Es war wohl der 24. Oktober des Jahres 79, als der Ausbruch des Vesuvs zur Katastrophe für die Städte Herculaneum, Stabiae, Oplontis und Pompeji wurde, und nicht das bisher tradierte Datum 24. August. Jedenfalls deuten einige der Funde, die seit 2010 gemacht wurden, darauf hin. 2010 wieder war das Jahr, als Zeitungen alarmierende Meldungen brachten über den dramatischen Zustand der weltberühmten Bauwerke in Pompeji. Zeit für ein ganz anderes Buch über Pompeji.

Denn Bildbände, die in großen Farbfotostrecken immer wieder dieselben schönen Geschichten über die verschüttete Stadt am Golf von Neapel erzählen, gibt es genug. Auch etliche dramatische Filme und teils weltberühmte Romane, in denen die Autoren ihrer Phantasie freien Lauf ließen. Das prägt unsere Vorstellung von Pompeji bis heute. Dass aber vieles ganz anders war, das zeigten gerade diese zehn Jahre nach 2010.Denn die Alarmmeldungen aus Pompeji wurden ernst genommen. Auch die EU reagierte und stellte zur Sicherung der einzigartigen Stadt 105 Millionen Euro bereit, Geld, das es vorher in dieser Dimension für Pompeji nicht gegeben hatte, was auch der Grund dafür war, dass man die nun seit über 250 Jahren nach und nach ausgegrabenen Gebäude nicht ausreichend sichern konnte.

Massimo Osanna macht die lange Vorgeschichte, die landläufig als zweites oder drittes Leben von Pompeji bezeichnet wird, im zweiten Teil des Buches ausführlich zum Thema. Denn vielen Liebhabern antiker Stätten ist überhaupt nicht bewusst, dass eine ausgegrabene Stadt genauso dem natürlichen Verfall wieder ausgesetzt ist wie alle anderen Städte der Welt. Selbst der legendäre deutsche Aufklärer und Archäologe Johann Joachim Winckelmann kannte ja Pompeji schon.

Als er 1755 Pompeji besuchte, wurde dort seit knapp zehn Jahren gegraben – und er schimpfte und wetterte gegen die Ausgrabungsmethoden. Osanna erwähnt ihn natürlich. Und widerspricht ihm auch. Denn was Winckelmann in Pompeji sah, war der Beginn nicht nur der Auferstehung Pompejis, sondern einer sich erst nach und nach professionalisierenden Archäologie. Hier wurden im Grunde all die wissenschaftlichen Methoden entwickelt, auf denen die gesamte heutige Archäologie beruht. Pompeji war im Grunde die große Schule der Archäologie.

Und auch die der Konservierung antiker Bauwerke. 270 Jahre – da laufe man mal in Leipzig herum und suche Gebäude, die auch nur dieses geradezu jungfräuliche Alter haben. Man wird nicht viele finden. Und die meisten haben eine lange und teure Instandhaltungs- und Sanierungsgeschichte hinter sich. Den ausgegrabenen Straßenzügen in Pompeji geht es nicht anders. Auch der Erhalt einer antiken Ruinenstadt kostet Geld.

Und als Massimo Osanna 2020 nach sechs Jahren seine Arbeit im Grande Progetto als Leiter des Archäologischen Parks Pompeji beendete, war der Erfolg des Programms für die jährlich vier Millionen Besucher unübersehbar. Oder anders formuliert: wieder zu besichtigen. Denn der Verfall der über 2.000 Jahre alten Bausubstanz war auch in den Vorjahren schon zu sehen gewesen. Nur sperrte die Parkverwaltung diese gefährdeten Straßenzüge für den Besucherverkehr, sodass kaum jemand etwas davon mitbekommen hatte.

Insofern hatte der Aufschrei von 2010 eine wichtige Weckfunktion. Sie machte auch den staatlichen und europäischen Instanzen klar, dass hier ohne wirklich starken Geldeinsatz eines der bedeutendsten europäischen Kulturdenkmale zu verfallen drohte. An ein weiteres Ausgraben der Stadt war sowieso schon seit Jahrzehnten nicht mehr zu denken, denn jedes weitere ausgegrabene Gebäude erhöht auch die Instandhaltungskosten.

Der letzte Tag von Pompeji | Terra X

Aber Osanna ist Archäologe. Und er hätte wohl nicht sonderlich viel Freude gehabt, hätte er nach seinen sechs Jahren in Pompeji nur von Sanierungsarbeiten erzählen können. Und es wurde ja nicht nur geflickt und ausgebessert und so manches Gebäude, das vorher aus Sicherheitsgründen gesperrt war, wieder zugänglich gemacht. Die Sicherungsarbeiten betrafen auch einige Straßenzüge am Rand der bisherigen Ausgrabungen.

Und dort stieß man auf einige Überraschungen, die nicht nur Osanna begeisterten. Und von diesen Überraschungen erzählt er sehr ausführlich und lässt seine Leser/-innen miterleben, dass Archäologie eine richtige Detektivarbeit ist, in der man aus winzigen Spuren, Fragmenten, Inschriften, Bildern und verbrannten Resten das Leben einer ganz und gar nicht so unbedeutenden römischen Stadt im 1. Jahrhundert rekonstruieren kann.

Und da geht es nicht nur um das 2018 zufällig entdeckte Bild von Leda mit dem Schwan, das auch das Buchcover ziert und Teil einer ganzen Bilderlandschaft in dem dazugehörigen Haus ist. Da geht es auch um einen rätselhaften Mythos in zwei Fußbodenmosaiken, den Osama akribisch herausarbeitet und der eine Menge über das Verständnis der Pompejaner von Leben und Tod erzählt.

Ein Kapitel, das im Grunde so manchen schwer lesbaren Monolog von Literaturwissenschaftlern ersetzt, die einem versuchen die griechisch-römische Götterwelt zu erklären. Doch meistens bleibt es dabei bei schönen Sagen à la Gustav Schwab, ohne dass man auch nur eine Ahnung davon bekommt, wie die Vorstellungen der Bewohner der Antike vom Jenseits und Wirken der Götter tatsächlich waren. Ein Thema, das Osanna auch am Beispiel des Minerva- und des Apollotempels aufgreift und an den dort gefundenen Gefäßen, die die spendenden Pompejaner mit Inschriften versehen haben.

Aber gerade die Bilderflut in den Häusern erzählt davon, wie stark die mythischen Vorstellungen auch den Alltag bestimmten. Die Bilder könnten oft geradezu als Illustrationen für Ovids „Metamorphosen“ benutzt werden. Der Dichter lebte ja nur ein halbes Jahrhundert vor dem Untergang Pompejis. Aber viele der gefundenen Bilder erzählen auch direkt vom Alltag in der Stadt. Hausherren und ihre Frauen ließen sich an ihren eigenen Wänden porträtieren. Das Bild eines Gladiatorenkampfes in einer Taverne erzählt von den erstaunlich klaren Regeln bei diesen Gladiatorenspielen, die auch im Zirkus von Pompeji stattfanden.

Bei der detektivischen Suche nach dem Besitzer eines prächtigen Grabmals erzählt Osanna von einem regelrechten politischen Erdbeben im Jahr 59, bei dem es bei solchen Gladitorenspielen zu einer großen Schlägerei mit Todesopfern gekommen ist. Ein Ereignis, das selbst Kaiser Nero auf den Plan rief und das Rätsel mancher Inschrift lösen hilft. Aber auch ein wenig später erfolgtes tatsächliche Erdbeben ist in den archäologischen Ausgrabungen sichtbar geworden: das Erdbeben von 62, das dem Ausbruch von 79 vorausging. Die Stadt muss im Jahr 79 einer großen Baustelle geähnelt haben, denn in vielen Häusern waren die Handwerker nach dem Grabungsbefund gerade noch fleißig an der Arbeit.

Und die Beschäftigung mit den Gebäuden und den nachweisbaren Umbauten macht auch deutlich, dass die Häuser selbst schon Jahrhunderte auf dem Buckel hatten, als der Vesuv ausbrach. Anhand der Malstile der Innendekoration lassen sich die Entstehungsphasen sehr genau eingrenzen und wird vor allem auch die etruskische Vorgeschichte der Stadt greifbarer.

Und man staunt geradezu, wie die Namen aus Graffiti und Inschriften die Verbindung der Erwähnten zu historisch schon bekannten Familien in anderen Städten am Golf und in Etrurien sichtbar machen. Auf einmal hört die Stadt auf, ein abgeschlossenes Kleinod mit Stadtmauer und Hafen zu sein, sondern wird zum Teil einer kosmopolitischen Welt, in der Handelsbeziehungen rund um das gesamte östliche Mittelmeer bestanden.

Neuausgrabungen waren zwar im großen europäischen Rettungsprogramm nicht vorgesehen. Aber an einigen Stellen in der Stadt erwiesen sie sich dann doch als unumgänglich – und wurden zum Glücksfall, weil so auch neue Teile Pompejis freigelegt werden konnten mit allem wissenschaftlichen Knowhow, das der heutigen Archäologie zur Verfügung steht. Da beginnen selbst die Abraumberge früherer Ausgrabungen zu sprechen und die angeschnittenen vulkanischen Ablagerungen erzählen die dramatischen Ereignisse neu, die nach einigen der neueren Befunde wohl wirklich erst nach der Ernte im Herbst 79 stattfanden.

Anhand der seit dem 19. Jahrhundert gefertigten Gipsabgüsse der Menschen, denen die Flucht aus Pompeji nicht geglückt ist, erzählt Osanna nicht nur von der durchaus ebenso spannenden Geschichte dieser Abgüsse, sondern auch von dem heute sehr detailliert rekonstruierbaren Ablauf in den Stunden des Vulkanausbruchs, von deren Dramatik ja die Gipsabgüsse nur zu deutlich erzählen.

So wird sein Buch tatsächlich zu einer ganz persönlichen Bilanz dieser zehn Jahre, die nicht nur den Bestand Pompejis für die nächsten Jahre gesichert haben, sondern die wissenschaftliche Welt auch mit vielen neuen Entdeckungen bereichert haben, die das Bild einer römischen Stadt der Antike lebendig werden lassen.

Und zwar mitsamt den politischen Wahlkämpfen, die sich in hunderten Graffiti an den Hauswänden verewigt haben, der Straßengastronomie, die 2020 um einen phantasievoll bemalten Verkaufsstand („Antiken-Schnell-Imbiss“) bereichert werden konnte, aber auch den Abfallproblemen, mit denen sich frühere Archäologen überhaupt nicht beschäftigt haben. Aber selbst ein auf der Straße konservierte Abfallhaufen beginnt nun zu sprechen und erzählt eine Menge mehr über die Ernährung der Pompejaner.

Aber Osanna unterlässt es auch nicht, seine Vorgänger in der Leitung des Parks zu würdigen und sehr kenntnisreich zu erzählen, wie aus der frühen reinen Schatzgräberei (die auch viele Fundlagen dauerhaft beschädigt hat) nach und nach eine planmäßige Archäologie wurde – und damit auch das Bewusstsein wuchs, wie einmalig Pompeji ist als quasi im Moment des Vulkanausbruchs mitten im Alltag konservierte Stadt in der römischen Provinz.

Keiner unbedeutenden Stadt. Auch davon erzählen ja die Befunde. Vielleicht sogar einer sehr typischen Stadt, auch wenn sie im Vergleich mit der Millionenstadt Rom ein Winzling war. Aber nicht nur die Archäologen staunen, wenn sie bei ihren Arbeiten wieder einmal merken, dass sie gerade wieder über ein verblüffend vertrautes Detail des Alltags gestolpert sind, eines Details, das die Zeit aufzuheben scheint, als seien die Bewohner nur mal kurz weggegangen und würden gleich zurückkommen.

Logisch, dass das die Phantasie der Menschen anregt. Auf einmal wird ein Kapitel aus dem Geschichtsbuch lebendig, man kann direkt hineingehen in dieses Jahr 79. Am Ende der Hauptstraße sieht man den Kegel des Vesuvs. Aber auch das täuscht. Denn so sah der Vesuv nicht aus, bevor er im Jahr 79 ausbrach. Über 200 Bilder ergänzen all das, was Osanna erzählt, etliche auch farbig in einem eigenen Bildteil, sodass man die zugehörigen Orte und Fundstücke noch genauer anschauen kann, deren Geschichte Osanna erzählt.

Massimo Osanna Pompeji, wbg Philipp von Zabern, Darmstadt 2021, 50 Euro.

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