Von oben sieht man mehr. Das weiß jeder, der gern auf hohe Türme klettert. Oder ins Flugzeug, um damit über Stadt und Land zu fliegen und den Leuten mal so richtig aufs Dach zu schauen, auf den Balkon oder die ganze Technik auf dem Dach, die man von unten nicht sieht. Der Franke Gerhard Launer hat das regelrecht zu seiner Profession gemacht. Auch über Leipzig ist er mit seinem Kleinflugzeug geflogen und hat gestochen scharfe Aufnahmen gemacht.

Wobei das ja nicht neu ist. Zu Leipzig werden immer wieder Bücher mit neuen und alten Luftbildern veröffentlicht. Sie alle leben von der Faszination des anderen Blickwinkels. Aus der Vogelperspektive wird vieles erst erkennbar, was man von unten einfach nicht sieht. Was auch Architekten nicht sehen können, wenn sie neue Gebäude planen. Auch dann nicht, wenn sie es mitbedenken bei ihren Entwürfen.Und je mehr Bilder es aus luftigen Höhen gibt, umso mehr bedenken Architekten und Landschaftsgestalter auch die Draufsicht mit. Das zeigen gerade die jüngeren Strukturen im Leipziger Stadtbild, das, was Gerhard Launer besonders interessiert, der ja ausgebildeter Grafikdesigner ist. Mit so einem Hintergrund fotografiert man anders und nimmt Strukturen ganz anders wahr. Oder entdeckt sie gar erst, wo andere nur drüberfliegen und nichts Spannendes erkennen würden.

Aber Leipzig bietet aus der Luftperspektive erstaunliche Muster und Strukturen. Man wird hier fündig, wenn man – wie Launer – schon Bücher wie „Deutschland von oben – Tag für Tag“ gemacht hat. Dann fällt auf, dass Menschen immer bestrebt sind, eindrucksvolle Strukturen zu schaffen und ihre Welt mit Mustern zu versehen. Was man freilich oft erst genauer sieht, wenn man die Details heranzoomt und das scheinbare Chaos einer gewachsenen Stadt auf jene Ebene herunterbricht, auf der Architekten und Planer sich wirklich etwas gedacht haben.

Genau solche Strukturen nimm Launer besonders gern aufs Korn. Seien es die Lichtspiele am neuen Augusteum der Universität oder des benachbarten Paulinums, sei es der Blick von oben aufs Völkerschlachtdenkmal oder der Zoom auf die Dachterrasse des City-Hochhauses, die auf einmal in direkte Nachbarschaft des Mendebrunnens kommt.

Aber auch beim Botanischen Garten, beim Gondwanaland oder bei der Arena und ihrem Umfeld wird sichtbar, dass die Architekten sehr wohl die Draufsicht mitbedacht haben. Der Wagnerhain zeigt seine Symmetrie in der Draufsicht genauso wie der Tastgarten im Friedenspark. Und selbst der Clara-Park wirkt überraschend neu, wenn er von oben gezeigt wird.

Es ist ganz so, als wollte der Flieger den kleinen Menschen da unten zeigen, in was für einer bezaubernden Landschaft sie eigentlich leben dürfen. Egal, ob er die Badenden im klaren Wasser des Kulkwitzer Sees zeigt oder die Angelandeten auf einer Insel im Markkleeberger See, die Menschlein, die über den Burgplatz radeln oder die Segelboote im Hafen von Lagovida.

Der Blick in umgestaltete Innenhöfe zeigt genauso überraschende Gestaltungslust wie der Fliegerblick auf die gewaltigen Fensterlandschaften Leipziger Hochhäuser. Eine Stadt ist voller Muster. Man muss sie nur entdecken wollen. Egal, ob es alte entkernte Gasometer sind oder die großen Kirchen inmitten ihrer Plätze. Natürlich nahm Launer auch die üblichen Sehenswürdigkeiten in den Blick.

Aber auch hier merkt man, dass er den richtigen Lichteinfall suchte, um die Gebäude in ihrem Umfeld als kleine Stars zu inszenieren – egal, ob die Russische Gedächtniskirche, das Bundesverwaltungsgericht in den erstaunlichen geometrischen Strukturen des Musikviertels oder Baumallee und Zierteich im MDR-Gelände.

Das Doppel-M am alten Messegelände wirkt aus der Höhe völlig anders als aus der Erdling-Perspektive, der Golfpark Seehausen gar wie eine riesige Farbpalette mit viel Grün und Türkis. Die Meyerschen Häuser trumpfen genauso auf in Geometrie wie die Reihenhäuser auf dem ehemaligen Kasernengelände in der Fleißnerstraße. Manches scheint den fotografierenden Piloten besonders fasziniert zu haben, sodass er gleich mehrere Schleifen dreht – etwa über dem Nikolaikirchhof oder den neuen Wohnlandschaften an der Weißen Elster.

Straßencafés und Erholungslandschaften kommen ins Bild, Lost Places und die schäumenden Wehre der Weißen Elster. Ganz schön was los in so einer Stadt an einem sonnigen Tag, freut man sich beim Blättern. Und möchte gleich mal selbst da unten sein, als Paddler, Flaneur oder Inhaber eines Büros im Deutschen Buch- und Schriftmuseum mit eigener Terrasse und Gartenstühlen, wo man genau an so einem Tag nur zu gern sitzen würde, um ein dickes Buch zu lesen.

Man könnte neidisch werden. Oder einfach wieder ein bisschen staunen lernen, wie schön eine Stadt sein kann, wenn sich Menschen bemühen, sie planvoll und mit Sinn für Ästhetik einzurichten. Und dabei auch nicht vergessen, dass Schönheit auch bezahlbar sein muss. Was sie leider heutzutage immer öfter vergessen.

Aber da ist ja wenigstens dieses Buch, mit dem man selbst mal ein bisschen fliegen kann, Bekanntes suchen und Unverhofftes finden. Und nachher kann man sich da unten einen Kaffee holen und sich mitten hineinsetzen in die Muster der Plätze und Parks. Oder sich ein Boot ausleihen, um über die unergründliche Tiefen des Kulkwitzer Sees zu fahren, über eine grüne Unterwasserlandschaft, die man nur von oben sieht. Mit dem knallroten Paddelboot mittendrin. Eigentlich ein schöner Ort. Und ein Buch, das auch leise mahnt: Bewahrt diese Schönheit. Sie ist ein Geschenk.

Gerhard Launer Leipzig von oben, Klartext Verlag, Essen 2021, 18,95 Euro.

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