Die Form ist ungewöhnlich, auch der Ort, an dem der Ich-Erzähler seine Geschichte rekapituliert: eine Insel in der Mulde, in Sichtweise des Pfarrhauses, in dem er kurz zuvor erst mit seiner Familie eine Notunterkunft bekam. Es sind die letzten Tage des Krieges und nach und nach tauchen wir als Leser ein in die Selbstrechtfertigung eines Mannes, der sich durchaus bewusst ist, dass er Schuld auf sich geladen hat.
Aber ganz so einfach macht es Francis Nenik auch in seinem neuesten Roman nicht. Dazu ist er ein zu aufmerksamer Beobachter dessen, was Menschen so treiben, wie sie sich selbst täuschen, andere betrügen, sich Scheinwelten und Argumente aufbauen, um irgendwie am Ende doch noch für sich das Gefühl zu haben, auf der (moralisch) richtigen Seite zu stehen. Irgendwie.Wer wie im „Tagebuch eines Hilflosen“ tatsächlich mit gelindem Entsetzen und bissiger Nüchternheit vier Jahre zuschaut, wie ein Narzisst und Egoist sich erst an die Macht hinaufschwindelt und dann in der Welt herumpoltert wie ein Elefant im Porzellanladen, der verschließt die Augen nicht mehr davor, dass Menschen verführbar sind, nur zu bereit, sich zu verbiegen, zu kriechen und zu liebedienern, wenn sie damit nur irgendwie einen Zipfel Macht bekommen. Und darunter auch hochgebildete Leute, die von sich selbst behaupten, hochanständig zu sein.
Wer so genau die Gegenwart betrachtet, sieht in ihr die vertrauten Muster der Vergangenheit. Und in der Vergangenheit werden, wenn man ohne Scheuklappen hinschaut, die aus der Gegenwart nur zu bekannten Muster erkennbar. Auch in diesem Fall, in dem es auch um den Missbrauch der Wissenschaft geht und um Forscher und Ärzte, die ihren moralischen Kompass verloren haben.
Und dazu gehörte eben nicht nur der berühmte KZ-Arzt Mengele. Dazu gehörten auch jene Mediziner, die das „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten unterstützten. Was schon wieder untertrieben ist. Denn sie haben es auch mit medizinischen Standardwerken begründet und auch selbst umgesetzt. Sie waren nicht nur „willige Helfer“, wie das so schön heißt.
Und Nenik wäre nicht der, der vier Jahre lang alle Quellen zu den oft nur zu logischen Handlungen eines Präsidenten Trump und seiner Helfershelfer umgedreht und nachverfolgt hat, wenn er sich mit den einfachen Erzählungen zum „Euthanasie“-Programm der Nazis zufriedengegeben hätte.
Die sind alle bekannt – von der zentralen Rolle des Leipziger Kinderarztes Werner Catel, der in Neniks Geschichte natürlich vorkommt als Kollege und Vorgesetzter des Mannes, den Nenik in jenen frühen Apriltagen 1945 auf der Muldeinsel stranden lässt, bis zur eher irritierenden Rolle jenes Karl Binding, der nicht nur Rektor der Universität war und von Leipzig zum Ehrenbürger ernannt worden war, sondern der auch 1920 das Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ veröffentlichte und damit den juristischen Unterbau dafür schuf, dass einige Ärzte fortan keine Skrupel mehr hatten, die Tötung behinderter Menschen für normal anzusehen. Ein Thema, das damals so nicht nur in Deutschland diskutiert wurde.
Nenik kennt sein Untersuchungsgebiet und zeichnet nicht nur die Verbindungen Catels, Nitsches und Mittags, der drei Hauptgestalten des Leipziger Teils der Tötung behinderter Kinder nach, sondern auch ihre Verbindungen zu den Eugenikern in der Sowjetunion und den USA. Zu Nikolai Konstantinowitsch Kolzow etwa, der die Eugenik in der Sowjetunion vertrat, bis er dort selbst Opfer der Stalinschen Säuberungen wurde.
Mit seinem Helden zeichnet Nenik einen Mann, der an diesem Programm als Oberarzt in der Kinderklinik der Universität Leipzig teil hatte, die medizinischen Diskussionen bestens kennt und auch die Haltung teilt, dass Kinder mit unheilbaren Erbkrankheiten getötet werden dürfen. Denn genau das steckt ja in dem Wort Euthanasie. Nur dass er die Methoden Catels und Nitsches ablehnt und die Kinder vor allem als wissenschaftliche Untersuchungsobjekte begreift.
Man merkt schon: Nenik macht es seinen Lesern ganz und gar nicht leicht. Kann man ins Fühlen und Denken so eines „Helden“ überhaupt eindringen? Hat der überhaupt Seiten, die ihn in irgendeiner Weise sympathisch machen? Und irgendwie muss er das doch sein, wenn er nach dem jüngsten Bombardement Leipzig endgültig verlässt und zu Fuß heimkehrt an den Ort, wo er mit seiner kleinen Familie Zuflucht gefunden hat.
Nur sind weder Marie noch die Kinder aufzufinden. Das Pfarrhaus, in dem sie Unterschlupf gefunden haben, ist leer. Und einige Spuren deuten darauf hin, dass hier etwas Seltsames vorgefallen sein muss, was den Heimkehrer zutiefst alarmiert. Hat hier der seltsame, klumpfüßige Nachbar die Gelegenheit genutzt, sich am Schluss noch auf eine ganz perfide Art zu rächen? Er weiß es nicht wirklich. Er hat nur Mutmaßungen und versucht aus dem, was er in den folgenden Tagen von der kleinen Insel mitten in der Mulde beobachtet, wo er sich in einem Weiden- und Brombeergebüsch versteckt hat, herauszulesen, was im Ort eigentlich vor sich geht.
Und damit wird er gleichzeitig zum Beobachter des Kriegsendes in diesem – namenlos bleibenden – Ort an der Mulde mit seiner Burg oben auf dem Berg und einem Bergsporn, unter dem sich die Häuser der Armen ducken. Eine Brücke überspannt den Fluss, über die man zur Bahnstation und hinauf in die Stadt kommt. Flussabwärts liegt eine Papierfabrik. Und was der Versteckte sieht, schreibt er auf samt seinen Gedanken und Mutmaßungen und immer wieder wehmütigen Erinnerungen an Frau und Kinder, die er schmerzlich vermisst.
Aber während man auf den ersten hundert Seiten noch meint, der Tagebuchschreiber könnte einem vertraut sein, vor allem in seiner berechtigen Angst vor den bornierten NS-Schergen im Ort, gerät er nach und nach doch ins Erzählen, warum er dasitzt und was Luise damit zu tun hat, das Kind einer Frau, die gerade zur Witwe geworden ist und das Kind aus dem zum „Euthanasie“-Programm gehörenden Krankenhaus Großschweidnitz zurückgeholt hat.
In den letzten Tagebucheinträgen wird im Grunde Luise zur stillen Heldin, wenn der Tagebuchschreiber erzählt, wie er sie völlig zu seinem Forschungsobjekt gemacht hat. Und man ist tatsächlich mittendrin in einer beklemmenden Gedankenwelt, in der ganz eindeutig auch anerkannte Kinderärzte alle Skrupel fallen ließen, wenn sie Menschen zum Forschungsgegenstand machen. Und dass diese Grenzüberschreitung mit dem Untergang des Nazi-Reiches nicht beendet ist, zeigen die immer neuen Diskussionen um genetische Experimente in der Gegenwart.
Denn indem Nenik auf die Eugenik- und Erbgutdiskussionen der 1920er/1930er Jahre verweist, macht er auch deutlich, dass das skrupellose Denken vieler Hochgebildeter, die sich damals widerspruchslos ins Herrschafts- und Vernichtungssystem der Nazis einordneten, mit dem Sieg der Alliierten nicht verschwunden ist. Viele der tief verstrickten Mediziner der NS-Zeit machten nach dem Krieg weiterhin Karriere und wurden ganz und gar nicht – wie der Tagebuchschreiber befürchtet – von den Alliierten gejagt und bestraft.
Und wenn, dann meist mit geringen Strafen. Meist halfen sie sich gegenseitig, sich „Persilscheine“ auszustellen. Wichtige Spuren hatten sie oft noch vor Kriegsende vernichtet – so wie Catel, der das komplette Archiv der Kinderklinik vernichten ließ, sodass die heutige Forschung nie wirklich ein vollständiges Bild über die getöteten Kinder und die Rolle der beteiligten Ärzte und Schwestern bekommen kann.
Und da wundert es einen ganz und gar nicht, dass auch an deutschen Hochschulen dieses eisige Denken teilweise überlebt hat, dessen Vertreter ganz skrupellos menschenverachtend und elitär agieren und reden und sich als Opfer gerieren, wenn sie dafür geharnischten Protest insbesondere von Studierenden bekommen.
Aber die Frage lässt den Leser natürlich nicht los: Kann man mit diesem Mann auf der Insel, der von Tag zu Tag mehr verdreckt und verwildert, weil er für das Überleben auf der winzigen Insel nicht eingerichtet ist, eigentlich mitfühlen? Kann man ihm seine tiefe Sehnsucht nach Frau und Kindern eigentlich abnehmen? Kann so ein Mann ein liebender Ehemann und Vater sein? Wie geht das zusammen mit seiner letztlich fühllosen Sicht auf die Kinder, die in der Kinderklinik „abgegeben“ wurden und von ihm selbst zu Catel nach Klinga gebracht wurden?
Immerhin porträtiert Nenik ja hier einen der Männer, die mit verantwortlich waren für das, was in Dösen, Großschweidnitz und auf dem Sonnenstein in Pirna geschah. Einen, der das nicht aus Mordlust tat, sondern weil er es wissenschaftlich zu begründen vermeinte – auch und gerade unter dem Aspekt einer „genetischen Reinheit“ der Nation, weshalb er sogar gegen den Krieg ist, der eben nicht die Schwachen frisst, sondern die Jungen und Gesunden. Ein sehr logischer und trotzdem sehr verblüffender Grund, gegen jeden Krieg zu sein.
Was die Sache ja noch verstörender macht. Aus einer anderen Perspektive hat sich ja 1952 schon Robert Merle mit dem Thema beschäftigt, als er die Biografie des Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz Rudolf Höß aus der Ich-Perspektive erzählte in „Der Tod ist mein Beruf“. Ein Buch, das seinerzeit für Entsetzen und Diskussionen sorgte. Kann man das eigentlich machen als Autor, derart hineinzukriechen in das Selbstverständnis eines Mannes, der das massenhafte Töten von Menschen für „normal“ hielt?
Das Entsetzen kam schon damals aus der nicht zu leugnenden Erkenntnis, dass Typen wie Höß eben keine Monstren sind, wie sie in schlechten Krimis und Thrillern so gern gemalt werden. Sie praktizieren das Morden genauso kaltblütig und ungerührt wie andere das Verwalten von Grundbuchakten oder das Versenden von Mahnschreiben.
Merles Erkenntnis ist so aktuell wie damals: Diese Typen sind immer zu finden. Dazu reicht der simple Blick nach Weißrussland, in die Türkei oder in jede beliebige Diktatur der Welt. Sie sind nur zu leicht bereit, sich jedem anzudienen, der sie in Dienst nimmt. Und sie vergessen schnell alle Skrupel, wenn man ihnen nur sagt, dass sie es mit „Spionen“, „Terroristen“ oder „lebensunwerten“ Menschen zu tun haben.
Neniks Inselbewohner ist da irgendwo auf der Grenze – ganz gewiss kein Höß und auch kein karrieregeiler Catel. Und trotzdem weiß man bis zum Schluss nicht: Soll man ihm wünschen, dass er von der Insel herunterkommt? Oder soll er seine Strafe bekommen, egal wie diese aussieht? Welches Leben wäre ihm eigentlich nach diesem Krieg denkbar? Eine Dozentur in Leipzig, auf der er dann alles vergessen darf, was er bis 1945 getan hat? Eine Flucht in die amerikanische Besatzungszone?
Nenik lässt das alles offen. Soll sich der Leser selbst in Beziehung setzen zu diesem Mann, der mit einem zum Stummel geschriebenen Bleistift versucht, sich selbst in ein einigermaßen gutes Licht zu stellen? Denn darum geht es ja fast allen, den Mittätern und Mitläufern, den Feigen und Übermütigen.
Irgendwie muss man alles, was man getan hat, zuallererst vor dem eigenen Spiegelbild rechtfertigen. Und nicht alle trauen sich das, sich derart unverstellt gegenüberzustehen. Die meisten schauspielern auch dort, genau so, wie sie es in der Öffentlichkeit tun. So sehr, dass man bei ihren öffentlichen Auftritten eigentlich regelrecht riechen kann: Wenn sie nur dürften, wie sie wollen … sie würden jederzeit.
Francis Nenik E. oder Die Insel, Voland & Quist, Dresden und Berlin 2021, 24 Euro.
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Es gibt 6 Kommentare
Lieber Stefan,
ich glaube, ich verstehe Ihren Punkt jetzt. Ich muss aber gestehen, dass ich Kolzow hier in der Rezension nicht mit Euthanasie, sondern mit Eugenik in Verbindung gebracht sehe. Im Buch wird Kolzow und die russische Eugenik auch nicht mit Euthanasie verbunden, sondern erstmal “nur” mit Eugenik. Nenik beschreibt, wie die Russen führende deutsche Rassenhygieniker einladen, weil sie von ihnen lernen wollen. Das ist auch belegt. Auch die Amerikaner kamen. Im Roman selbst werden aber vor allem die Verbindungen in die USA beleuchtet, die mich erschüttert haben. Noch 1940/41 bekamen – wenn es stimmt, was Nenik schreibt – amerikanische Eugeniker Ehrendoktorwürden im NS-Reich, das Hygiene-Museum veranstaltete Rassenhygiene-Ausstellungen in den USA bis in die 1940er Jahre und die Rockefeller Stiftung finanzierte dt. Forschungen an Kindern, die später euthanasiert worden bis 1940. Der Protagonist des Buches nutzt das für seine Reinwaschung.
Eugenik wird mir hier zu sehr gleich nur mit Euthanasie verbunden, dabei handelt es sich um eine Geisteshaltung, die noch heute übel aktuell ist (PID, “Designer-Baby”, auch Samenbanken) und zu der man sich nach wie vor positionieren muss.
Mittlerweile “darf” eine Mutter ihr Kind, das Trisomie 21 hat, austragen, ohne beschimpft und zum Schwangerschaftsabbruch genötigt zu werden. Das war noch vor zwanzig Jahren lange nicht so.
Aber darum ging es mir gar nicht. Wenn nun in einem Absatz
> Verbindungen Catels, Nitsches und Mittags, der drei Hauptgestalten des Leipziger Teils der Tötung behinderter Kinder nach, sondern auch ihre Verbindungen zu den Eugenikern in der Sowjetunion und den USA. Zu Nikolai Konstantinowitsch Kolzow etwa, der die Eugenik in der Sowjetunion vertrat
<
dann ist es in meinen Augen schwer irreführend, hier den Namen Kolzows in einem Atemzug mit Euthanasie zu verbinden und dann noch beinahe süffisant anzufügen, dass er selbst quasi weggesäubert wurde. Das ärgert mich.
(Weswegen eigentlich Kolzow ermordet wurde, scheint hier wohl auch nicht weiter interessant zu sein…)
Lieber Stefan,
ich bin zwar kein Eugenik-Experte, beschäftige mich als Historiker aber mit osteuropäischer Geschichte. Kolzow passt durchaus hier rein, sehr gut sogar. (Wikipedia hat beim Thema Osteuropa generell seine Schwächen :))
Zu Kolzows Rolle in der russischen Eugenik empfehle ich Fandos Buch über “Die Anfänge der Eugenik in Russland”. Kolzow hat ausgiebig über Eugenik publiziert und sie auch verteidigt, nicht zuletzt durch den Austausch mit deutschen und amerikanischen Kollegen. Nenik hat offenbar ausgiebig recherchiert und Kolzows Rolle im Buch gut beschrieben. Ein Mengele oder Catel war Kolzow natürlich nicht, aber das wird, so weit ich das sehe, im Buch oder der Rezension auch nicht behauptet. Die russische Eugenik wurde dann in allgemeinen politisch-ideologischen Richtungswechseln und Debatten zerrieben und viele ihrer Vertreter getötet oder verbannt. Auch für mich überraschend und mir neu war, dass die deutschen Mediziner – wie im Roman beschrieben – nach 1941 wieder offiziell Kontakt zu den Russen aufnehmen durften. Für Kolzow war es da bereits zu spät. Er starb 1940.
Wer Menschen wie Erbsen “züchten” will, begeht schon im Ansatz den Fehler, sämtliche menschliche Ethik außer Acht zu lassen. Auch weil er als Erbse bestimmen will, welche Erbsen zur Zucht ausgewählt werden sollen. Und weil Menschen nicht ihren Erbanlagen und ihrem Hormonstatus ausgeliefert sind.
Sondern durch ein lebenswertes Umfeld, Bildung und die Fähigkeit zur eigenen Reflektion, ihre liebenswerten Anlagen zur Freude unserer Gemeinschaft entwickeln können.
Humangenetik ist im Sinne der Gesundheitsvorsorge sinnvoll.
Also, wenn man weiß, dass bestimmte Gene für bestimmte Viren/Bakterien/Krebs anfälliger machen, kann man dementsprechende Medikamente entwickeln. Aber die Medikamentenforschung scheitert ja schon meist daran, Männer von Frauen, Diversen oder auch Kindern zu unterscheiden bzw. wird das dann von “alten, weißen Männern” als Gender-Gaga bezeichnet.
Die Nazis wollten einen Herrenmenschen züchten, der ihrem kranken Bild entsprach. Und definierten dazu “unwertes Leben”. Dabei sahen sie eine Gefahr auch in einer vor allem geistig-jüdisch geprägten Intelligenz und Kultur. Aber im Wesentlichen nicht durch “Abstammung” geprägt, auch ein Goethe hätte sich nicht von inhumanen Machtmenschen missbrauchen lassen. Wer sich von klein auf mit Bildung, Kultur und Humanismus beschäftigt, lässt sich nicht so einfach in autoritäre Strukturen einbinden. Und wer die wissenschaftliche Grundlage für Menschenmord und Ausgrenzung liefert, da ist der Hinweis auf möglichen Missbrauch nichts mehr als euphemisch.
Wenn sich Hitler und Stalin ein fremdes Land teilen, entsteht als “Befriedung” z.B. dieses: https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/203716/80-jahre-verbrechen-von-katy
Durch Stefan angeregt, habe ich mal nach dem Nikolai Konstantinowitsch Kolzow gesucht. Oben stehende Gedanken sind auch nach Lesen dieses Buchauszuges entstanden (Wikipedia ist da wohl doch etwas zu knapp): https://books.google.de/books?id=osYTBAAAQBAJ&pg=PA109&lpg=PA109&dq=%E2%80%9EEuph%C3%A4nik%22+bei+Nikolai+Kolzow&source=bl
Und nicht zuletzt, vielen Dank dem Autor Francis Nenik für das noch von mir zu lesende Buch
und der Leseempfehlung von Ralf Julke und dem Gohliser <3
Ich habe die Rezension erst nach dem Leserkommentar richtig verstanden, vielen Dank beiden Schreibern.
Aber Kolzow passt hier überhaupt nicht rein. Eine Nähe zu Menschentötungen gibt jedenfalls die Wikipedia überhaupt nicht her (jedenfalls weder der deutsche noch der englische noch der französische Artikel). Ich habe mich echt gewundert…
Er wurde umgebracht, weil er sich gegen eine pseudowissenschaftliche, aber staatsoffizielle Lehre gestellt hat. Kolzow war kein sowjetischer Mengele oder Catel. Seine historische Leistung war die Entdeckung des Cytoskeletts.
Ich hatte mir das Buch kürzlich aufgrund einer Empfehlung im DRadio gekauftund muss sagen, dass es mich am Anfang ganz schön verstört hat. Nicht wegen des Schreibstils (der ist der Form absolut angemessen und literarisch herausragend), sondern wegen der Perspektive. Die Täterperspektive ist eben sehr ungewohnt, und wenn man an Jonathan Littells Roman “Die Wohlgesinnten” denkt, ja auch extrem umstritten. Der Verweis auf Robert Merle ist ebenfalls treffend, der ja für seine Perspektive auch angefeindet wurde.
Nenik geht hier, wie ich finde, ein großes Wagnis ein, da er – zumindest mir – erstmal glauben gemacht hat, ich hätte es mit einem Widerstandskämpfer oder zumindest Gegner der Nazis zu tun, weil er ja auch gegen den Krieg ist und von seinen Experimenten an den Kindern am Anfang des Buches nichts zu bemerken ist. Die Verbindung von Pazifismus und Eugenik war mir als Leser nicht klar, und in der Rezension hier wird ja auch darauf hingewiesen. Es ist tatsächlich ein “sehr logischer und trotzdem sehr verblüffender Grund, gegen jeden Krieg zu sein.”
Es ist ein Buch, das schnell auch falsch verstanden werden kann, als Rechtfertigung der Euthanasie und Eugenik, als Entschuldigung der Täter, als Versuch, Sympathie für nationaloszialistische Ärzte aufzubringen. Die Form der ausschließlichen Täterpersepktive ohne jegliche Brechung macht das möglich. Aber mir scheint, das ist gerade das Ziel dieses Buches: das wir keine einfachen Antworten bekommen, sondern uns mit unseren eigenen Werten diesem so gar nicht monströsen Monster entgegenstellen müssen. Die Lese-Empfehlungen unter dem Text benennen ja auch die Ungeister, die so eine Sichtweise instrumentalisieren können und es ja auch tun, beim Namen: “AfD-Fraktion flirtet erneut mit Euthanasiegedanken und verunglimpft Menschen mit psychischen Erkrankungen”.
Ein schwieriges Buch, zugleich aber auch ein eindrückliches und wichtiges Werk, wie ich finde. Keine leichte Kost, weil sie den Leser auf sich selbst zurückwirft.