Die moderne Medienwelt suggeriert uns ja fortwรคhrend, รผberall in der Welt wรคre es eigentlich genauso wie in Deutschland. Also mรผssten sich doch auch alle Menschen genauso benehmen wie die mittlere sรคchsische Sofa-Kartoffel. Dass selbst scheinbar vertraute Kulturen voller รberraschungen sind, merkt man meist erst, wenn man wirklich mal umzieht. Und zwar richtig. So wie die Kanadierin Tanya Harding aus dem schรถnen Ottawa erst ins thรผringische Arnstadt und 2020 dann nach Weimar. Was sie entdeckte, dรผrfte auch รผberzeugte Weltmuffel รผberraschen.
Was sie entdeckte, war die erstaunliche Liebe der Deutschen zum Brot, ein ganzes Universum von Brotsorten, wie sie kein anderes Land der Erde kennt. Und eine tiefsitzende รberzeugung, wie wichtig Brot im Leben ist, geradezu Synonym fรผr das รberleben auch in harten Zeiten. Und dennoch keine Notspeise, sondern geradezu ein Kulturgut, das in der Pausenverpflegung genauso wenig fehlen darf wie auf dem Vesper- oder Abendbrottisch.Das bayerische โBrotzeitโ gibt es in allen Variationen auch in allen anderen Bundeslรคndern. Mitsamt dem Kummer der emsigen Brotesser, dass einem irgendwann die gewรถhnlichen Brotbelรคge langweilig werden. Manche haben ja mittlerweile auch einen eher schlechten Ruf. Die Zeiten, da man sich dick Mett, Wurst und Schmalz aufs Brot schmierte, sind eher vorbei. Gerade in Haushalten, wo man sich doch lieber etwas gesรผnder und klimaschonender ernรคhren mรถchte.
Was tun?
Die Frage ist nicht ganz neu. Und sie ist auch anderen Nationen nicht ganz fremd, wo man zwar meist andere Unterlagen verwendet, um sie dann lustvoll zu belegen und zu befรผllen. Aber auch dort hat man sich Gedanken รผber abwechslungsreiche Fรผllungen und frรถhliche Belรคge gemacht. Und Tanya Harding hat mit diesem Bรผchlein zusammengebracht, was tatsรคchlich bestens zusammenpasst: die deutsche Brotkultur mit den aufregendsten Aufstrich-Rezepten aus aller Welt.
Die bekommt man ja bekanntlich nicht im Laden zu kaufen. Wer was Gesundes und gleichzeitig aufregend Kรถstliches sucht, steht meistens vor einer Glรคserreihe, die nicht wirklich Abenteuer und Freude beim Sandwichessen verspricht. Aber Harding, die ja in Weimar ein eigenes Restaurant betreibt, empfiehlt hier genau das, was experimentierfreudige Menschen sowieso schon wissen: Wirklich frisch und wirklich knackig wird es erst, wenn man es selbst zubereitet.
Eigentlich ist es nicht schwer. Und Harding erlรคutert recht bildhaft, wie man all die von ihr vorgestellten Brotaufstriche zubereitet. Die sie gar nicht mal Aufstriche nennt, sondern einfach mit den Zutaten betitelt, die drin sind und dabei spannende Geschmackshochzeiten eingehen. Also wirklich das, was man sich vor dem Glรคserregal immer wรผnscht und nie findet. Und im Kรผhlregal auch nicht, wo dann meist sechs Sorten Krรคuterquark das hรถchstmรถgliche aller Gefรผhle sind.
Den Britischen Brunnenkresse-Gurken-Aufstrich sucht man dort vergebens. Den muss man sich selbst zubereiten, wozu man natรผrlich wieder einen Hรคndler braucht, der mรถglichst heimische Brunnenkresse aus Thรผringen anbietet. Eine Gelegenheit, die Harding รผbrigens nutzt, รผber die Probleme des heutigen Brunnenkresse-Anbaus zu schreiben. Wir exportieren unsere Essenswรผnsche zwar in die Billiglohnlรคnder der Welt. Aber dabei geht vieles kaputt, was es an eigenen Erzeugern im Land einmal gab.
So gemahnt das Buch auch beilรคufig daran, wie unaufmerksam wir auch in unserer Landwirtschaftspolitik sind. Und dabei kรถnnten gerade vielfรคltige heimische Erzeugnisse aus รถkologischem Anbau die Welt der Brotaufstriche deutlich bereichern. Denn die Zutaten sollten ja mรถglichst gehaltvoll und schmackhaft sein. Und auch fรผr echte รberraschungen gut sein wie die Russische Rote Beete oder der herzhafte Aufstrich mit Tomaten und Wildkrรคutern.
Mit Auberginen, Walnรผssen und Granatรคpfeln wird die ganze Sache mal persisch, mit Cheddar, Bacon und Spinat auch kanadisch. Dass in den Koreanischen Mรถhren nicht nur Karotten sind, erfรคhrt man genauso wie den bunten Spaร mit Avocado-Limette-Tomate nach mexikanischer Art. So kann man allein schon mit immer neuen Aufstrichvariationen regelrecht um die Welt reisen, ohne dass man seine heimische Kรผche verlassen muss.
Warum nicht morgen Italienische Artischocken und รผbermorgen Ukrainische Buchweizen-Champignons mit Radieschen? Oder doch lieber gleich franzรถsischen Camembert mit Kerbel oder die besondere Veggie-Pastete โMontrealโ, die Tanya Harding vor Jahren in ihrem Lieblings-Hippie-Cafรฉ in Montreal kennengelernt hat und nun nach vielen, vielen Experimenten nachgezaubert hat?
Warum nicht? Wer mit seinen Brotbelรคgen schon lange hadert und von Vielfalt und bunten Exzessen auf seinem Lieblingsbrot trรคumt, der wird hier fรผndig und findet viele Anregungen, die Sache einfach selbst mal in Angriff zu nehmen. Was nicht heiรt, dass sich nicht auch ein paar Tipps aus deutschen Kรผchen darunter befinden.
Ist ja nicht so, dass nicht auch hiesige Kรถchinnen experimentiert hรคtten und mit der Krรคuterbutter einen eigenen Beitrag zum Vespern beigetragen hรคtten, wohl wissend, dass es eigentlich immer Mehrzahl ist, je nach vegetarischer Zutat zur Krรคuterbutter. Und natรผrlich erwรคhnt Harding an der Stelle auch zu Recht, dass die jahrzehntelang von der Lebensmittelindustrie verteufelte Butter lรคngst wieder rehabilitiert ist und es eher die kรผnstliche Margarine ist, die auf einem Brot nichts zu suchen hat.
So betrachtet, wirkt der Buchtitel viel zu harmlos. Er verrรคt nicht mal, wie abenteuerlich es zugehen kann, wenn unsereins einfach mal anfรคngt, sich seinen Lieblingsbrotaufstrich selbst zuzubereiten.
Und ganz am Ende wird es natรผrlich sรผร und auch der beharrlichste Nutella-Freund erfรคhrt, dass selbst so ein Aufstrich aus dem Glas geradezu langweilig ist gegenรผber Britischem Lemon Curd, Schokoladen-Cashew-Chili aus Sรผdamerika oder Belgischem Caramel Swirl. Ein echtes Plรคdoyer fรผr Vielfalt und Abenteuer. Selbst bei so einem urdeutschen Essritual wie dem Verspeisen eines belegten Pausenbrotes oder eines รผppig verzierten Sandwiches am Abend.
Tanya Harding Brotaufstriche, Rhinoverlag, Ilmenau 2021, 5,95 Euro.
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