Die Schlagzeilen in den letzten Monaten galten ja eher der katholischen Kirche, die seit dem fatalen Umgang mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle mit einer dramatischen Zunahme der Austritte zu tun bekam. Aber so ganz unbeschadet kommt ja auch die evangelische Kirche nicht durch die Zeit. Und das liegt nicht an der Zeit, wie Klaus Douglass und Fabian Vogt feststellen.

Fast im Gleichklang verloren die beiden großen christlichen Konfessionen schon vor 2019 Mitglieder. Da mussten gar nicht erst die großen Skandale kommen. Irgendetwas war da, was die Kirchen für immer weniger Menschen attraktiv sein ließ, sie regelrecht herausrutschen ließ aus dem Leben der Menschen und aus der Wahrnehmung dessen, was eigentlich heute noch wichtig ist. Da war man auch kirchlicherseits mit Schuldzuweisungen oft nicht weit. Mal sah man im zunehmenden Atheismus die Schuld, die fortschreitende Säkularisierung des Lebens, mal ist es die Spaßgesellschaft, mal die hinschmelzende Moral.Aber Klaus Douglass und Fabian Vogt sind nicht nur Theologen, sondern auch Pfarrer mit einschlägigen Erfahrungen. Sie kennen das Gemeindeleben und das Kirchenleben von innen. Und ihre Bibel kennen sie auch, und natürlich alles, was Jesus im Neuen Testament so tut und sagt. Und eigentlich ist das Frappierende an Jesus ja nicht, dass er die Hohepriester ärgert und die Wechsler aus dem Tempel jagt. Nicht mal Pontius Pilatus gegenüber sagt er etwas in der Art: „Die anderen sind schuld.“

Es ist schon ein erstaunlich moderner Moment, den die beiden Autoren hier aufgreifen, denn man hat das ja einfach so hingenommen, dass sich die Evangelische Kirche genauso benommen hat wie alle möglichen anderen Institutionen in Deutschland: Wenn etwas nicht (mehr) rundläuft, sind immer die anderen schuld. Man selbst hat immer alles richtig gemacht und die Leute, die das nicht honorieren, sind einfach unverständig und ignorant. Da kann man Parteien genauso nennen wie diverse Unternehmen, Verbände oder Behörden. Und der eigene Laden sei eigentlich ganz gesund und sowieso in Ordnung. Da müsse man gar nichts ändern.

Selbst dann, wenn einem seit Jahren die Mitglieder weglaufen, die Einnahmen wegbrechen und eigentlich nur noch überall umorganisiert wird, um mit weniger Geld irgendwie weitermachen zu können. Ganz so neu ist ja der alarmierende Befund auch für die Evangelische Kirche nicht.

„Es könnte sein, dass das für die Evangelische Kirche genauso gilt: Solange sie sich einredet, sie sei gesund und für die Einbrüche der vergangenen Jahrzehnte seien nur äußere Faktoren verantwortlich (die Säkularisierung, die Pluralisierung, die Krise der Institutionen usw.), braucht kein Arzt mit einer Therapie zu beginnen“, schreiben die beiden. „Das, was am Leben hindert, muss benannt werden, um einen Gesundungsprozess einleiten zu können.“

Ist das eigentlich nur ein innerkirchliches Problem? Muss uns das kümmern, so als ungläubige Thomasse, die mit der Aufklärung groß geworden sind und die Welt mit durchaus wissenschaftlich konnotierter Skepsis betrachten? Braucht es die Kirchen überhaupt noch? Fehlt uns überhaupt was, wenn sie weg sind?

Das Gefühl sagt einem: Doch, das ist keine so belanglose Angelegenheit, wie sie auf den ersten Blick aussieht, auch wenn sich die Kirchen selbst in eine echte Außenseitersituation hineinmanövriert haben, die Douglass und Vogt sehr genau und kritisch beschreiben. Da geht es der Kirche nicht anders als den meisten Menschen. Und auch nicht anders als unserer Gesellschaft insgesamt.

Das wird deutlicher, wenn man liest, wie die beiden zwölf Szenen aus dem Neuen Testament interpretieren und dann gleich noch auf den Zustand des evangelischen Patienten anwenden. Etwa im Gleichnis des Blinden von Jericho, der aufspringt, als er merkt, dass Jesus da ist, und schreit, damit der ihm helfe.

Wir haben ja schon mehrere Bücher von Fabian Vogt rezensiert (hier zum Beispiel den „Luther für Eilige“) und die Leser/-innen dieser Bücher wissen, dass er begabt darin ist, in diesen teils sehr symbolischen biblischen Szenen unser heutiges Menschsein zu sehen. In diesem blinden Bettler müssen sich auch heute nicht nur Bettler erkennen. Das geht vielen Menschen so, dass man manchmal aufspringen und schreien möchte. Es sind nicht nur die Gläubigen, die in Not sind. Auch wenn wir alle gern so tun, als sei alles in bester Ordnung und es ginge uns gut.

„Der Autor stellt vor 2000 Jahren eine Frage, die an Brisanz bis heute nichts verloren hat und die übertragen so klingt: Was muss Kirche eigentlich hinter sich lassen, um heil zu werden? Glauben Sie uns: Das ist eine der entscheidenden Fragen“, schreiben die beiden. Sie destillieren ja aus den zwölf Heilungsgeschichten aus dem Neuen Testament zwölf Vorschläge, wie ihre Kirche wieder heil werden kann.

Was natürlich einschließt, auch zuzugestehen, dass sie nicht heil ist, dass es ihr eigentlich teilweise so geht wie den scheinbar unheilbaren Kranken, die Jesus in der Bibel wieder gesund macht. Denn die Szenen sind ja aufgeladen mit Symbolik: Warum sieht der Blinde nicht? Warum hat der Aussätzige nicht Teil an der Gemeinschaft? Warum läuft die Frau so gekrümmt und sieht nur sich selbst? Warum kann der Taubstumme nicht (zu-)hören?

Die beiden sind auch in der Bibelgeschichte bewandert und können die Szenen auch historisch einordnen, denn dieser Jesus hat ja nicht in einer Phantasiewelt gepredigt, sondern in einer ganz bestimmten Landschaft mit ihren Ausgrenzungen, Normen, Vorurteilen, Ritualen und Reinheitsvorstellungen. Manche Szenen entschlüsseln sich erst, wenn man das weiß.

Und wenn man das weiß, merkt man, dass diese Landschaft eigentlich unserer Gegenwart ähnelt – mit ihren ganz ähnlichen Ausgrenzungen und Vorurteilen. Und da drängt sich fast auf, ein Wort in einem der zitierten Sätze zu ändern: „Was muss Gesellschaft eigentlich hinter sich lassen, um heil zu werden? Glauben Sie uns: Das ist eine der entscheidenden Fragen.“

Eigentlich ist es die Grundfrage, die die beiden diskutieren, denn zu Recht merken sie an, dass immer mehr Menschen draußen bleiben, vor den Türen der Kirche. Dass die Barrieren hoch sind, die Gottesdienste nicht (mehr) zu Herzen gehen, die Gemeinde nicht mehr über ihren Glauben und ihr Hoffen spricht. Aber: Ist das draußen nicht ganz genau so? Sind die meisten Menschen nicht deshalb draußen, weil sie auch in der Kirche keine Wärme (mehr) finden und mit den dort gepflegten Ritualen so gar nichts anfangen können, weil sie sie nicht ansprechen?

Aus gutem Grund merken die beiden Autoren an, dass zwar in der Kirche viel geredet wird – aber fast nur von der Kanzel. Also genauso wie draußen: Man predigt allerenden, lässt aber die Nähe zu den Menschen nicht zu, spricht nicht mit ihnen, hört ihnen nicht zu, öffnet sich ihnen auch nicht.

Die Kirche als geschlossene Gesellschaft ist da gar nicht so einzigartig. Nur fällt es auf sie zurück, wenn Menschen auch bei ihr oder in ihr keinen Trost finden, nur Predigten, Rituale, Verwaltungsakte. Und da die beiden ihr Buch im Corona-Jahr geschrieben haben, legen sie nicht ganz zufällig sehr viel Wert auf genau das, was in diesem Jahr noch viel weniger geworden ist: das Erlebnis von Gemeinschaft, von Nähe und Berührung.

Viele Menschen werden deshalb krank, weil ihnen genau das fehlt. Corona hat es nur zugespitzt, dass wir eigentlich in einer kalten Gesellschaft leben, in der jeder für sich allein lebt und stirbt und echte Nähe und Begegnung und Berührung fast nicht mehr stattfinden.

Die Diagnose stimmt eben auch für unsere Gesellschaft, was spätestens beim Gleichnis der Heilung der Frau aus Kanaan deutlich wird, die ja nun eindeutig nicht zum Volk Israel gehört, also eine von den anderen ist, für die auch Jesus sich anfangs nicht verantwortlich fühlt. Denn sollte man sich nicht eigentlich nur immer um die kümmern, die zur eigenen Kirche/Gemeinde gehören?

Eine schön hinterhältige Frage für unser so emsig aufs Bewahren der Grenzen bedachte Deutschland. „Uns geht es hier aber um eine Geisteshaltung, die allzu oft in unseren Gremien und Entscheidungsprozessen spürbar wird: Wir leben nicht aus der Hoffnung, wir leben aus der Angst“, schreiben die beiden Autoren.

Und meinen die evangelische Kirche. Und beschreiben dennoch die ganze Gesellschaft, das ganze von Angst besessene und getriebene Deutschland, das mit schreiendem Entsetzen darauf reagiert, wenn einer nur Vorschläge macht, wie man künftig wieder mit Hoffnung leben könnte und was man ändern müsste.

Selbst im Gleichnis der Tochter des Jairus (welche die Angehörigen schon für tot halten und die Jesus wieder auferstehen lässt) wird das deutlich, dass es eben nicht nur die Kirche betrifft, die einen hoffnungslosen Zustand zeigt, sondern unsere ganze Gesellschaft mit ihrem geradezu zynischen Fatalismus, der auch noch Wahlerfolge feiert. Sage keiner, er hätte diese fatalistische Miesmacherei nicht auch schon in seinem Umfeld erlebt und wäre von allerliebsten Zeitgenossen nicht derart entmutigt und eingeschüchtert worden.

„Und wenn wir als Kirche nicht mehr verkünden, dass das Leben stärker ist als der Tod, wer sollte es sonst tun?“, fragen die beiden. Und geben ihre Antwort, weil sie sicher sind, dass Kirche eigentlich dazu da ist und deshalb eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielt. Was sogar einleuchtet, wenn man mit ihnen zusieht, wie Jesus genau deshalb Erfolg hat in Galiläa und Umgebung, weil er den Menschen wieder Mut gibt, Zuversicht und etwas, was Douglass und Vogt gar nicht erwähnen: Selbstvertrauen. Sie möchten ja eher das Vertrauen in Gott betonen.

Dabei merken sie selbst immer wieder an, dass es eigentlich immer zuerst um Gemeinschaft geht, um die Beziehungen, die Menschen miteinander eingehen und zulassen. Was die in ihren Ritualen erstarrten Kirchen fast schon vergessen zu haben scheinen. „Die Kirche der Zukunft wird nur als Beziehungsnetzwerk überleben“, schreiben sie.

Unsere Gesellschaft übrigens auch. Wo die zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Strecke bleiben, wegrationalisiert werden, unmöglich gemacht werden in einem irren Wettbewerb der Egoismen, zerfällt die Gesellschaft und vereinsamen die Menschen. Die Hoffnung stirbt da ganz zwangsläufig, und zwar sehr früh. Denn worauf soll man hoffen, wenn das Ziel keine solidarische Menschengemeinschaft ist?

Und auch wenn die beiden Theologen scheinbar nur den Zustand ihrer Kirche analysieren, wird an mehreren Stellen klar, dass es eigentlich ums Ganze geht, dass die christliche Kirche nur deshalb über 2000 Jahre ein Erfolgsmodell sein konnte, weil sie Beziehungsgeflechte schuf und Menschen eine Gemeinschaft bot, in der Nähe und Berührung möglich war. Was bleibt eigentlich davon übrig, wenn man genau das verliert?

„Beziehungen sind alles“, schreiben die beiden, als sie die Geschichte mit dem Gichtbrüchigen und seinen vier Freunden erzählen. „Das merken wir manchmal nicht, wenn wir gerade voll im Saft stehen. Da glauben wir, alles alleine zu schaffen. Aber das ist ein Trugschluss. Der Mensch, das wusste schon Aristoteles, ist ein soziales Wesen, er ist wesentlich Mit-Mensch. Vielleicht wird uns das nie bewusster als in der Zeit der sozialen Distanz während der Corona-Pandemie, die viele Menschen – nicht nur Alte und Kranke – an den Rand des Ertragbaren gebracht hat.“

Was ja auch die Frage mit sich bringt, die die beiden noch ausklammern: Welche Rolle spielt eigentlich Kirche noch in einer Gesellschaft, in der die sozialen Distanzen immer weiter auseinanderklaffen, soziale Kälte eigentlich die Norm und Vereinsamung ein Massenphänomen ist? Und in der die Kirchen genau dazu schon lange nichts mehr zu sagen haben. Vielleicht haben sie ja, aber man hört es nicht. Aber wie will die Kirche da die Menschen draußen vor der Tür erreichen, wenn sie „geistlich sprachlos“ ist und sich damit in nichts von den anderen nur mit sich selbst beschäftigten Institutionen unterscheidet?

Wer spricht dann eigentlich für die Einsamen, Schwachen und Unerhörten? Und bringt sie wieder in die Gemeinschaft? Wer ist so selbst-los, dass er das (noch) kann? Denn so, wie heute in der Regel aufeinander eingeredet wird, hat das mit Beziehung, Nähe und Verstehenwollen nichts mehr zu tun. „Eine wichtige Erkenntnis: Unsere Augen sehen fast immer nur das, was unser eigenes Herz zulässt. Während viele meinen, sie könnten nur glauben, was sie sehen, ist es oft genau umgekehrt: Wir sehen nur, was wir glauben.“

Und wenn wir nur zu gern glauben wollen, dass gar nichts geht, dann bleibt logischerweise mit der Zuversicht auch der Mut auf der Stecke. Zu den Verängstigten von heute gehören all die Mutlosen und vor allem die Entmutiger. Erstaunlich: Da merkt man erst, was eigentlich wirklich fehlt und was wohl den frühen Christen diese neue Religionsvariante so attraktiv gemacht hat. Sie brachte ihnen – in einer Welt voller fatalistischer Propheten (die man in der Bibel natürlich auch findet) – wieder so etwas wie Zuversicht und Staunen.

Das verbindet 2000 Jahre später nicht jeder mehr mit einem Glauben an Gott. Aber wer nicht mehr staunen kann, der wird dieser einmaligen Welt und dem Leben darin nicht mehr mit Faszination begegnen. Eher gekrümmt herumlaufen, ständig mit seinen Sorgen beschäftigt, nicht mal ahnend, dass man sich wieder aufrichten könnte – als Mensch. Und alles mit anderen Augen sehen und anders anpacken könnte.

Das tut man nämlich nur, wenn man Vertrauen hat – in sich selbst zuallererst und darauf, dass kein Donnerwetter passiert, wenn man sich traut und losgeht. „Ein staunender Mensch kann kein Fundamentalist sein, denn er ist immer im Begriff, die Fundamente seines Lebens zu überschreiten“, schreiben Klaus Douglass und Fabian Vogt – hier in Bezug auf die Heilung des Sprachlosen.

Und sage keiner, dass diese Sprachlosigkeit nicht die ganze Gesellschaft stumm macht. Aber eine Gemeinschaft, die nicht redet, ist eine beziehungslose Gemeinschaft – also eigentlich keine. Eher ein Phantom, ein Gebilde, das nicht trägt, nicht stützt und vor allem niemandem das Vertrauen gibt, dass dieser Laden in der Krise hält.

Das betrifft wirklich nicht nur die Evangelische Kirche. Sondern den ganzen Laden. Und wenn man die Interpretationen von Douglass und Vogt zu den zwölf Heilungsakten des Jesus liest, verstärkt sich immer mehr das Gefühl, dass es diesem Wanderprediger eigentlich genau darum ging: den ganzen Laden mitsamt allen Aussätzigen, Fremden, Siechen, Stummen, Tauben und Mutlosen.

Eigentlich eine schöne Analyse, die den wacheren Streitern der Evangelischen Kirche Stoff genug gibt, nötige Veränderungen anzugehen. Die aber eigentlich weit darüber hinausgeht und die ganze Gesellschaft meint. Mit all ihren Problemen, die nur gemeinsam gelöst werden können. Wir glauben, „alles alleine schaffen zu können. Aber das ist ein Trugschluss.“

Es ist aber der Glaubensgrundsatz unserer Gesellschaft, wie sie jetzt gerade ist. Auch das gehört zur Diagnose. Warum sollte es der Evangelischen Kirche besser gehen als der ganzen Gesellschaft, die zwar immerfort redet und predigt und streitet, aber kaum noch kommunizieren kann und menschliche Nähe kaum noch zulassen kann?

Dabei entsteht Gemeinschaft erst durch Berührung und Berührtsein. Aber das merkt mancher eben erst auf der Intensivstation. Wenn es zu spät ist. Erstaunlich, wie sehr die Untersuchung des evangelischen Patienten eigentlich den Kern unserer Gesellschaft betrifft. Das Schweigen genau da, wo es eigentlich darum geht, was ein Menschenleben ausmacht.

Klaus Douglass; Fabian Vogt Der evangelische Patient, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2101, 15 Euro.

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