Der Nikolausaltar in Oberbobritzsch im Landkreis Mittelsachsen würde zwar in diesem Jahr seinen 500. Geburtstag feiern können. Aber das Buch, das die Hochschule für bildende Künste Dresden hier vorlegt, ist eher ein Auftakt und eine Bestandsaufnahme. Denn 500 Jahre setzen auch einem gut gepflegten Altar zu. Doch schon eine erste Begutachtung durch die Dresdner Restaurierungsfachleute zeigt, dass so ein Alter voller Geschichten steckt.

Was aus Sicht der Hochschule weit über das 1.200-Einwohner-Dorf und seine St.-Nikolai-Kirche hinausweist. Denn in einem Kooperationsprogramm mit der Tschechischen Republik will man alle Altäre und überlieferten Altarbestandteile und -skulpturen aus der vorreformatorischen Zeit nicht nur erfassen, sondern auch durch vergleichende Untersuchungen Beziehungen herausfinden.Denn vieles deutet darauf hin, dass es im sächsisch-böhmischen Raum enge Verflechtungen gab und viele Künstler und Werkstätten in diesem Gebiet tätig waren, möglicherweise gar als Wanderwerkstatt. Denn Altäre waren nie das Werk einzelner Handwerker, sondern immer Teamwork von Spezialisten – Tischlern, Bildhauern, Malern.

Allein schon die Tatsache, dass solche Gesamtkunstwerke 500 Jahre in den Kirchen überdauerten, erzählt davon, wie viel Knowhow diese Künstler-Handwerker besaßen, deren Namen man in der Regel nicht kennt. Das wäre dann freilich die Krönung eines solchen Forschungsprojektes, wenn man gar diese namenlosen Könner dingfest machen könnte. Was freilich schon ein kleines Wunder wäre, denn unsere heutige Vorstellung vom Künstler, den man kennt und dessen Stil unverkennbar ist, wuchs gerade erst in der Lutherzeit. Dafür stehen ja Namen wie Cranach, Grünewald und Dürer.

Auch das gehört zu Luthers „Hier stehe ich …“: die Entwicklung einer moderneren Vorstellung von Individualität und Meisterschaft. Und natürlich auch eine zunehmende Individualisierung in der Kunst, von der sich durchaus auch schon Spuren am Oberbobritzscher Altar finden lassen, den in diesem Buch Lisa Bertram und Tino Simon genauer unter die Lupe nehmen und schon dabei so manche Entdeckung machen.

Da taucht mitten im Bildprogramm die Handschrift eines anderen Malers auf, werden auf einmal bei den Figuren verblüffende Ähnlichkeiten zu anderen Altären deutlich, taucht sogar ein Kleidmuster wieder auf, das man aus Brandenburg und Böhmen schon kennt.

Ein Kapitel untersucht schon einmal, was allein schon der Augenschein über die letzte Restaurierung vor 100 Jahren verrät. Rahmen, Rückseiten und Vermutungen verraten die präzise Arbeit der Tischler und Kastenbauer vor 500 Jahren.

Vergoldungen, Versilberungen und Lackierungen werden begutachtet und dabei wird der Leser quasi zum Besucher so einer professionellen Altarwerkstatt, wie sie da im Jahr 1521 für Oberbobritzsch einen prachtvollen Altar schuf. Ein armes Dorf kann es damals nicht gewesen sein. Und mit dem heiligen Nikolaus hatte es einen eher untypischen Namenspatron, denn Nikolaus war in Sachsen eher der Namenspatron für Händlerkirchen wie die Nikolaikirche in Leipzig.

Da dürften noch eine Menge Geschichten auch in der Bilderzählung stecken, auch wenn sich die meisten Beiträge eher auf die Materialbefunde konzentrieren und im Grunde eine reichhaltige Vorlage sind für eine wirklich komplette Restaurierung des Altars, die in den nächsten Jahren durchaus im Bereich des Möglichen liegt.

Dann können auch noch weit mehr moderne Untersuchungsmethoden angewandt werden, um den Geheimnissen des Alters auf den Grund zu gehen. Überfällig ist die Restaurierung längst, denn aufklappen lässt sich das Retabel nur noch mit großer Kraftanstrengung, also möglichst gar nicht, weil das natürlich die Konstruktion gefährdet.

Und bei einer professionellen Restaurierung kann man dann natürlich viel genauer ermitteln, wie die Werkstatt gearbeitet hat, welche Farben verwendet wurden und welche Hölzer. Und selbst wenn man keinen der ausführenden Meister namhaft machen kann, wird bei so einem groß angelegten Projekt natürlich etwas sichtbar, was es in dieser Art noch nicht gibt: der Wirkungskreis professioneller Werkstätten, die damals die Kirchen im sächsisch-böhmischen Raum mit eindrucksvollen und wertvollen Altären bestückten.

Ein Raum, der für sich selbst etwas Besonderes ist, denn während in anderen deutschen Ländern die Bilderstürmer wüteten und komplette Kircheninneneinrichtungen vernichteten – und damit auch die prachtvollen Ältere – hatte sich Martin Luther ja schon nach der ersten Bilderstürmerei in Wittenberg wütend zu Wort gemeldet und diese Radikalisierung gebrandmarkt.

Mit dem Ergebnis, dass die meisten Kirchen in Sachsen ihre Altäre behielten, die heute von einer religiösen Frömmigkeit erzählen, wie sie bis zur Reformation gepflegt wurde. Und zwar in sprechenden Kirchen, was ja auch Luther mehrfach thematisierte. Denn das einfache Volk konnte nicht Lesen und nicht Schreiben.

Es las die Bibelgeschichte in den Bildern in der Kirche, zuallererst in den Altären, die neben der Leidensgeschichte Jesu in der Regel auch die Geschichte des Namensgebers der Kirche zeigten. Und das sehr symbolkräftig, oft auch sehr drastisch wie die Geschichten der vier Märtyrerinnen, die der Altar genauso anschaulich zeigt wie die vier Ereignisse aus dem Leben des Heiligen Nikolaus.

So entsteht ein Buch, in dem jeder Kunst- und Geschichtsinteressierte den Oberbobritzscher Altar so detailliert kennenlernt, wie das wohl auch vielen Besuchern der Kirche bislang nicht möglich war. Und die Fördergeldgeber haben jetzt eine reich bebilderte Vorlage, auf deren Grundlage sie entscheiden können, ob sie die Restaurierung finanzieren werden. Denn erst nach einer gründlichen Restaurierung werden die Bildgeschichten im Retabel auch in der Kirche wieder erlebbar.

Dann ganz bestimmt mit noch mehr Erkenntnissen zur Werkstatt der Altarbauer, von der auch die Autor/-innen des Buches noch nicht wirklich wissen: Reisten die nun mit ihrer Werkstatt durch die Lande, immer dorthin, wo der nächste große Auftrag wartete? Oder kamen die Auftraggeber in die Werkstatt, die sich vielleicht irgendwo in einer der sächsischen Städte befand?

Nur eines hat schon der erste Augenschein bestätigt: Die verschiedenen Handwerker waren ein eingespieltes Team und ein Arbeitsschritt griff in den anderen. In gewisser Weise war der Bau eines am Ende prunkvollen Altars serielle Arbeit mit lauter eingeübten Arbeitsschritten. Und trotzdem wurden vor Ort die Wünsche der Auftraggeber nach ihrem ganz eigenen Bildprogramm erfüllt.

Ein Bildprogramm, das freilich schon die zunehmend individualisierte Welt der Renaissance zeigt, was auch in den auffälligen und prächtigen Kostümen der Märtyrerinnen und sogar der Henkersknechte sichtbar wird. Hier spiegelt sich ein Zeitalter, das durchaus mehr Gefühle zu zeigen bereit war als die gottergebene Frömmigkeit der Heiligen.

Wobei die Heilige Barbara schon eine stolze Selbstgewissheit zeigt, die ganz bestimmt nicht mehr zum alten Frömmigkeitsdenken gehört. Ein Altar, der ja mit seinem Entstehungsjahr 1521 schon an der Grenze zur neuen Zeit entstand, auch wenn Herzog Georg in seinem Land noch wütend darauf achtete, dass alle seine Schäfchen beim alten Glauben blieben.,

Hochschule für bildende Künste Dresden (Hrsg.) Der Nikolausaltar zu Oberbobritzsch, Sax Verlag, Beucha und Markkeeberg 2021, 9,90 Euro.

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