Da ist dann wohl der Wurm drin, oder? Seit einigen Monaten stapeln sich die Bรผcher, in denen Journalist/-innen versuchen, dieses seltsame Ostdeutschland zu entziffern bzw. dessen Bewohner, die Ossis, die ja bekanntlich in der tรคglichen Berichterstattung irgendwie an seltsame Vรถlker mit komischen Sitten aus dem Kino erinnern. โ€žEs ist das Drama, das uns anzieht, und das will medial bedient werdenโ€œ, schreibt Carolin Wilms an einer Stelle in diesem Buch ein wahres Wort.

Das geht dann so weiter: โ€žDabei gerรคt leider die Normalitรคt in Vergessenheit und das hat Folgen fรผr die Wahrnehmung.โ€œ

Carolin Wilms, geboren in Bremen, lebt seit 2006 in Leipzig und berichtet von hier, aus Karl-May-Land, fรผr รผberregionale Zeitungen wie die F.A.Z. und โ€žEl Paisโ€œ. Ilka Wild, geboren in Gotha, lebt inzwischen auch in Leipzig und arbeitet fรผr den MDR. Da haben sich also zwei gesucht und gefunden und zusammengetan, um in diesem Buch einfach mal aus ost-westlicher Doppelperspektive zu erkunden, was mit diesem Landstrich, der seit 1990 wieder zu Deutschland gehรถrt, eigentlich los ist.Sie merken schon, mit Worten kann man ganz schรถn lรถcken. Gehรถrten wir bis 1990 tatsรคchlich nicht zu Deutschland? Jawollo. Das ist eine Quintessenz aus diesem Duett, bei dem die beiden manchmal sehr aufmerksam und genau erkunden, was da eigentlich in den 30 Jahren mit ihnen und ihrer Wahrnehmung des nunmehr deutschen Ostens passiert ist. Immerhin hat Carolin Wilms selbst in ihrem Erwachsenenleben praktisch nicht mitbekommen, was da im fernen Sibirien an der Elbe passiert ist.

Es hat sie schlicht nicht interessiert, so, wie es die meisten Bewohner der alten Bundesrepublik nicht interessiert hat. Nicht mal nach dem 3. Oktober, als die Treuhand da drรผben versuchte, den Laden irgendwie marktwirtschaftlich kompatibel zu machen. Was ja bekanntlich nur zum Teil gelang. Was aber westwรคrts eher nicht so interessierte, geradezu langweilig war. Sogar Millionen Ostdeutsche fanden es รถde und langweilig, denn das, was sich die meisten 1990 ertrรคumt hatten, passierte nicht.

Keine blรผhenden Landschaften, kein Wirtschaftswunder. Eher eine mรผhsame Ochsentour, bei der nicht abzusehen war, wann da mal was passieren wรผrde. Weshalb 3,6 Millionen Ostdeutsche im Lauf der 30 Jahre ihre Koffer packten und in den Westen umzogen. Die Zahl schreibt Wilms kurz nach der Feststellung mit dem Kinoerlebnis, das eigentlich ein Gleichnis fรผr Medienaufmerksamkeit ist. Nicht nur bei der F.A.Z. oder beim MDR.

Und gerade in ihrem Beitrag โ€žLieber Gott, erhalt mir mein Klischee!โ€œ analysiert Wilms sehr klug, wie das Schaffen medialer Aufmerksamkeit in Deutschland funktioniert, wie Menschen, Lรคnder und Gesellschaften sich in Klischees verwandeln und wie Medienmacher meist gar nicht mehr merken, dass sie schon lange nicht mehr รผber die Realitรคt berichten, sondern รผber Klischees.

Und noch etwas merkt Wilms an: โ€žEs wird รผber das Neue im bereits Bekannten gesprochen, das an dem Tag eine gewisse Relevanz hat.โ€œ Hier geht es zwar um die Abendnachrichten. Aber es gilt fรผr die komplette mediale Verwertungskette, in der haufenweise Leute sitzen, die immerfort entscheiden, ob etwas Relevanz hat oder nicht.

An anderer Stelle liefern die beiden noch mehr Puzzle-Stรผcke, die zumindest ahnen lassen, wie stark diese Mechanismen wirken โ€“ etwa die Verblรผffung darรผber, dass die groรŸen westdeutschen Zeitungen im Osten nach 1990 einfach nicht FuรŸ fassen konnten. Obwohl doch die Ostdeutschen westdeutsche Medien bestens kannten.

Sogar den Westen besser kannten als die Westdeutschen den Osten, denn das Westfernsehen haben sie immer aufmerksam verfolgt. Und nach 1990 sind sie immer wieder in den Westen gefahren. Es gibt praktisch keinen Ostdeutschen, der nicht die Stรคdte und Landschaften im Westen kennt und mehrfach besucht hat, aber es gibt immer noch viele Westdeutsche, die noch nie im Osten waren.

Und durch die Medien ging ja auch die kleine Auswertung, wie viele Ostdeutsche an (westdeutschen) Journalistenschulen immatrikuliert sind. Sie sind dort bis heute Exoten. Und sie sind auch in den groรŸen Medien (des Westens) Exoten. Oft werden sie dann mit Rechercheauftrag in den Osten geschickt, um von dort zu berichten. Um dann freilich immer wieder zu erfahren, dass ihre Berichte in den Redaktionen im Westen als nicht so relevant eingeschรคtzt wurden und eben nicht auf die Titelseite kamen oder prominent in den politischen Teil.

Da kann man jetzt auf das รœbergewicht westdeutscher Fรผhrungskrรคfte selbst in ostdeutschen Spitzenpositionen zu sprechen kommen, was die beiden auch tun. Im Grunde haben sie sich viel vorgenommen, sehr viel. Gerade Ilka Wild versucht genau zu erkunden, wie sie durch ihre Kindheit und ihr Aufwachsen im Osten geprรคgt wurde, wie Karrieren und Selbstverstรคndnisse in der DDR entstanden und die im Osten Lebenden bis heute prรคgen. Eigentlich lauter Ansรคtze, die wirklich ein Kapitel erรถffnen kรถnnten mit dem Titel โ€žWie wollen wir รผber die DDR sprechen?โ€œ

Ein solches Kapitel gibt es. Aber da verfallen die beiden wieder in die alten konservativen Interpretationsmuster, geht es wieder um die โ€žzweite deutsche Diktaturโ€œ, Altlasten und die Forderung nach Diktaturaufarbeitung. Was einfach nur seltsam klingt, denn die passiert ja. Was auch jeder mitbekommt, der die regelmรครŸigen Verรถffentlichungen dazu auch wahrnimmt.

Etwas anderes stimmt freilich auch: Nicht nur in Sachsen ist die Beschรคftigung mit Geschichte und Demokratie in den Schulen arg zusammengekรผrzt worden. Die Bildungsreformer hielten das einfach nicht fรผr so wichtig nach dem PISA-Schock. Lieber quetscht man noch ein paar Stunden Mathe und Physik in die Schulen, sodass die ostdeutschen Schulen zwar lauter angehende Ingenieure ausspucken, nur mit der politischen Bildung scheint es da etwas zu hapern. Was mรถglicherweise mit den Wahlerfolgen der AfD gerade bei den jungen Wรคhlern zu tun haben kรถnnte.

Ob diese Interpretation stimmt, hat noch niemand belegt. Und wenn die beiden sich selbst aufmerksam รผber die Schulter geschaut haben, haben sie auch gemerkt, dass eine andere Erklรคrung sich noch viel stรคrker aufdrรคngt. Denn wie ein Land in Depression verfรคllt, wenn es infrastrukturell immer mehr ausblutet, das hat Ilka Wild eigentlich sehr genau beschrieben โ€“ auch am Beispiel ihrer Geburtsstadt Gotha, die sich aber so sehr verรคndert hat, dass sie sie heute nicht mehr wirklich als Heimatstadt wahrnehmen kann.

Carolin Wilms empfand sogar Leipzig noch als graue, ruinรถse Stadt, als sie 2006 hierherzog. Was einen als hier Lebender zumindest verblรผfft, denn da hatte Leipzig seine deprimierendste Phase lรคngst hinter sich und atmete langsam auf. Aber so kann man sich tรคuschen. Oder besser: So verschieden sind Wahrnehmungen. Und dass es in den deutsch-deutschen Beziehungen immer um Wahrnehmungen geht, machen die beiden in ihren wechselnden Sichten und Themen eigentlich recht deutlich. Wobei einem sogar diese โ€ždeutsch-deutschen Beziehungenโ€œ seltsam vorkommen. Das hรคtte man in den 1970er Jahren noch sagen kรถnnen, als Willy Brandt seine Ostpolitik machte.

Das Klischee vom Ostdeutschen

Aber wir sagen das heute immer noch, was seltsam ist. Was aber auch mit der Wahrnehmung Ostdeutschlands aus westdeutscher Perspektive als immer noch eines anderen Deutschlands zu tun hat. Und mit den oben erwรคhnten Stereotypen. Es stimmt schon: Kein Medium wรผrde auf die Idee kommen, immerzu die Nord- und die Sรผddeutschen gegeneinander auszuspielen. Aber das Klischee vom Ostdeutschen steht da wie festgemauert.

Als wรคre ganz und gar nichts vereint und zusammengewachsen. Bei jeder Umfrage โ€“ auch in den groรŸen โ€žMitteโ€œ- und โ€žAutoritarismusโ€œ-Studien โ€“ wird immer schรถn separiert zwischen Ost und West. Was immer zwei Seiten hat: Einerseits werden die Ostdeutschen besonders beleuchtet, zum anderen aber werden sie auch immer wieder als etwas eigentlich nicht Dazugehรถrendes behandelt.

Beziehungen bestehen nun einmal zuallererst aus Psychologie. Und beide Autorinnen merken zu Recht an, wie sehr sie sich wundern, dass das westdeutsche Auswahlraster in der Berichterstattung bis heute funktioniert: Armut, Nazis, Krawall. Na ja, und Undankbarkeit. Obwohl die meisten im Osten Lebenden weder undankbar sind, noch Krawall machen und auch keine hellblauen Nazis wรคhlen.

Eigentlich โ€“ vielleicht haben die beiden es ja gar nicht gemerkt โ€“ ist ihr sehr facettenreiches Buch eine eingehende Kritik an der Wahrnehmung des Ostens in den dominierenden und im Westen produzierten Medien. Das kommt sogar in einem Satz zum Ausdruck, den Ilka Wild wie beilรคufig hinschreibt: โ€žEin ZDF-Team begleitet Joachim Gauck auf einer Reise in den Osten.โ€œ

Eigentlich ein starkes und sprechendes Bild, das alles sagt: Die groรŸen Medien, die die Sicht der Deutschen auf ihr Land prรคgen, sind im Osten weder zu Hause, noch betrachten sie ihn als dazugehรถrig. Es ist nach wie vor fremdes โ€“ und zumeist als gefรคhrlich betrachtetes Land. Was sich ja in den letzten Jahren bestรคtigte, weil allerlei Fernsehteams der groรŸen Sender auf ostdeutschen Demos von Pegida bis Querdenker tรคtlich angegriffen wurden.

Was aber auch schon eine Fokussierung ist, denn รผber viele Themen, die im Osten positiv gelaufen sind, wird in diesen Medien nicht berichtet. Es ist โ€“ aus Mainzer Perspektive โ€“ nicht relevant. Oder aus Hamburger oder aus Mรผnchner. Relevant scheint nur zu sein, was in die Erwartungsraster passt. Und eine Normalisierung des dazugekommenen Landesteils ist irgendwie nicht gewollt. Oder man merkt es gar nicht mehr, wie das schon vor 1989 lรคngst manifeste Klischee โ€“ โ€žDie gehรถren nicht zu unsโ€œ โ€“ einfach weitergelebt wird.

Obwohl es โ€“ das stellen die beiden ja auch fest, รผberhaupt keine Basis hat. Wofรผr allein die 3,6 Millionen Ostdeutschen sprechen, die seit 1990 in den Westen gegangen sind und sich dort problemlos assimiliert haben. Sie fallen dort nicht auf als fremder Bevรถlkerungsteil. Sind das also andere Ostdeutsche als die Leute, die im Osten geblieben sind?

Natรผrlich sind die leichter erkennbar, weil man ja auf der Landkarte genau zeigen kann, wer bis 1990 nicht dazugehรถrte. Und im Alltag merkt man es auch oft noch, weil natรผrlich das Leben in einem Land mit Mangelwirtschaft, staatlicher Gleichmacherei, Mauer und Bevormundung auch Verhaltens- und Sprechweisen geprรคgt hat.

Bis dahin โ€“ auch das erzรคhlen die beiden ja โ€“ dass die im Osten Lebenden sogar stolz sind auf diese Erfahrungsunterschiede und auf die einst verschmรคhten Ostprodukte, die sie heute gerade deshalb im Konsum (โ€žauf der ersten Silbe zu betonenโ€œ) kaufen. An der Stelle werden die beiden sogar รถkonomisch und fordern geradezu, dass auch andere Ostfirmen โ€“ und nicht nur Rotkรคppchen โ€“ endlich anfangen sollten, auch den westdeutschen Markt zu erobern, wo man diese lรคngst konkurrenzfรคhigen Ostprodukte gar nicht kennt.

Aber auf die friedliche Revolution sollten die Ostdeutschen doch wenigstens stolz sein? Immerhin waren sie es, die ihre eigene Diktatur abgeschafft haben. Aber irgendwie dringt selbst diese Botschaft nicht in die westdeutsche Wahrnehmung durch. Aus der Selbstermรคchtigung wurde eine gefรผhlte Entmachtung, die Carolin Wilms andeutet, wenn sie schreibt: โ€žWas aber waren die ersten Erfahrungen mit der Demokratie fรผr die Menschen im Osten? Nach ersten Gehversuchen wurde das Projekt beendet und das fertige System aus der westdeutschen BRD wurde in den Osten exportiert.โ€œ

Fast mรถchte man nicken an der Stelle. Aber Kopfschรผtteln ist vielleicht besser. Denn an anderer Stelle gehen die beiden auf den schรถnen Faktor Zeit ein. Denn bestimmt wรคre die deutsche Vereinigung viel schรถner geworden, hรคtten alle sich mehr Zeit gelassen. Aber die Zeit reichte weder fรผr eine neue Nationalhymne, noch fรผr eine gemeinsam erschaffene Verfassung und schon gar nicht fรผr eine Neuerfindung der Demokratie an Runden Tischen im Osten.

Geschichte hat manchmal ihre zwingende Logik. Und รถkonomischen Druck auf dem Kessel. Und deshalb erinnert gerade diese Stelle daran, wo die west- genauso wie die ostdeutsche Geschichtsdeutung aufs falsche Gleis geraten sind. Denn beide Seiten haben so ihre Mythen, warum die Sache schiefgegangen sein sollte. Die einen sehen die Ursachen in der einfach nicht auszurottenden Diktatursozialisierung der โ€žOssisโ€œ, die andern zeigen mit dem Finger auf die Treuhand.

Staubige Argumentationsschienen

Schade, dass auch Wilms und Wild diese staubigen Argumentationsschienen wieder aufgreifen, obwohl sie in ganzen Kapiteln feststellen, dass der Osten sich nach 1995 sichtbar verรคndert hat, dass die Probleme der im Osten Lebenden also keine alten, sondern heutige Probleme sind, die mit einem deutlich niedrigeren Lohnniveau zu tun haben und nach wie vor von Ostdeutschen besorgten Billigjobs (ein Thema, รผber das sich die beiden ausgerechnet beim Thema Migration und Auslรคnder wundern), dem fehlenden Besitz und den massiv zurรผckgebauten Infrastrukturen genau in den Landstrichen, aus denen รผber die Jahre ausgerechnet die jungen Leute abgewandert sind. Eine Entwicklung, die gerade auch strukturschwache Regionen im Westen heimzusuchen beginnt.

Da muss der Osten oft genug herhalten fรผr eine Zuschreibung, die den Westen scheinbar entlastet und gar nicht betroffen zeigt. Passt halt nicht ins westliche Wahrnehmungsschema, aber eben ins ostdeutsche Klischee.

Und da komme man mal wieder raus, wenn man kein einziges reichweitenstarkes Medium hat, das gegenhalten kรถnnte. Das einfach die ganze journalistische Arbeit leisten wรผrde, die westdeutsche Medien schlicht nicht leisten kรถnnen. Dabei haben auch die Westdeutschen ihre Vor-Urteile. Man sieht nur, was einem als relevant erscheint. Caroline Wilms etwa sieht die aus ihrer Sicht preuรŸische Pรผnktlichkeit und Regelversessenheit der Ostdeutschen, die schnell unhรถflich und harsch werden, wenn sich jemand nicht an die Regeln hรคlt. Ist das also noch alte DDR-Erziehung im preuรŸisch-militaristischen Geist?

Ich frage nur. Aber ich vermute mal: Nein. Nicht nur. Denn darin steckt eben auch ein gut Teil รœberforderung und Unsicherheit. Mit Un-Ordnung kann man viel lockerer umgehen, wenn die eigenen Ressourcen grรถรŸer sind. Denn wenn man schon รผber die ganze Rumpeltour der wirtschaftlichen Brรผche erzรคhlt, dann muss man auch miterzรคhlen, dass sie die Betroffenen Kraft gekostet haben.

Auch der Satz steht irgendwo: Irgendwann wollen Menschen, wenn sie schon derartige Krisen meistern, trotzdem mal in ruhigeres Fahrwasser kommen und einfach in Verhรคltnisse, die nicht gleich wieder umgestรผrzt werden. Denn es ist ja schรถn, die โ€žOssisโ€œ dafรผr zu loben, dass sie sich nun so oft als krisenresistent erwiesen haben.

Aber ob sie die Krisen wirklich auch psychisch bewรคltigt haben, fragt keiner. Es interessiert einfach nicht. Ein wenig wird das sichtbar, wenn die beiden im allerletzten Text versuchen zu erklรคren, warum der Osten in der Corona-Pandemie zwei Mal so seltsam auffiel โ€“ in der ersten Welle als fast nicht betroffen und in der zweiten dann um so heftiger von Infektionen erwischt.

Die Politik lieferte ja allerlei dubiose Erklรคrungen. Aber als wollten sie jetzt zum eigentlichen Thema zurรผckkommen, merken die beiden an, dass das vielleicht doch etwas mit Demografie zu tun haben kรถnnte, mit entvรถlkerten Landstrichen, die โ€žsocial distancingโ€œ nun schon seit 25 Jahren erleben, aber auch an einer massiv รผberalterten Bevรถlkerung, die in der zweiten Welle nicht geschรผtzt werden konnte.

Das Bild vom โ€žRissโ€œ

Das Buch reiht sich ein in etliche andere Titel, die nach den Grรผnden fรผr das Missverstรคndnis Ost gesucht haben, ob nun Peter Maxwills โ€žDie Reise zum Rissโ€œ oder Michael Kraskes โ€žDer Rissโ€œ. Wobei zwei Titel mit deutlich unabhรคngigerem Ansatz eigentlich noch aufschlussreicher waren (und sind): Greta Tauberts โ€žGuten Morgen, du Schรถnerโ€œ und Barbara Thรฉriaults โ€žDie Bodenstรคndigenโ€œ.

Sie merken ja schon: Das Bild vom โ€žRissโ€œ gehรถrt in das westdeutsche Schema, den Osten weiterhin als nicht dazugehรถrig zu betrachten, nicht zu akzeptieren, dass dieses Stรผck Land eigentlich dazugehรถrt. Mit allem Drum und Dran. Und dass man meistens im anderen, also dem als anders Definierten, vor allem das sieht, was man selbst nicht sein mรถchte.

Und das, was man nicht erwartet, sieht man dann auch nicht. Es wird nicht als relevant eingestuft und deshalb im Nachrichtenstrom frรผhzeitig aussortiert. Und das hat Folgen, was gerade Carolin Wilms feststellt: Denn wie fรผhlen sich eigentlich Menschen in einem kompletten Landesteil, wenn sie tรคglich die Erfahrung machen, dass sie fรผr das GroรŸe und Ganze nicht als relevant betrachtet werden?

Die Frage kann ich einfach so stehenlassen. Denn eigentlich dreht sich das Buch, in dem einige Kapitel wirklich als Dialog gestaltet sind, genau um das Thema. Denn die fiktive Verhandlung auf Augenhรถhe, die in der Frage โ€žSind wir uns wirklich einig?โ€œ steckt, existiert nicht. Selbst wenn der honorige Gastgeber glaubt, dass er den Gast doch respektvoll behandelt und ihm in den letzten 30 Jahren auch richtig geholfen hat mit ganz viel Geld. Aber auch so kann man dem anderen freundlich klarmachen, dass er eigentlich nur am Tisch sitzen darf, weil der groรŸe Bruder die Rechnung bezahlt hat.

Caroline Wilms deutet zumindest an, dass sich die stets gut bedienten Bayern so auch gegenรผber dem Zuschussland Bremen benehmen. Vielleicht ist das ja eine deutsche Tugend, anderen stรคndig die Rechnung unter die Nase zu halten, auch wenn man hintenrum eifrig selbst Bundesmittel abgreift. Da kรถnnen beim armen Verwandten am Tisch schon mal seltsame Gefรผhle entstehen, wenn man nach 30 Jahren merkt, dass man immer noch als armer Verwandter (und verlรคngerte Werkbank) behandelt wird, der eigentlich nicht richtig dazugehรถrt.

Wie gehen eigentlich die Bremer damit um? Und die Saarlรคnder?

Irgendwie wird das Buch, obwohl es sich eigentlich wieder nur auf die Ostdeutschen fokussiert, zu einer vorsichtig durchschimmernden Analyse der medial manifesten Vorurteile, die alles Mรถgliche sichtbar machen, nur eben nicht das, was auรŸerhalb der fest etablierten Schablonen stattfindet.

Und dabei dรผrften eigentlich beide Seiten stolz sein, auch das betonen die beiden Autorinnen: Denn beide Teile haben es geschafft, eine weltweit bestaunte Wiedervereinigung hinzubekommen, obwohl sich beide Landesteile 1989 so gravierend voneinander unterschieden. Tun sie das heute wirklich noch, wie es immer wieder beschworen wird?

Oder trรผgt da eine genau von solchen Schablonen bestimmte Diskussionskultur, wie Ilka Wild andeutet? Die Frage lass ich hier stehen, denn sie sprengt das Buch. Denn wer sich einig werden will, muss erst einmal anfangen, das Gemeinsame wahrzunehmen, und nicht nur das Nichtdazugehรถrige, Inakzeptable und Ungehรถrige. Sind nur die Ostdeutschen derart preuรŸisch? Mein Gefรผhl sagt mir: Das kรถnnte ein gewaltiger Trugschluss sein.

Ilka Wild; Carolin Wilms Sind wir uns wirklich einig?, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021, 16 Euro.

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Keine Kommentare bisher

Das Buch scheint ein bisschen spรคt dran zu sein.

Und ein Zuzug erst im Jahr 2006 qualifiziert nicht mehr so gut fรผr den Status โ€œWossiโ€. Der Umbruch war da ziemlich vorbei, Hypezig kam in Sicht. Die Wendebabys machten bald ihr Abi.

Bautzner Senf gibts auch im Westen.

Die Autorinnen hรคtten sich wohl deutlicher auf die Jetztzeit konzentrieren sollenโ€ฆ von wegen Konzernzentralen im Osten usw.

Es gibt auch interessante Ansichten. Eine wird Thomas de Maiziรจre zugeschrieben und besagt ungefรคhr, dass Ostdeutsche zwar gut und sauber arbeiten, aber nur wenig bereit sind, echte Verantwortung zu รผbernehmen. Deshalb auch gebe es so wenige รถstliche Fรผhrungskrรคfte in den groรŸen Konzernen. Interessant, interessant.

Und die Wendebabys haben schon Kinder, die in die Schule gehen.

Der Ost-West-Konflikt vergisst sich im Alltag immer mehr. Es ist selbst bei Partygesprรคchen fast uninteressant geworden, ob jemand aus dem โ€œOstenโ€ kommt oder nicht. Da zieht โ€œnorddeutschโ€ oder โ€œBayernโ€ lรคngst wieder mehrโ€ฆ

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