In diesem Jahr wäre Portugal eigentlich das Gastland der Leipziger Buchmesse gewesen. Doch auch in diesem Jahr fällt die Buchmesse aus, gibt es nur ein Lesefest. Portugal hat seinen Gastlandauftritt deshalb auf 2022 verschoben. Aber niemand muss so lange warten, die portugiesische Literatur kennenzulernen. Der Leipziger Literaturverlag hat eine ganze Reihe portugiesischer Autor/-innen in sein Frühjahrsprogramm 2021 gepackt. Darunter auch diesen zutiefst polemischen Text von Luiz Pacheco.

Er war ein „scharfer Kritiker intellektueller Unredlichkeit und des Nepotismus in der Kultur während und nach der Salazar-Diktatur“ und ein „erklärter Libertin“, fasst der Verlag sein Leben kurz zusammen.António de Oliveira Salazar vergisst man meistens, wenn man an die europäischen Diktatoren des 20. Jahrhunderts denkt. Dabei gründete er den „Estado Novo“ auch schon 1933, eine autoritäre Diktatur mit faschistischen Tendenzen, wie es Wikipedia beschreibt. Aber da er sich nicht am Krieg Nazideutschlands beteiligte, endete seine Diktatur auch nicht 1945. 1968 erst gab er das höchste Amt aus gesundheitlichen Gründen ab an seinen Nachfolger Caetano, der 1974 vom Militär aus dem Amt geputscht wurde. Erst die folgende Nelkenrevolution machte Portugal wieder zu einer Demokratie.

Das ordnet natürlich auch das Werk Pachecos anders ein, der 1925 in Lissabon geboren wurde, romanische Philologie studierte und sich anfangs den Surrealisten nahe fühlte, sich aber immer wieder von ihnen distanzierte. 1950 gründete er den Verlag „Contraponto“. Das klingt so, als müsste er da dann ein gemachter Mann gewesen sein. Aber dieses kleine – von Marion Quitz illustrierte und von Nicole Cyron übersetze – Büchlein erzählt davon, wie arm er gerade in der Mitte seines Lebens war.

Und wie lebenshungrig. Der Text ist wütend, das stimmt. Und der Autor ist es zu Recht. Es ist die Wut dessen, der an den Rand gespült wurde, dem das Geld fürs tägliche Brot fehlt, der auch nicht weiß, wo er das Brot am nächsten Tag hernehmen soll für sich, seine neue Lebensgefährtin Maria Irene (immerhin die Schwester der Frau, mit der er vorher zusammenlebte), und die drei Kinder. Im Küstenort Setubal haben sie 1964 Zuflucht gefunden. Sie teilen sich zu fünft ein Bett.

Und indem der Autor jeden Morgen als erster aufsteht und mit roter Tinte am Schreibtisch schreibt, versucht er, die Verzweiflung irgendwie zu bändigen, die in ihm tobt, und die längst schon Wut geworden ist und Verachtung. Denn was bleibt eigentlich übrig an Selbstachtung, wenn man in so einem Land wie selbstverständlich in absolute Armut stürzt, letztlich derart bestraft wird dafür, dass man sich nicht fügt und nicht duckt und mit den Wölfen heult? Wenn man auf seine Freiheit pocht und das Recht, seine Liebe, seine Sehnsucht und seine Unabhängigkeit auch zu leben?

Man muss sich der Jahreszahl 1964 immer wieder vergewissern, denn soviel Armut würde man eher zu Beginn des Jahrhunderts vermuten oder gar im 19. Jahrhundert, aber nicht 1964 in einem Mitgliedsland der NATO, das in Afrika immer noch Kolonialmacht spielte. In gewisser Weise ist diese Geschichte auch eine bissige Erinnerung daran, wie dünn die Decke unseres Wohlstands ist und dass wir uns einer Täuschung hingeben, wenn wir glauben, so weit runter könne es in unserer ach so reichen Gesellschaft nicht mehr gehen.

Die Zwangsräumungen im Corona-Jahr dürften zumindest die Betroffenen wieder hart daran erinnert haben, wie schnell man ein Obdach verlieren kann. Die Macht liegt nicht bei den Ohnmächtigen, sondern bei den Reichen, denen, die über den Besitz verfügen, ohne dabei auf die Nöte ihrer Mieter Rücksicht nehmen zu müssen.

„Gemeinschaft“ erzählt natürlich – auf dichte poetische Weise – von diesem Bett, in dem die Fünf irgendwie gemeinsam schlafen müssen, in dem extreme Nähe entsteht, die im Grunde das Intensivste ist, was Pacheco in dieser Zeit erlebt. Die Tage fließen ineinander über. Fast wirkt es, als schildere er nur eine einzige Nacht, obwohl es eindeutig mehrere sind, die sich nahtlos aneinanderreihen, jede ein neuer Versuch, irgendwie weiterzuleben. Trotz der Angst, es nicht zu schaffen, „die Ur-Angst, solch Ungerechtigkeit, unendliche Gemeinheit“. Und dann den größten Trost darin zu finden, die Hand der Geliebten zu fassen, „diese kleine Hand, leibhaftiger Anker im Leben“.

Die Vokabel Verantwortungslosigkeit ist hier falsch. Die gehört in ein anderes Universum, wo alles geregelt ist und einer seine Rechnungen bezahlen kann. Wo es diese Absicherung nicht gibt, findet sich der einzige Halt in den Menschen, die bei einem bleiben und mit einem auch solche scheinbar hoffnungslosen Tage durchstehen. Aber die Hoffnung liegt immer in den Menschen, die bei einem sind: „Aber meine Kraft ist riesig. Gleichzeitig atme ich aus fünf Lungen …“

Auch wenn Pacheco nichts darüber schreibt, wie er seine kleine Familie da wieder herausholen will, ist seine Aufzeichnung wie die Beschreibung eines riesigen Glücksgefühls, einer „Gemeinschaft“, die eigentlich das, was wir für gewöhnlich mit Gemeinschaft verbinden, regelrecht sprengt. Das klingt im portugiesischen Original noch deutlicher an: „Comunidade“.

Da steckt das Gemeinsame mit drin, das geteilte Hab und Gut, das Wenige, auf das alle angewiesen sind, aber auch das Aufeinanderangewiesensein. Genauso wie das Einssein in der Not, das Verschmelzen mit denen, die man liebt und für die man sich kümmern muss. Das, was wir auch oft vergessen, wenn wir das Wort Familie benutzen, ganz so, als wäre das nur noch eine Art Verwaltungseinheit und nicht der Ort unerhörter Nähe.

Einer Nähe, die manchmal genauso intensiv wird, wie sie Pacheco schildert: „Versuche etwas Ordnung in die Unordnung zu bringen, denn ohne einen Ausweg zum Übersinnlichen kann man nicht im Chaos leben, das höchste Gut, das mich besorgt, sind sie, die Kleinen, meine Unsterblichkeit, instabil, ungewiss …“

Aber genau das gibt diesem Dichter Kraft und Zuversicht. „Aber ein Baby! Eine junge Frau mit einem Sohn auf dem Schoß! Die Kleinen um sie herum! Das sind von allen die anspruchsvollsten und bedürftigsten Wesen. Und denen sollte man alles geben! Darum, meine Damen und Herren, begrüße ich den Morgen und freue mich, ihn noch einmal zu sehen, darum ermuntern mich die Sperlinge.“

Welcher Vater hätte das nicht auch einmal so gedacht? Die meisten garantiert. Egal, wie belämmert der Zustand in der Familienkasse war, wie kläglich die Arbeit und die Verheißungen auf dem Amt. Das ist die Kraft, die die ganze Menschheit dazu bringt, immer weiterzumachen und trotzdem morgens aufzustehen, egal, was die gerade Mächtigen wieder für Schindluder getrieben haben mit dem Land, egal, ob gerade eine Krise das Land schüttelt.

Das hält den Laden zusammen und am Laufen. Und es treibt die Libertins genauso um wie die Braven und Geduldigen. Aber sie alle kennen ebenfalls die Wut, wenn sie damit alleingelassen werden, wenn ihnen gezeigt wird, wie gleichgültig den anderen gerade mal wieder Kinder und Familien sind.

Am Ende ist dieser Prosatext geradezu ein wildes Poem auf das Leben und gleichzeitig ein Manifest gegen eine prüde, von starren Regeln beherrschte Welt, die diese Intensität des Lebendigseins immer wieder verteufelt und kriminalisiert. Denn gerade weil Pacheco diesen Text schreibt, fordert er eben auch das Recht zum bedingungslosen Lieben ein. Und das nicht nur für sich. Der Text endet mit einem Appell an die Leser/-innen, genauso unbedingt zu leben. „Und flüchtet vor den Frustrierten und den Versagern, denn das sind die heuchlerischsten und größten Kastraten, die es gibt.“

Wen er mit „Versagern“ meint, hat er kurz vorher definiert: „Oder die frustrierten Versager, die versuchen, die anderen in den Brunnen zu ziehen, in den sie sich aus Phantasielosigkeit, aus Trägheit oder Feigheit haben fallen lassen …“ Das klingt dann doch schon erstaunlich gegenwärtig. Was den Text so aktuell macht. Denn gegen diesen sich ausbreitenden Frust hilft nur der Mut, das Leben leben zu wollen. Egal, wie die Umstände sind. Es bedingungslos anzunehmen und alles zu geben für „die anspruchsvollsten und bedürftigsten Wesen“.

Das bringt erst die Ordnung ins Chaos und den Trost selbst in den bedrückendsten Moment. Und selig wird man, wenn man danach handelt, stellt er ganz am Schluss fest. Auch wenn sich erst einmal an diesem Leben in einem einzigen Raum mit einem einzigen Bett erst einmal nichts geändert hat. Nur in dem, der das mit roter Tinte niederschrieb, hat sich etwas geändert. Er hat sich selbst vergewissert, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben. Schon wegen dieser kleinen schnaufenden Wesen nebenan im Bett.

Geradezu ein Mutmachertext in der Corona-Trübsal. Das Leben geht weiter. Und es gibt lebendige Gründe dafür, es zu nehmen, wie es kommt.

Luiz Pacheco Gemeinschaft, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2021, 19,95 Euro.

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