Es gibt Güter, die man einfach nicht bezahlen kann. Deren Wert man aber erst erkennt, wenn sie einem geschenkt werden. So ein Gut ist die Stille. Gerade Großstädter wissen es, wie selten die Stunden wirklicher Stille sind. Manche waren im April 2020 geradezu verblüfft, wie still eine Stadt selbst am Tag sein kann. Der Lockdown machte es möglich. Und das ging nicht nur Leipzigern so. Rund um die Mainmetropole Frankfurt entdeckte Georg Magirius 13 Orte der Stille.

Das Thema treibt ihn schon länger um. 2019 veröffentliche er das Buch „Stille erfahren“, in dem er gemeinsam mit anderen Autor/-innen erkundete, welche Rolle Stille eigentlich noch in unserer von Lärm und Hektik erfüllten Welt spielt und wie schwer es den Bewohnern dieser Zeit inzwischen fällt, Stille zu erfahren, auszuhalten und zuzulassen.Orte, die eigentlich zum Erholen geschaffen wurden, erfüllen umtriebige Mitmenschen mit immer neuen Fun-Angeboten, mit denen sie den Besuchern einreden, erst so wäre ihre Freizeit auch mit Inhalt erfüllt. Die Berichterstattung über das Arbeitsleben ist ein einziges Lob der Entgrenzung, des triumphalen Besetzens auch noch der letzten ruhigen Minute mit Geschäftigkeit. Als wäre der Mensch nur dazu auf der Erde, sich immerfort durch Tätigkeit beweisen zu müssen. Kein Wunder, dass kaum noch jemand zuhören kann, die Menschen immer einsamer werden, obwohl sie ständig zu tun haben.

Und so machte sich Magirius einfach mal auf den Weg, raus es der Pendlerhauptstadt Frankfurt und der lärmenden Innenstadt und suchte und fand, in und gleich vor der Stadt lauter Wege und Orte, an denen das Leben einfach weitergeht, ohne sich von der Hektik der City im geringsten beeindrucken zu lassen. Und wer Frankfurt wirklich nur als geschäftige Bankenmetropole kennt, darf sich von ihm überraschen lassen.

Denn es genügt in der Regel eine kurze Fahrt mit dem Linienbus oder der S-Bahn, und man landet im grünen Gürtel, der sich rund um Frankfurt herumzieht und der auch so bewahrt werden soll. Und in diesem Gürtel trifft man auf völlig unterschiedliche Grün-Erlebnisse, die jedes für sich für einen Tag stillen Luftholens gut sind. Das beginnt mit den Streuobstwiesen am Berger Hang, von denen aus selbst die glänzenden Türme der Bankenstadt fern und bescheiden wirken.

In Berkersheim, der „verschlafenen Stadt“, wird sogar richtiges Dorf-Gefühl möglich. Hier kommt man auf den Radweg, der 65 Kilometer einmal rund um Frankfurt führt. Das könnte dem Äußeren Grünen Ring in Leipzig ähneln, wäre der wenigstens als sicherer durchgehender Radweg ausgebaut.

In manchem sind uns die Städte im Westen des Landes eben doch um ein paar Jahrzehnte voraus. Oder haben einfach konsequenter in Projekte investiert, die in Leipzig immer eher nachrangig waren. Ein gut ausgebautes Radwegenetz rund um Leipzig? Es wäre ein Traum.

Am Fechenheimer Mainbogen entdeckt Magirius den Tierreichtum eines neu angelegten Main-Altarms. Sogar drei erstaunlich ruhige Orte mitten in der Stadt entdeckt er – die Rotunde der Kunsthalle Schirn, die Aussichtsplattform des Doms und den Chinesischen Garten. Himmelstiefe findet er am Jacobiweiher und auf dem Mühlberg lässt er uns das nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaute Häuschen entdecken, in dem Wilhelm und Marianne Willemer lebten, letztere eine von Goethes großen Lieben, der wir den „West-Östlichen Diwan“ verdanken – in dem auch Gedichte von Marianne stecken.

Hier beginnt auch der elf Kilometer lange Goethe-Rundwanderweg. Das fehlt Leipzig auch noch ein bisschen: Dichter-Wanderwege. Obwohl ja genug Dichter auch hier waren, Goethe selbst natürlich auch. Wobei ja an den Dichter-Wanderwegen gar nicht so wichtig ist, dass alle naselang irgendein fein restauriertes Gebäude daran erinnert, dass auch Goethe mal hier weilte, sondern die Stille, die nun einmal auch in Gedichten steckt.

In Romanen manchmal auch. Aber wenn man mit ein paar dieser unsterblichen Gedichtzeilen („Abseits, wer ist’s …?“) unterwegs ist, hört man ziemlich bald auf zu hetzen und zu eilen, sondern beginnt achtsamer zu gehen. Nach Dölitz zum Beispiel. Sage niemand, dass ein Leipziger Goethe-Wanderweg nicht ins Grüne führen könnte.

Aber wir sind ja noch in Frankfurt. Und man merkt schon in den Beschreibungen von Georg Magirius, wie er diese Ausflüge im Corona-Jahr 2020 genossen hat, wie er sich über die City-Hühner im Gärtnerdorf Oberrad aus ganzem Herzen freuen konnte, um gleich auch noch vom dort befindlichen Grüne-Soße-Denkmal zu erzählen, dem Denkmal für das Frankfurter Nationalgericht.

Auf der Schwanheimer Düne erfährt der Leser, was für einmalige Biotope auf solchen Binnendünen entstehen und wie solche Dünen überhaupt mitten ins Land kommen können. Und nahebei in den Schwanheimer Wiesen (die ein wenig dem Leipziger Auwald ähneln) erlebt er, wie schön Unterforderung sein kann. Wenn man nicht mehr wichtig und tatendurstig sein will und muss, sondern einfach schauen und atmen darf.

Und ansonsten ist Stille. Und Stille findet er auch rund um das Wasserwerk Hinkelstein. Spätestens da merkt man, wie sehr der Mensch solche aus aller Geschäftigkeit entlassenen Orte braucht, Orte der Besinnung, des Runterschaltens, des Zeit-Habens. Denn hier bestimmt der eigene Schritt, wie lange man da ist und wie lange man verweilt.

Hier ist man Mensch und darf es sein – auch ohne den brechenden Blick eines Johann Faust, der das eindeutig zu spät begriffen hat mit seinem „Verweile doch, du bist so schön …“. In dieser Faust-Szene, in der der alte Mann auch noch das emsige Schuften der Lemuren als Hoffnungskunde verstehen will, steckt die ganze Tragik dieses Neuzeit-Alchimisten, der sein Leben lang – angefeuert von Mephisto – immer neuen Erfahrungen, Kuriositäten und „Geheimnissen“ hinterhergejagt ist, ohne einmal innezuhalten.

Aber wer nicht innehalten kann, sieht nichts, der sieht auch nicht die Schönheit der Welt und hört seine eigenen Gedanken nicht wispern. Von Insekten mal ganz zu schweigen. Die erwähnt auch Magirius nicht. Es wird da im Frankfurter Grün wohl auch genauso still geworden sein wie im Leipziger.

Zuletzt spaziert Magirius dann noch in die Altstadt Hoechst und lädt zum Picknick im alten Wassergraben ein. Oder auch zum Besuch seiner drei Lieblings-Einkehrstätten auf dem Schlossplatz von Hoechst. Die dürfen bestimmt auch bald wieder öffnen mitsamt ihren Freisitzen. Die Sehnsucht ins Freie haben so gut wie alle Menschen. Die meisten ahnen zumindest, was ihnen alles fehlt, wenn sie aus der lauten Stadt nicht (mehr) herauskommen.

Und etliche der Orte, die Magirius beschreibt, erzählen davon, dass das auch den verantwortlichen Stadtregierungen immer wieder mal bewusst wird. Dann werden solche grünen Inseln geschützt, werden Rad- und Wanderwege angelegt und Biotope wieder in einen naturnahen Zustand versetzt. So entstehen Lücken und Löcher im Gelärm einer Zeit, die das ewige Herumfuhrwerken noch immer für ein Zeichen von Vitalität hält – und nicht für eine Krankheit verzweifelt irrender Geister.

Georg Magirius Stilles Frankfurt, Echter Verlag, Würzburg 2021, 9,90 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Leipzig hätte längst aufschließen können, aber hier waren ab dem Jahr 2000 Entscheider am Werk, die das Stadtleben erheblich ausgebremst haben für altmodische Ideale von Großstadt, die mehr wieder so 1970 waren. Die eingesessenen Ossis und die zugereisten Wessis haben sich in ihrem wüsten Treiben nicht viel genommen.

Frankfurt am Main hatte auch mal eine Art Urbanitätskrise (in den 1980ern, “Krankfurt”), hat sich aber endlich seit vielleicht fünfzehn Jahren doch ziemlich berappelt.

btw: Der Stadtteil heißt Höchst, mit ö. Das mit oe ist nur die Chemiefirma.

Schreiben Sie einen Kommentar