Nichts ist für den Ruf eines Dichters schädlicher, als von deutschen Professoren zum Klassiker erklärt zu werden. Denn das ist der beste Weg, immer wieder zensiert, amputiert und vereinnahmt zu werden. Etwas, was dieser Geheimrat aus Weimar zutiefst verabscheute. Aber er hatte da schon 1808 so eine Ahnung, denn er kannte seine Pappenheimer und Standesgenossen. Bei nichts ist das Bürgertum so verklemmt und scheinheilig wie beim Thema Erotik. Das hat sich bis heute nicht geändert.

„Ja, wenn ich es nur je dahin noch bringen könnte, daß ich ein Werk verfaßte – aber ich bin zu alt dazu – daß die Deutschen mich fünfzig, oder hundert Jahre hintereinander recht gründlich verwünschten und aller Orten und Enden mir nichts als Übles nachsagten; das sollte mich außermaßen ergötzen. Es müßte ein prächtiges Produkt sein, was solche Effekte bei einem von Natur völlig gleichgültigen Publikum wie das unsere hervorbrächte“, zitiert ihn Johannes Daniel Falk in einem Gespräch, das 1808 stattfand und in dem er den schon Berühmten eigentlich zu einem Gespräch über die „gerechtere Nachwelt“ animieren wollte.Und Jens-Fietje Dwars hat das Stück nur zu gern aufgenommen in seine Sammlung Goethescher Erotika, die vielleicht bei dem einen oder anderen hübsch in der Glasvitrine verschwinden wird.

Aber eigentlich ist es der Versuch einer Rehabilitation eines geradezu kastrierten Dichters, der mal als Stürmer und Dränger begann und als Teppichvorleger professoraler Weihereden endete. Dabei lagen die Deutschen eigentlich schon richtig damit, dass sie den Weimarer Dichter gern hatten. Aber nicht für seinen „Tasso“ und nicht für seine „Iphigenie“, zwei Stücke, die auch dem Weimarer Hof nur zu sehr gefielen.

Aber das ist – um mal Freud ins Spiel zu bringen – der sublimierte Dichter. Der geadelte Minister, der nur zu gut wusste, dass der Weimarer Hof und die Gunst des Herzogs ihm überhaupt die Spielräume gaben, kreativ sein zu können – und andererseits aber auch freundlich und bestimmt dafür sorgten, dass nur ein fein gesäuberter Goethe in die Öffentlichkeit kam.

Wie das funktionierte und warum selbst in modernen Goethe-Ausgaben die alten Fehlstellen und Streichungen erhalten blieben, erzählt Dwars in seinem Nachwort, in dem er begründet, warum auch Goethe-Stücke ins Buch gefunden haben, die man eher nicht als seine heimlichen Erotika bezeichnen würde – die Walpurgis-Szenen aus dem Faust zum Beispiel, aber auch Gedichte wie „Willkommen und Abschied“.

Also ganz beliebter Schulstoff. Nur dass von empörten Eltern und begeisterten Schulkindern nichts zu hören und zu lesen ist, die darin nun ausgerechnet Erotik vermuten. Im bürgerlichen Sinn ist es ja auch keine, was Dwars gerade an der Walpurgisnacht sehr treffend erläutert.

Denn ein Stand, der kein ehrliches und offenes Verhältnis zur eigenen Erotik hat, der schafft nicht nur verbotene Räume und eine Verklärung der als obszön deklarierten sexuellen Vorgänge, der macht Sex zur Ware und schafft genau das, wovon unsere heutige Gesellschaft übergenug hat: Pornographie auf allen Kanälen und in allen Preisklassen. Aber Pornographie ist nun einmal vor allem Machtmissbrauch: Der Verkauf der menschlichsten Dinge auf einem Markt, auf dem „Sex“ nur noch konsumiert wird – mit allen Frustrationen. Denn damit wird der Mensch samt seinen Trieben zur Ware.

So gesehen begegnet uns in diesem Goethe auf einmal ein Mann, der die Verkaufsmechanismen des gerade beginnenden Zeitalters nur zu gut begriff. Und indem Dwars diese Szenen aus Faust I mit dem unter Verschluss gehaltenen Fragment „Hanswurst Hochzeit“ vergleicht, wird recht deutlich, wie Goethe in diesen ausufernden Szenen auf dem Blocksberg die verlogene Moral seiner Zeit- und Standesgenossen persiflierte.

Und zwar so gründlich, dass sie es nicht mal merkten, auch wenn die Hexenszenen dann in vielen „Faust“-Inszenierungen später gekürzt und entschärft wurden. Wenn auch eher mit der Begründung, dass man dem ach so feinen Publikum dergleichen nicht zumuten könnte. Oh ja, das selbstgerechte Bürgertum hat sich selbst immer schon gern wie unmündige Kinder behandelt, sich schämig gestellt und gerade deshalb heimlich Pornographie konsumiert.

Aber dass Goethe mit diesen Szenen genau diese Haltung aufs Korn nahm, fiel augenscheinlich niemandem auf. Auch wenn es durchaus zu den bekannten Erzählungen um Goethe gehört, wie spät er erst auf seiner ersten Reise (Flucht) nach Italien die befreite sexuelle Liebe erlebte, was sich ja in seinen „Römischen Elegien“ und den „Venezianischen Epigrammen“ erspüren ließ.

Wer gut war im Entziffern poetischer Chiffren, hat auch schon mehr darin gelesen, auch wenn Goethe – durch Schiller und das kleine Redaktionskollektiv der „Horen“ beraten – die deutlicheren Stücke zurückbehielt. Auf die Gefahr hin, dass sie nach seinem Tode dann doch der Zensur seiner Nachkommen und ihrer Erben zum Opfer fallen würden. Denn darüber, wie starr und wirksam das Korsett der Prüderie nicht nur in Weimarer Landen wirkte, machte er sich keine Illusionen.

Und so sind einige dieser Stücke nur mit sehr viel Glück auf uns gekommen, auch wenn sie es zumeist eben nicht in die üblichen Goethe-Auswahlbände oder die Gesamtausgaben schafften.

Was Dwars durch seine durchaus eigenwillige und bewusste Auswahl gelingt, ist natürlich jenen anderen Goethe zu zeigen, der als wirklicher Mensch seine Liebeserfahrungen und erotischen Entdeckungen machte. Und zwar keineswegs außergewöhnliche, wenn man annimmt, dass das den meisten Männern so geht. Nur dass die meisten das eben nicht so wortmächtig in Verse bringen können. Zur prüden Pornographie unserer Zeit gehört nun einmal auch die allseits herrschende Spachunfähigkeit der meisten Männer.

Ja, auch jener Tröpfe, die derzeit überall herummaulen, sie dürften nicht alles sagen und ihre Meinung würde unterdrückt, von wem auch immer. Ja, wer nicht lebt, der kommt auch nicht zur Sprache. Der wird über Liebe und Sex nur die paar üblichen Brocken kennen, mit denen sich das Kunstprodukt offline und online verkaufen lässt: Die schnellste Befriedigung zum besten Preis. Mehr nicht.

Was Dwars nicht erläutert, weil das schlicht einen zweiten, völlig anderen Auswahlband bedingen würde, ist die Sache mit der Emanzipation. Die klingt nur ein wenig an, wenn der Herausgeber Goethes Probleme schildert, seine Weimarer Geliebte Christiane Vulpius heiraten zu dürfen, denn sie war nun einmal nicht „standesgemäß“ (und sage niemand, dass das heute anders ist). Doch irgendeine standesgemäße Schnepfe vom Weimarer Hof wollte Goethe nicht.

Was nur zu verständlich ist. Und die Frauen von Stand, die ihn faszinierten, die waren in der Regel schon (standesgemäß) verheiratet. Die konnte er nur in Briefen und Gedichten umschwärmen oder in regem Briefwechsel die Nähe suchen, die ansonsten nicht möglich war. Das wäre der emanzipatorische Teil in Goethes Leben: seine Liebe und Hochachtung für kluge Frauen, deren Geist und Lebensklugheit er zu schätzen wusste.

Was ja bekanntlich nicht immer mit der sexuellen Anziehung in eins fällt. Die Liebe fällt eben oft nicht dahin, wo die Vernunft ihre Freuden findet. Obwohl das eigentlich kein Gegensatz ist. Mit Faustina in Rom hat Goethe ja jene Entdeckungen gemacht, die ihn danach wie erlöst sein ließen: dass man die Frauen auch einfach deshalb lieben kann, weil sie die Freude am Körper und am Lieben teilen. Da rätselten dann natürlich die Literaturwissenschaftler: Hat er wirklich zum ersten Mal auf dieser Italien-Reise …?

Oder war es auch hier ganz anders: Hat er hier zum ersten Mal erlebt, dass man Frauen nicht kaufen muss, um sie lieben zu können? Dass alle Hürden, die die bürgerliche Moral in unsere Köpfe pflanzt, auch völlig falsche Vorstellungen über genehmigte und „verbotene“ Liebe mit sich bringen? Unter dem Aspekt verändert sich auch der Blick auf die Gretchen-Tragödie im „Faust“ und auf Gretchens – aus heutiger Sicht – eigentlich unverständliche Handlungsweise, die freilich sehr eng mit den „christlichen“ Moralvorstellungen des Spätmittelalters und der Neuzeit verquickt sind, jenen Vorstellungen, die Goethe aus gutem Grund verabscheute.

Und ganz bewusst lässt Dwars auch den braven „Werther“ weg, der sich lieber umbringt, als wütend zu sein auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die seine Liebe unmöglich machen. Eigentlich ein echtes Jugenddrama, das Goethe auch in verschiedenen Balladen und (Scherz-)Gedichten thematisiert hat, die vor seiner Italienreise 1789 entstanden. Die herrlichen Pointen daraus kennt heute fast jeder, etwa das „Halb zog sie ihn, halb sank er hin, / und ward nicht mehr gesehn“, aus „Der Fischer“ von 1778.

Die Auswahl macht einen Goethe sichtbar, der die Entdeckung der Welt der Liebe in all ihren Facetten immer zum dichterischen Thema gemacht hat, der auch lernte, die Freuden beim Sex zu besingen und sich die Gefühle dabei zuzugestehen. Und der sich dann trotzdem verkniff, ein Werk zu veröffentlichen, das selbst die Nachwelt hätte fluchen lassen. Die Nachwelt hat sich entsprechend benommen und ihn zum Nationalheiligen erklärt und auf den Sockel gestellt, während sie eifrig alles, was fortan an lebenslustiger Leidenschaft in deutschen Büchern veröffentlicht wurde, brandmarkte, zensierte, indizierte oder vor Gericht schleppte.

Die erste „Giftkammer“ der Deutschen Bücherei galt ja bekanntlich der „Schundliteratur“. Darunter war garantiert auch jede Menge schlechter Pornographie. Aber Pornographie verkauft sich nun einmal bestens in einer Gesellschaft, in der die meisten Männer sich zu wirklicher Liebe und erfülltem Liebesgenuss nicht in der Lage sehen.

Was wieder mit der Emanzipation zu tun hat, die bei ihnen noch längst nicht angekommen ist. Auch weil sie – anders als Goethe – nicht gelernt haben, dass die Freiheit und die Erfüllung in der Liebe immer zwei braucht. Und während die Frauen seit über 100 Jahren um diese Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen, haben die Männer noch nicht wirklich damit begonnen.

Auch und erst recht nicht die höhergebildeten, die vielleicht mehr von Goethe gelesen haben als nur den „Faust“. Denn natürlich erfährt man Goethes durchaus beeindruckende Suche nach der unverstellten Liebe nur, wenn dieser Goethe nicht in vorsorglich gesäuberten Ausgaben erscheint, die ihn geradezu als sexlosen Gott der unschuldigen Gedichte aussehen lässt, während es eigentlich in seinen Texten überall brodelt und er letztlich selbst die ferne Liebe in emotionaler Kraft zu feiern wusste im „West-östlichen Diwan“.

„Tatsächlich durchzieht, belebt das Motiv der Liebe Goethes Werk von Anbeginn“, schreibt Dwars. „Und deshalb versammeln wir in der vorliegenden Auswahl seiner Erotica auch nicht nur die lange geheimgehaltenen Texte …“ Denn die hat Goethe nun einmal nicht zum „heimlichen Vergnügen“ geschrieben oder um seine Gedanken erst mal selbst zu „erhitzen“.

Sie passen ganz organisch zu seinen veröffentlichten Arbeiten und erhellen tatsächlich den Blick dafür, wie sehr sich hier ein Hochbegabter zeitlebens mit den engen Moralvorstellungen seiner Zeit auseinandersetzte, die aber erstaunlicherweise noch viel stärker die Moralvorstellungen unserer Gegenwart sind. Das nennt man wohl: modern. Auch wenn es bei genauerer Betrachtung zutiefst tragisch ist und nicht nur weniger Sex bedeutet, sondern auch weniger Liebe. Denn bei beidem braucht es die Fähigkeit und Offenheit dazu. Nur kaufen kann man sie nicht.

Und fast hätte ich es vergessen: Illustriert ist der Band mit wirklich erotischen Grafiken von Gerd Mackensen, die eigentlich genau das zeigen, was Goethe manchmal nur andeutet, bis hin zur selbstbewusst die Liebe fordernden Frau.

Johann Wolfgang Goethe Erotica, Edition Ornament im quartus-Verlag, Jena 2021, 39,90 Euro.

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