Es gibt tatsächlich Bücher, die kommen mit 20 Jahren Verspätung, weil der Jubilar eigentlich nur noch ein bisschen redigieren wollte. So wie diese Sammlung von Studien, die eigentlich im Jahr 2000 zum 65. Geburtstag des sächsischen Landeshistorikers und Archivars Manfred Kobuch erscheinen sollte – als Nr. 6 der Schriftenreihe der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft. Sogar die Würdigung durch seinen Historiker-Kollegen Karlheinz Blaschke war schon geschrieben.
Aber dann begann Kobuch seine zum Teil 35 Jahre alten Texte noch einmal zu überprüfen, neuere Forschungsergebnisse aufzugreifen und jüngere Publikationen heranzuziehen, also das zu machen, was seine Mitstreiter aus der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft eigentlich nicht wollten. Denn der Band sollte einfach all die Arbeiten versammeln, mit denen Kobuch die sächsische Mittelalterforschung bereichert hat, uralte Irrtümer aufgeklärt und etliche alten Rätsel wenigstens teilweise geklärt hatte. Die Texte sind noch immer lesbar und haben ihre Gültigkeit nicht verloren.Aber wie das so ist: Ein Forscher zweifelt immer. Und so vertiefte sich Kobuch immer weiter in die Details, bekam schon einen Betreuer zur Seite gestellt, der ihm helfen sollte, die Sache irgendwann zur Buchreife zu bringen. Doch als 2017 Band 11 der Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft erschien, klaffte noch immer das Loch mit der im Jahr 2000 geplanten Nummer 6. 2018 starb Kobuch, 2020 auch Blaschke.
Aber begraben wollte der Verlag das Buch nicht. Die Historiker Uwe John und Markus Cottin haben sich des Materials angenommen, Kobuchs Anmerkungen und Literaturhinweise ergänzt, ein richtig opulentes Verzeichnis seiner Schriften erarbeiten, ein Personen- und Ortsregister und ein Register zu den Urkunden, die zeitlebens der Stoff waren, mit dem Kobuch gearbeitet hat.
Und das auch und gerade in der Zeit, in welcher in der DDR die Ideologie des Klassenkampfes herrschte und das Interesse daran, die regionale Geschichte der Markgrafschaft Meißen und Kursachsens zu erforschen, von offizieller Seite nicht existierte. Kobuchs Texte erschienen dementsprechend fast nur in Fachpublikationen, während in populären Publikationen oft noch die uralten Irrtümer weitergeschrieben wurden.
Aber auch Geschichtsforschung lebt von der Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Und von Leuten wie dem Landesarchivar Kobuch, den Unklarheiten und ungelöste Fragen regelrecht dazu animierten, die Urkundenarchive gezielt nach möglichen Lösungen zu durchforsten. Was ihm gerade deshalb gelang, weil er sich wie kein anderer mit der Entstehung des mittelalterlichen Archivwesens beschäftigte.
Denn wenn man weiß, welche Vorgänge damals von welchen Kanzleien beurkundet wurden und wer über solche Urkunden verfügte, der kann selbst dort auf die Suche gehen, wo andere nie gesucht hätten. Wie er vorgegangen ist, schildert Kobuch in seinen Beiträgen sehr akribisch und bildhaft. Das dürfte nicht nur ausgebildete Archivare begeistern, sondern auch alle anderen wirklich geschichtsinteressierten Leser/-innen.
Denn er zeigt hier, wie sehr der Umgang mit dem, was in jahrhundertealten Urkunden steht, einer Detektiv-Arbeit gleicht. Und wie man seine Befunde akribisch untermauern kann, bis ein bis dato unverständlicher Vorgang auf einmal Sinn ergibt und sich als Baustein einfügt in unser Verständnis vom Mittelalter – und in diesem Fall der Entstehung und Festigung der Markgrafschaft Meißen.
Und natürlich erfährt man als Leser auch von Dingen, die in den gerafften Darstellungen der sächsischen Geschichte selten bis nie erwähnt werden, weil deren Autoren in der Regel gelernt haben, Geschichte vom Ende her zu interpretieren. Da muss man sich nicht mit den Mühen der Ebene abgeben und der durchaus verstörenden Tatsache, dass im Raum zwischen Bautzen, Meißen, Leipzig und Altenburg alles auch ganz anders hätte kommen können.
Die Karriere der Wettiner war mitnichten ein historisches Gesetz. Und gerade in den ersten 200 Jahren hatten sie nicht nur regionale Gegner, die ihnen den Aufstieg zu einer gefestigten Landesherrschaft erschwerten, sondern immer wieder auch Könige und Kaiser gegen sich, die im deutschen Osten ihre eigenen Pläne verfolgten – so wie Barbarossa etwa mit dem Pleißenland.
Ebenso fast vergessen ist die frühe Geschichte der Burggrafen in diesem Gebiet, von denen meistens nur die Burggrafen von Dohna Erwähnung finden, die der von Leisnig hingegen kaum. Aber gerade die sind ein regelrechtes Lebensthema für Kobuch gewesen, der wie kein anderer in den Archiven nach den Spuren der alten Burggrafschaften suchte, dem einst starken Einfluss der Staufer, die in der Mark Meißen und in der Lausitz eigene Tafelgüter unterhielten.
Und so kommt in mehreren Beiträgen auch die frühe Stadtwerdung ins Bild, denn auch hier täuscht ja der Blick von heute: Der Aufstieg der Wettiner erfolgte in einer Zeit, in der das spätere Sachsen noch zum größten Teil bewaldet war und Städte noch nicht existierten, der größte Teil der Bevölkerung sorbisch sprach und die ersten Marktflecken „im Schutze der Burg“ entstanden. Und zwar nicht ganz zufällig, wie Kobuch etwa an den Beispielen Chemnitz, Dresden, Leisnig und Borna erzählt. So lernt man auch die Rolle der Nikolaikirchen als Gründung der sich niederlassenden Händler und Kaufleute kennen.
Die Nikolaikirchen standen genau da, wo die frühen Kaufmannssiedlungen lagen – meist ganz in der Nähe einer Furt oder eines wichtigen Straßenkreuzes. Natürlich verfolgte Kobuch auch aufmerksam, was in den anderen historischen Hilfsdisziplinen vonstattenging. Denn meist ergibt sich erst ein vollständiges Bild, wenn man z. B. auch die archäologischen Forschungen aufmerksam beobachtet.
Was für die einen dann ein Rätsel bleibt, wird in der Zusammenschau mit archivalischen Quellen auf einmal zur Entdeckung – wie die Lokalisierung des Roten Turmes auf dem Burgberg von Meißen oder die Ersterwähnung des Königsteins, die Anfänge der Dresdner Frauenkirche oder die Rolle des Wiprecht von Groitzsch für Knautnaundorf im Leipziger Süden.
Mit Kobuch merkt man, dass auch diese von Unsicherheit geprägten frühen Jahre der Markgrafschaft dennoch ihre Regeln und ihre Logik haben. Eine Logik, die oft dabei hilft, verlorene Puzzle-Steine zu finden. Denn natürlich steht nicht alles in den alten Urkunden. Auch darüber schreibt Kobuch ja mehrfach, wie lückenhaft die Überlieferung oft ist, weil Urkunden und Archive selbst Opfer der Geschichte wurden oder die Empfänger ihren Wert nicht erkannten.
Erst mit der sich festigenden Territorialmacht verstanden auch weltliche Herrscher wie die Wettiner so richtig, wie wichtig Urkunden waren, um die eigenen Rechte und Besitztümer abzusichern. Vielleicht spielte dabei auch das faule Spiel einiger Bistümer wie des Bistums Merseburg eine Rolle, wo man sich nicht schämte, Urkunden einfach mal zu fälschen und damit uralte Besitzansprüche zu behaupten. Man ahnt nur die Zwickmühle der Gegenseite, wenn die feststellen musste, dass sie dem opulent gefälschten Dokument nicht mit einer echten Urkunde begegnen konnte.
Wobei Kobuch sehr bildhaft zeigen kann, dass auch Kaisern ihre Urkunden nicht viel nützten, wenn sie ihre Macht nicht militärisch durchsetzen konnten. Auch das wird eher beiläufig sichtbar in Kobuchs Detektivarbeit: Wie die frühe Landesmacht im Osten Deutschlands eben nicht durch hübsche Papiere geschaffen wurde, sondern durch zum Teil blutige Auseinandersetzungen. Wer seine Ansprüche nicht mit Gewalt durchzusetzen vermochte, zog den Kürzeren.
Wobei aber freilich gerade das Thema Lausitz zeigt, dass die Wettiner früh begriffen hatten, dass man Macht auch kaufen kann – indem man lieber Landesteile verkauft, um sich mit dem Geld die nötigen Truppen zu beschaffen, mit denen man das Kernland gegen übergriffige Könige verteidigen kann.
Kein Wunder, dass die Herausgeber und der Verlag dieses Buch unbedingt noch fertigstellen wollten, denn mit Kobuchs zuvor nur verstreut veröffentlichten Beiträgen wird ein ganzes Kapitel meißnischer Geschichte greifbar. Und zwar sehr lebendig. Man lernt Akteure kennen, die mit allen Mitteln darum kämpften, ihr Stammland an Elbe und Pleiße zu sichern und zu vergrößern.
Man lernt ihre Anhänger kennen und ihre Nöte. Und man sieht sich eine ganze Landschaft verändern – aus einer sorbischen, dünnbesiedelten Region, in der die stark ausgebauten Burgen der Burggrafen die markanten Landmarken setzten, hin zu einem Land, das nach und nach sichtbare wirtschaftliche Strukturen mit Märkten und Stadtgründungen bekam.
Wie viel Zeit haben eigentlich Geschichtslehrer, dieses Kapitel mit ihren Schülern durchzuspielen und auch mal einen dieser frühen Bausteine der meißnisch-sächsischen Landesgeschichte zu besuchen? Garantiert viel zu wenig. Obwohl gerade dieses Kapitel sehr deutlich macht, wie sehr wirtschaftliche Strukturen die Grundlage von Macht sind und damit der Entstehung von Landesherrschaft.
In diesem Fall ja einer sehr langen Landesherrschaft der Wettiner, die mit dem Erwerb der sächsischen Kurwürde zu den höchsten Fürsten im Reich aufstiegen. Die Wanderung des Sachsen-Titels schildert Kobuch natürlich auch noch. Quasi als Abschluss dieser Reise durch die wichtigsten seiner veröffentlichten Beiträge.
So ist es – mit zwanzigjähriger Verspätung – doch noch ein Buch geworden, das geschichtsneugierigen Lesern jede Menge Lesestoff ins Haus bringt. Und natürlich auch etliche Geschichten, die man so in den eher üblichen Sachsengeschichten nicht findet. Natürlich da und dort mit nach wie vor offenen Fragen, gerade was die ganz frühe Zeit betrifft, als auch die Wettiner noch kein sicheres Archiv besaßen und wohl eher an warme Pelze und belastbare Pferde dachten, als an die Einrichtung einer professionellen Kanzlei.
Ausgewählte Schriften von Manfred Kobuch Meißnisch-sächsische Mittelalterstudien, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2021, 69 Euro.
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