolz zurück. Denn natürlich macht das stolz, wenn man sich selbst immer wieder beweist, dass man Neues lernen und beherrschen kann, wenn man sich nur auf den Hosenboden setzt und auch die Abende und Wochenenden dranhängt.
Und das haben die meisten Ostdeutschen gemacht. Auch das fehlt im Bild der deutsch-deutschen Missgunst, in dem der „Ossi“ für gewöhnlich als Daueralimentierter auf der Wartebank im Arbeitsamt sitzt, obwohl alle Zahlen gegen dieses Bild sprechen. Und auch wenn diese 1990er Jahre für die meisten Ostdeutschen letztlich eine Ochsentour waren, denn auf einigermaßen sichere Arbeitsplätze kamen auch alle die, die sich immer wieder neu aufrafften, meist erst zehn Jahre nach der „Wende“ oder noch später. Das Wort Arbeitskräftemangel gab es damals nicht, stellt Freyer fest.
Und wie sehr einen diese Neuorientierung in Anspruch nahm, macht er beiläufig am Thema Musik fest. Denn wirklich wieder einen freien Kopf für Musik hatte er erst 1995 wieder. Wobei Musik für ihn eigentlich ein Lebensthema war. Sie bestimmte seine Jugend in einer kleinen Stadt nahe Leipzig, wo er mit Gleichaltrigen und großer Kofferheule durch die Straßen zog und seine Lieblingsmusik laut aufdrehte – von CCR über Slade bis Nazareth.
Das muss, so stellt er nun in geruhsamerem Alter fest, für die damaligen Erwachsenen eine echte Zumutung gewesen sein. Andererseits faszinierte ihn aber auch die unerhörte Rockmusik des Ostens, die mit Honeckers Machtübernahme tatsächlich aufblühen konnte. Auch das kommt ja in vielen DDR-Geschichtsbetrachtungen nie vor, dass mit dem Neuen an der Spitze der SED auch so etwas wie Zuversicht im eingemauerten Ländchen aufkam, dass jetzt endlich mehr Freiheit einziehen würde. (Eine Hoffnung, die ja mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann gründlich zu Ende ging.)
Von einigen der erstklassigen Bands, die in dieser Zeit auftauchten und Furore machten, zitiert Freyer auch die Liedtexte, die im Grunde alle Widersprüche des Lebens in der DDR enthielten. Auf einmal war das sagbar und wurde in poetischen Songs geradezu zur Lebensmusik einer ganzen Generation. Und für Freyer bündelte sich das alles in Heiner Carows Film „Die Legende von Paul und Paula“ mit der eindringlichen Musik der Puhdys, deren Songs „Geh zu ihr“ oder „Wenn ein Mensch lebt“ bis heute funktionieren.
Der Film stellte im Grunde alle Fragen, die sich Menschen in einem Land wie der DDR stellen mussten, wenn sie ihr Leben lebten und Entscheidungen trafen: Steht einer zu seiner Liebe, zu dem was ihm wirklich wichtig ist? Oder kneift er und lässt die Dinge laufen?
Das ist wieder so eine Stelle, an der einem der wirklich bekloppte Vorwurf aus der „Wende“-Zeit einfällt, der den Ostdeutschen immer wieder unter die Nase gehalten wurde mit dem – eigentlich falsch verstandenen – Adorno-Zitat „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, dessen Fehlinterpretation eigentlich bis heute das Fremdbild der Ostdeutschen bestimmt.
Doch niemand hat sich die Frage nach dem richtigen Leben ernsthafter und eindringlicher gestellt als gerade die in der DDR Lebenden. Filme, Songs und Bücher erzählen davon – samt den damals tatsächlich stattfindenden großen Diskussionen, die teilweise sogar ins Parteiorgan ND hineinschwappten. Über „Paul und Paula“ wurde genauso intensiv diskutiert wie über „Guten Morgen, du Schöne“ oder Christa Wolfs „Kindheitsmuster“.
Muss man ja alles im Westen nicht wissen. Aber Freyer deutet zumindest an, wie wichtig das alles war. Und dass man 1977 dennoch den falschen Entschluss treffen konnte, sich für das halbe Leben bei der „Asche“ zu verpflichten, auch weil man vielleicht irgendwie glaubte, es diesem Land schuldig zu sein. Oder gar überzeugt war, dass die Bewerberkollektive, die in den Schulen unterwegs waren, doch im Kern recht hätten und das Land eine starke Armee brauchte, um den Sozialismus zu verteidigen.
Kann es sein, dass die DDR für doch gar nicht so wenige Menschen tatsächlich ein Projekt war, an das sie felsenfest glaubten? Eigentlich eine Frage, die irgendwann mal gestellt und untersucht werden sollte, bevor die Menschen alle gestorben sind und am Ende alle Ostdeutschen nur noch Widerstandskämpfer gewesen sind. Oder schreckliche Funktionäre im Dienst eines „Unrechtsstaates“.
Denn damit wird natürlich auch einer Menge Menschen, die das Versuchsprojekt im Osten für eine echte Alternative hielten, jede Legitimation abgesprochen. Und die DDR damit auch entkernt. Denn wer hat sie denn eigentlich getragen? Und wie gehen diese Menschen damit um, ihr Lebensprojekt derart sang- und klanglos scheitern zu sehen?
Das sind so Fragen, die eher beiläufig auftauchen, spätestens, wenn Freyer schreibt: „Dass die im Osten entstandenen kameradschaftlichen und solidarischen Beziehungen der Menschen untereinander bald dem Neid und der Missgunst im harten Alltag weichen würden, war mir bewusst. Da gab ich mich keinen Illusionen hin. Aber das positive Gefühl am Neuen überwog damals.“
Was ja auch andeutet, dass da mehr als nur sicher geglaubte Arbeitsplätze über den Jordan gingen. Da ging wirklich eine ganze Gesellschaft in die Binsen. Und gerade Ostdeutsche haben erlebt, dass eben mit der Deutschen Einheit gar nicht alles gut wurde. Und auch 30 Jahre nach der „Wende“ sieht auch Freyer ein vielfach zerrissenes Land, in dem auch die politischen Diskussionen nicht vereinen, sondern ausgrenzen und eskalieren, ohne dass die aufgestauten Probleme der Gegenwart gelöst werden.
Doch auch das konnte er ja lernen, dass der Westen ganz und gar nicht so entscheidungsfreudig ist, wie sein wirtschaftlicher Erfolg scheinbar vermuten lässt. Politische Entscheidungen werden nur zu gern erst nachholend, Fünf nach Zwölf getroffen. Zuletzt wird Freyer doch sehr nachdenklich, was die politische Gegenwart betrifft und die Unwilligkeit derer, die vom Aussitzen profitieren, auf ihr klimaschädliches Verhalten zu verzichten: „Aber die globalen Probleme dieser einen Welt pochen mittlerweile mit einem Vorschlaghammer an unsere Haustür. Und sie verlangen eine Lösung!“, schreibt Freyer.
Mit dem Ausrufezeichen endet sein Buch, das im Grunde ein Versuch ist, herauszufinden, warum sein Leben nach der scheinbar so klaren und eindeutigen Jugend auf einmal „verfilzt“ wurde, voller Entscheidungen, in denen auch Unsicherheit, Ratlosigkeit und Nachgiebigkeit steckt. Das Leben ist nicht so eindeutig, wie es viele Biografen behaupten. Und oft hängt alles an einem mutigen Ja oder mutigen Nein im richtigen Moment, oder an dem Mut, die Sache zu korrigieren. Ein Mut, den eher nicht die Meisten haben. Nur würden es die Meisten nie so nachdenklich auch zugeben, wie es Freyer hier tut.
Frank Freyer Sagt, was hat mir diese Welt verfilzt, als ich plötzlich erwachsen war?, I.C.H. Verlag, Leipzig 2020, 13,90 Euro.
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