So wird ein Studium wirklich spannend, wenn die angehenden Wissenschaftler/-innen einfach mal eine Aufgabe bekommen, die bislang noch keiner hatte: Mal nach einem alten Leipziger Verlag zu suchen, über den noch keiner geschrieben hatte. In diesem Fall den Otto Spamer Verlag. Knapp ein halbes Jahr Zeit, dann sollte die Ausstellung fertig sein. Das haben sie auch bewältigt. Und ein Buch zum Wiederentdeckten gibt es noch obendrauf.
Die Ausstellung „Otto Spamers Bücherfabrik | Sachbuchwelten für die Jugend“ wurde dann am 6. Februar 2020 im Leipziger Schulmuseum eröffnet und wurde dann – wie alle anderen Ausstellungen in Leipzig auch – von den Schließungen infolge der Corona-Pandemie betroffen. Und weil das vielen Neugierigen unmöglich machte, die Ausstellung überhaupt zu sehen, wurde sie am Ende bis ins Jahr 2021 verlängert.Natürlich konnte die Ausstellung nur einen Teil dessen zeigen, was die angehenden Buchwissenschaftler/-innen über den Otto Spamer Verlag und den 1820 in Darmstadt geborenen Verleger Otto Spamer herausgefunden haben. Wie man sieht: Es war auch gleich noch eine Ausstellung zum 200. Geburtstag des Mannes, der nach Zwischenstation in Aschaffenburg in die Buchstadt Leipzig kam und nach einer erfolgreichen Zeit in Johann Jacob Webers Verlag 1847 seine eigene Buchhandlung gründete.
Weber ist eigentlich eine Legende, denn mit der „Illustrirten Zeitung“ gab er ab 1842 nach Londoner und Pariser Vorbild in Leipzig die erste illustrierte Zeitschrift für Deutschland heraus. Womit die Leser/-innen erstmals erlebten, dass man nicht nur riesige Bleiwüsten zu kaufen bekam, sondern hochkarätig illustrierte Artikel. Die neuen drucktechnischen Möglichkeiten der Zeit veränderten das Leseerlebnis. Nachhaltig, wie wir wissen.
Was nicht bedeutete, dass Spamer sofort Erfolg hatte, als er versuchte, das Wissen aus J. J. Webers Verlag in reich illustrierten Buchausgaben umzusetzen. Patricia Blume und Wiebke Helm haben zuammengetragen, was aus den verstreuten Archivfunden noch zu Spamers Leben und Wirken zusammenzutragen war. Denn der Verlag ist ja nicht ganz grundlos aus dem Gedächtnis selbst der Verlagswelt verschwunden.
Zum einen wurde im Bombenhagel von 1943 das komplette Verlagsarchiv im Grafischen Viertel vernichtet, sodass die Buchwissenschaftler/-innen andere Archive auftun mussten, um dort eventuell Informationen über den Verlag zu finden, der nach Otto Spamers Tod nach und nach aufhörte, ein Buchverlag zu sein und sich fortan auf den Buchdruck spezialisierte.
Was auch daran lag, dass weder Kinder noch Enkel in die Fußstapfen Otto Spamers traten. Die legendären Buchreihen wurden an andere Verlage verkauft und erlebten dort noch bis in die 1930er/1940er Jahre immer neue Auflagen.
Denn allein Otto Spamers Freude an der professionell eingesetzten Illustration in den Büchern hätte nicht gereicht, ihm zum Durchbruch zu verhelfen. Verlage machen dann Furore, wenn sie echte Marktlücken entdecken und dann systematisch daran gehen, sie zu füllen. Und die Marktlücke, die der Otto Spamer Verlag ab den 1850er Jahren systematisch zu erobern begann, war das Jugendsachbuch.
Das schreibt sich heute so leicht, weil es ganz selbstverständlich geworden ist, dass es zu (fast) jedem Thema, das junge Leser/-innen interessiert, mindestens auch ein Sachbuch gibt, lesefreundlich aufbereitet, reich illustriert und in der Regel auch spannend dargeboten. Wer in der Schule mit seinem Wissensdrang nicht auf seine Kosten kommt, braucht nur einen Bibliotheksausweis (oder Eltern und Großeltern, die einem alle Bücher schenken, nach denen das hungrige Gehirn begehrt) und nichts muss unentdeckt und unerfahren bleiben.
Zu Spamers Zeit war das anders. Nicht nur, dass es lange brauchte, bis naturwissenschaftlicher Unterricht überhaupt Eingang fand in die Lehrpläne der Schulen, zeitweilig wurde er sogar komplett wieder aus den Schulen verbannt. Und das in einer Zeit, in der auch in Deutschland die Begeisterung für Technik und Weltreisen um sich griff. Was aber die Schulen nicht vermittelten, musste aus anderen Quellen gespeist werden.
Und Spamer ging so systematisch daran wie kein anderer Verleger, den Buchmarkt mit jugendgerechten (und reich illustrierten) Büchern zu beschicken, in denen die jungen Leser/-innen praktisch alles fanden, was man damals zum Stand der Technik, dem Wissen der Welt und der Geschichte wissen konnte.
Aber alles nicht in drögen Schulbüchern aufbereitet, sondern spannend erzählt, oft genug von talentierten Pädagogen, die genau wussten, wie man Kinder für ein Thema begeistern kann. So entstanden ganze Reihen, die den jungen Leser/-innen die Faszination der Welt nahebrachten und die heute immer noch beliebte Sammelobjekte sind. Was natürlich auch die Recherche erleichterte. Und was jetzt das Porträt eines Verlages möglich machte, den es in dieser Art nicht mehr gibt.
Und das nicht deshalb, weil Naturkundeunterricht mittlerweile fest in den Lehrplänen der Schulen verankert ist, sondern weil Spamers Buchprogramm auch für einen ganz wichtigen Teil der Stimmung in diesem Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht. Und damit meine ich nicht den muffigen Nationalismus und den schneidigen Militarismus, der sich mit militärischer Blödheit dann in die Weltkriege des 20. Jahrhunderts hineinsteigerte, sondern den Aufbruch- und Entdeckergeist, der damals auch die anderen Staaten Europas erfasst hatte.
Den gab es im damaligen Deutschland nämlich auch. Samt jenem Moment eines auftrumpfenden Bürgertums, das regelrecht verinnerlicht hatte, dass die Weltgeschichte und auch die der Wissenschaft, der Technik und der Entdeckungen von Männern vorangetrieben wurde, die sich aus eigener Kraft an staunenswerte Projekte wagten. Macher aus eigener Kraft, wie sie in Dutzenden Biografienbänden auch aus dem Spamer Verlag zu finden sind. Eine Sicht auf das Genie des (einsamen) Forschers und Entdeckers und Machers, die bis heute fortwirkt.
Auch aus einem eigentlich verständlichen Grund: Wer in Büchern solche Vorbilder findet, der traut sich auch selbst zu, Großes zu wagen. Und folglich wurde damals der Himmel bzw. der Pantheon der deutschen Geistes-, Forscher- und Technikheroen geschaffen. Der Kanon der Männer, die damals auf diese Weise zu deutschen Helden groß geschrieben wurden, ist heute noch jedem geläufig. Mitsamt der Blickweise auf diese Männer, die damals auch deutschlandweit mit Statuen gewürdigt wurden.
Die Neugier auf all das bündelte Spamer in verschiedenen Reihen, die geradezu einluden zum Gesammelt- und Verschenktwerden. Und so landeten die Bücher in Schulbibliotheken genauso wie unterm Weihnachtsbaum und auf dem Geschenketisch zur Konfirmation. Und sie dürften in gut bewahrten Familienbibliotheken noch heute stehen und den heutigen Lesern einen staunenden Blick in die Gefühls- und Kulturwelt des Bürgertums in der Zeit von 1860 bis 1900 ermöglichen.
Denn es gab auch die Bücher für Mädchen, für verschiedene Berufszweige und für die heimische Pflege von Tanz und Musik. Aber auch Bücher für die ganz jungen Leser/-innen, denen freilich auch Spamer vor allem Märchen und Sagen zumutete.
Aber das alles in hoher Qualität, auch wenn Blume und Helm zu Recht davor warnen, die damals veröffentlichten Rezensionen zu Spamer-Büchern allzu ernst zu nehmen, denn auch das Marketing beherrschte Otto Spamer bestens und erweist sich so als ein sehr moderner Verleger, der für Innovationen offen war, einen Sinn fürs Geschäft hatte und für die Erzeugung von Lesebedürfnissen einfach dadurch, dass er begehrte Buchreihen von Anfang an als einheitlich konzipierte Reihen platzierte.
Und so gar nicht nebenbei schrieb er selbst auch etliche Bücher für das junge Lesepublikum unter Pseudonym. Und auch das waren in der Regel Titel, die mehrere Auflagen erlebten, weil sie den Geschmack der jungen Leser trafen.
Doch als Otto Spamer 1886 starb, hatte er zwar einen der erfolgreichsten deutschen Verlage entwickelt, aber er fand schlicht keinen Nachfolger, der so vielseitig dachte und den nötigen Mut zur Innovation hatte wie er selbst. Josef Petersmann als sein Nachfolger verkaufte später die beliebten Buchreihen und konzentrierte sich zunehmend auf die Druckerei. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er enteignet. Damit verschwand der Name Spamer völlig aus dem Leipziger Wirtschaftsleben, überlebte eigentlich nur noch in den Büchern in Opas und Omas Bücherschrank.
Dass es freilich zu diesem besonderen Verlag noch mehr zu wissen gibt, erzählen dann weitere Beiträge im Buch, die einen von Spamers Laufburschen vorstellen (und damit den durchaus anspruchsvollen Beruf eines Leipziger Laufburschen), Spamer selbst als Jugendbuchschriftsteller, einen seiner begabtesten Lehrer-Autoren und den musikalischen Teil an seinem Verlagsprogramm. Nicht zu vergessen Spamers Versuch, gegen Brockhaus und Meyer mit einem eigenen ehrgeizigen Lexikon-Projekt zu konkurrieren, das wahrscheinlich eher ein Zuschussgeschäft blieb.
Das durchaus ambitionierte Forschungsprojekt der Buchwissenschaftler/-innen hat hier einen fast vergessenen Verleger zu einer verdienten Würdigung gebracht und gleichzeitig eine Verlagswelt in Konturen sichtbar gemacht, wie sie damals in Leipzig möglich war – mit einer ganzen Abteilung von Holzstechern, die die aufwendigen Illustrationen für die im Verlag erscheinenden Bücher herstellten.
Weshalb die eingelagerten Holzstöcke im Grunde der wertvollste Bestand des Hauses waren. Ein Brand – wie ihn Spamer 1862 erlebte – konnte durchaus die Existenz so eines Verlages gefährden, von dem Spamer selbst berichtete, dass er sein Verlagsgeschäft erst in den 1860er Jahren konsolidieren konnte.
An Spamer erinnert heute nur noch Spamers Hof in der Littstraße, jener eindrucksvolle Verlagssitz, den sich Otto Spamer bauen ließ, als er es endlich geschafft hatte. Und nun auch dieses Buch, das durchaus einen Mann zeigt, der selbst so agierte, wie er es den Helden der bei ihm veröffentlichten Bücher gern zuschrieb: aus eigener Kraft.
Und das augenscheinlich mit einem beeindruckenden Arbeitspensum, verbunden mit manchem juristischen Ärger neidischer Konkurrenten und andererseits einem personalaufwendigen Augenmerk auf die Qualität der Texte und Illustrationen. Man kaufte Spamer-Bücher augenscheinlich nicht nur wegen der schönen Einbände und Bilder, sondern auch wegen der verlegerischen Qualität.
Und so manches Buch hat seinen Reiz bis heute nicht verloren, darunter auch das von Spamer selbst geschriebene „Der große König und sein Rekrut“, das auf jugendgerechte Weise von der zunehmenden Preußenverehrung in Sachsen erzählt, in der der zur Legende gemachte Friedrich II. geradezu zur Identifikationsfigur wurde. Auch das gehört zu dieser Zeit, der man als Nachgeborener immer wieder begegnet, wenn man in Uropas alter Büchersammlung wühlt. Und sage keiner, dass man sich von diesem Pathos der Helden auf allen Lebensgebieten nicht mitreißen lässt.
Das Pathos funktioniert bis heute, auch wenn wir eigentlich gelernt haben sollten, dass die großen Erfinder und Entdecker niemals allein waren und ohne die schwitzenden Arbeiter, Kulis und Lastenträger nie so weit gekommen wären. Sicher wären diese Bücher auch eine Fundgrube zur deutschen Geistesgeschichte und zu jenen Heroengesängen, die das fossile Zeitalter befeuert haben, dessen fatale Folgen wir heute besichtigen dürfen, wohl wissend, dass nichts gefährlicher ist als der verzückte Glaube an Männer, die alles allein zuwege gebracht haben wollen.
Denn das war auch bei Otto Spamer nicht der Fall, der durchaus zu würdigen wusste, wie ihm J. J. Weber beim Start geholfen hat. Und der für seine Zeit auch sehr kollegial und respektvoll mit seinen Autoren und Grafikern umging. Das klingt dann zwar sehr buchhalterisch, wenn man die Abschnitte zu den Honoraren liest. Aber Zahlen zeigen in der Regel erst genau, ob die Wohltaten nur schöne Sonntagsreden waren oder gelebter Alltag.
Ein Verleger, den es tatsächlich lohnt einmal kennenzulernen. Und ein mit Fleiß erarbeitetes Puzzle-Stück zur Geschichte der Buchstadt Leipzig, die in weiten Teilen noch immer Fragment ist. Da gibt es noch eine Menge Forschungsthemen für angehende Buchwissenschaftler in Leipzig.
Patricia F. Blume; Wiebke Helm Die Bücherfabrik, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2020, 23 Euro.
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