Der Verleger und Buchwissenschaftler Mark Lehmstedt hatte schon den richtigen Riecher, als er vor 20 Jahren begann, alles zu sammeln, was Verlage und Buchhandlungen so an Tüten, Taschen und Beuteln als Buchverpackung und Werbung fürs Buch an die Leute brachten, egal, ob im Laden oder auf den Buchmessen, aus denen so manche und so mancher stolz rausspazierte mit der tragbaren Botschaft.
Andere Leute haben einfach nur die Plastiktüten gesammelt, die es bis vor kurzem im Handel regelrecht hinterhergeworfen gab, wenn man dort einkaufte. Aber Werbung für das Buch und das Lesen ist immer auch ein Bekenntnis. Ein doppeltes eigentlich, denn mit einer Buchtüte bekennt man sich als lesender Mensch. Und zwar als bücherlesender Mensch, was ein himmelweiter Unterschied etwa zum twitterlesenden Menschen ist oder zum Facebook-Junkie.Man will nicht mit irgendwelchen Leuten schwatzen oder irgendwelche Meinungen zu den Themen des Tages abgeben. Man will nicht schon wieder meinen, besserwissen und predigen, sondern sich auf etwas einlassen. So, wie man sich auf interessante Menschen einlässt, lässt man sich auf Bücher ein, gespannt darauf, was kommt, und offen dafür, dass man überrascht wird.
So ein bisschen ahnen das Büchermenschen immer, auch wenn sie die Botschaft nicht immer wirklich spritzig auf Tüte und Jutebeutel bekommen. Denn da geht es auch immer um die anderen, auch wenn in dem ganzen Buch kein „Ätsch! Ich lese.“ oder so ähnlich auftaucht. Den lesenden Menschen ist sehr wohl bewusst, dass sie in einer vom Chatten, Surfen und Twittern besessenen Gesellschaft eher die Minderheit sind.
Wenn auch eine stille, die niemanden stört, wenn sie mit dem jüngsten Bestseller in der Straßenbahn sitzt, während ringsum seltsame Leute ihre intimsten Geheimnisse ins Smartphone brüllen. Das ist zwar ein anderes Thema, gehört aber doch irgendwie dazu. Denn Lehmstedt sieht es schon richtig: Auf den Büchertüten artikuliert sich nicht nur eine Branche, die durch rücksichtslose Konzerne an die Wand gedrückt wird.
Hier melden sich auch Menschen zu Wort, die sich in einer gedankenlosen und unwissenden Umwelt unbehaglich fühlen und die sich immer wieder fragen: Warum sind diese Leute eigentlich so laut? Warum sind so viele Menschen sogar noch stolz darauf, unwissend und unbelehrbar zu sein?
Denn wer liest, kennt die Faszination des Denkens, die sich so schlecht in markige Werbesprüche für Bücherwelten umsetzen lässt. Selbst die besten Verlage scheitern daran, wirklich clevere Lese-Sprüche für ihre Werbetüten zu erfinden. Auch wenn sich einige sichtbar professionalisiert haben und auch Tüten-Kollektionen aufgelegt haben, die durchaus Herz und Hirn ansprechen. Das ist ja letztlich der Spagat bei diesen Büchermenschen: Sie sind nicht nur gewaltig verkopft (und das oft auf hinreißende Art), sondern auch beherzt (und dabei unersättlich).
Sie wissen, dass man mit jedem guten Buch eine Welt entdeckt (und schlechte Bücher nicht weiterverschenkt, sondern in der Blauen Tonne entsorgt). Sie wissen auch, dass Bücherlesen genau jene Phantasie in Gang bringt, die beim Dauer-Getwitter regelrecht totgeschlagen wird. Es ist das Denken über das Mögliche, das immer einhergeht mit der Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können. Wer niemals Huckleberry Finn war, weiß nicht, wie es auf dem Mississippi ist. Und wer nie Oliver Twist war, kennt das fiese und dreckige London von Charles Dickens nicht.
Man ahnt nur, wie stark seit einigen Jahren die Sorge – nicht nur bei Verlagen – umgeht, dass die Menschen aufhören könnten, Bücher zu lesen. Auch wenn kaum einer wirklich benennen kann, was da alles verloren gehen wird an Vorstellungskraft, Besinnung, Konzentrationsfähigkeit, Entdeckerfreude, Phantasie und was der Fähigkeiten mehr sind, die das Lesen von gedruckten Büchern anregt und stärkt. Bücher begleiten die Menschheit ja nicht grundlos seit über 2.000 Jahren.
Sie sammeln nicht nur Wissen, sondern auch Schönheit, Stil, famoses Denken und – das wohl wichtigste – die hohe Kunst des (Geschichten-)Erzählens. Eine urmenschliche Tugend, die aber mit dem social-media-Geplapper völlig zerdröselt. Was dann auch die Gesellschaft zerbröseln lässt, denn wenn jedes neue Gerücht den Schwarm in eine neue Ecke rennen lässt, hat natürlich niemand mehr die Aufmerksamkeit für die guten, großen Geschichten. Und wer keine Geschichten mehr im Kopf hat, kann sich auch nicht (mehr) vorstellen, wie es weitergeht. Was kommt danach?
Dass unsere Zeit derart von Hysterie und Panik erfüllt ist, hat auch damit zu tun. Nur ist es selbst den Hauptakteuren fast nie bewusst, wie sie von ihren täglichen kleinen Ängsten und Abhängigkeiten gejagt werden, aber unfähig sind, sich die nächste mögliche Zukunft auszumalen. Woher soll es auch kommen?
Aus der Tüte natürlich. Und insofern bedauert es Mark Lehmstedt natürlich, dass er so spät angefangen hat zu sammeln. Nur wenige Sammelstücke stammen aus der Zeit vor 2000. Und tatsächlich ist er froh, dass er eines Tages einfach angefangen hat, an jedem Messestand zu fragen: „Haben Sie Tüten?“ Auch wenn die Betreuer des Standes meist verdutzt reagierten, denn wer fragt denn schon nach Tüten, wenn es frische Bücher gibt?
Aber meist konnte er die Gefragten überzeugen, startete zuletzt gar einen öffentlichen Aufruf, ihm alles zu schicken, was es an Trageutensilien fürs Buch gab, sodass er 2020 rund 3.000 Tüten, Taschen und Beutel beisammen hatte, die er im Februar dann dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek übergab, wo man überrascht und froh war, dass es auch mal so einen Sammelbestand gab.
Denn augenscheinlich hat von den Büchermachern bisher keiner auch dieses aussagekräftige Werbegut fürs Buch gesammelt. Meist war es eben nur Gebrauchs- und Wegwerfware. Wer hebt sich schon die Büchertüte auf, wenn er seine stolzen Jagdtrophäen ausgepackt hat?
Obwohl auch die letzten Jahre schon sichtbare Veränderungen mit sich brachten, die Lehmstedt in diesem Band in schön bebilderten Kapiteln zeigt. Denn gerade Messeauftritte nutzen die Verlage oft, auch wirklich haltbare und werthaltige Bücherbeutel und -taschen unter das lesende Publikum zu bringen, Behältnisse, die sowohl für den Verlag, als auch für das Buch selbst werben und auch im Alltag stolz benutzt werden können.
Denn natürlich erzeugt das ein besonderes Gefühl, wenn man auch beim Brötchenholen oder auf dem Frischemarkt Werbung laufen kann für seine Lieblingsbücher. Und auch wenn einige Layouts davon erzählen, dass der Verlag nicht wirklich viel Geld für den Gestalter ausgeben wollte, zeigen andere eben doch, dass Verlag, Buchhändler und Leser da etwas Besonderes teilen, egal, ob es Sommergeschichten aus dem Aufbau Verlag sind, Bilderbücher von Beltz oder die kecken Bosheiten aus dem Eulenspiegel Verlag.
Manchmal sind die Tüten witzig, manchmal aber auch so nüchtern wie das Verlagsprogramm. Oft genug freilich sind Verlage und Buchhandlungen auf dem Beutel auch schon wieder Geschichte, vom rasenden Konzentrationsprozess der letzten Jahre verschlungen. Logisch, dass Lehmstedt dazu aufruft, ihm weitere Sammelstücke zu schicken, denn alles, was vor 2000 geschah, lässt sich bisher nur lückenhaft nachvollziehen. Manches bleibt Mutmaßung, auch wenn selbst Bilder des 17. Jahrhunderts schon Buch-Tüten zeigen. Echte in diesem Fall, gedreht aus makulierten Büchern, die die Buchhändler nicht losgeworden sind.
Aber wann gab es die ersten Buchtragetaschen aus Plastik? Begann das Zeitalter der Jutebeutel tatsächlich in den 1980er Jahren? Wann gab es wirklich die ersten Hinweise auf E-Mail, Internetseite, E-Book und digitalen Buchshop auf den Tüten? Denn Buchtüten tragen in der Regel kein Herstellungsdatum. Auch wenn die Warnung „Achtung, Buch im Beutel!“ draufsteht. An wen denken die Beutelgestalter, wenn sie kesse Sprüche und Bilder auf dem Beutel entwerfen?
An die anderen Leute, also die Nicht-Buch-Leser, denen man klarmachen möchte, dass sie mal wieder gewaltig was verpassen? Oder doch wieder nur an die Lesenden, die vorm Auspacken ihrer Leseware auch noch die frechen Zitate auf dem Beutel lesen?
Augenscheinlich zeigt selbst dieses ganz besondere Sammelgut, dass Werbung und Marketing ganz und gar nicht so primitiv und einfach sind, wie es uns die sonst so öffentlich sichtbare (nicht immer lesbare) Werbung vorgaukelt. Denn im modernen Marketing scheint man eine ziemlich abfällige Meinung vom gewöhnlichen Konsumenten zu haben und einfach davon auszugehen, dass er weder liest noch nachdenkt, sondern nur auf Reize reagiert. Wie die Ratte im Labyrinth. Während ein Lesemensch, wenn er so eine Tasche mit „Lesen ist Abenteuer im Kopf“ sieht, automatisch nach dem nächsten Buchladen sucht. Denn wo solche Taschen mit Leuten dran unterwegs sind, muss es irgendwo auch neuen Lesestoff geben.
Und auch wenn sich Lehmstedt mit den einführenden Texten kurzhält, merkt man, dass auch diese Büchertüten von Kultur und Kulturgeschichte erzählen. Dass hier – auf ganz eigenwillige Art – die Beziehung des Menschen zum Buch, zum Lesen und zum Denken artikuliert wird. Manchmal in Formeln, die augenzwinkernd klarmachen: Wer darauf anspringt, gehört dazu.
Dass man mit Menschen, die keine Bücher besitzen, vielleicht doch lieber keine engere Bindung eingeht, wissen lesende Menschen. Denn wo bekommt man schnell Nachschub her, wenn das aktuelle Buch schon am frühen Abend zu Ende gelesen ist? Einfach in der nächsten Pizzeria anrufen: „Einen italienischen Krimi bitte!“ – das geht nicht. Und bis morgen warten, während die Lebensgefährtin gerade den „Herrn der Ringe“ zum achten Mal liest? Geht auch nicht.
Man merkt schon: Wirklich lesehungrige Menschen haben immer einen Bücherbeutel dabei und verlassen eine Buchhandlung oder eine Messe selten mit weniger als zwei Büchern. Eins braucht man mindestens immer in Reserve. Deswegen ist auch die alte Frage bescheuert, die sich nur Nicht-viel-Leser ausgedacht haben können: „Welches Buch würdest du mit auf eine einsame Insel nehmen?“ Dann doch bitteschön die Büchertasche von Lappan – aber vollgepackt bis obenhin mit allem, was der Laden hergibt.
Da die Sammlung im Buch- und Schriftmuseum wachsen soll, deutet sich hier ein reiches Forschungsfeld an – für Buch- und Kulturwissenschaftler genauso wie für Leute, die wissen wollen, warum Marketing eigentlich bei lesenden Menschen nicht so richtig funktioniert. Kann es sein, dass die Taschengestalter recht haben, wenn sie solche Sprüche raushauen wie „Alles Bessere verdanke ich den Büchern“ nach Gorki oder „Wer liest, sieht besser aus.“ oder „Vorsicht! Wer Bücher liest, verhindert Verblödung!“?
Und auch wenn nicht alle 3.000 Tüten ins Buch gepasst haben, zeigt es doch schön übersichtlich, was für eine Welt sich da auftut. Und auch ein bisschen, wie Menschen ticken, die sich ein Leben ohne kluge Bücher schlichtweg nicht vorstellen können.
Mark Lehmstedt Buchtüten, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2021,20 Euro.
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