Manchmal hat man ja, wenn man deutsche Nachrichtenseiten so รผberfliegt, das Gefรผhl, dass alles da hinter der รถstlichen Grenze des Landes reineweg verlorenes Land ist. Irgendetwas zwischen โ€žterra incognitaโ€œ und โ€žfailed stateโ€œ. Selten fรคhrt mal einer ganz ohne Vorurteile hin, wie das Michael SchweรŸinger getan hat. Oder der Fotograf Marcel Schreiter. In diesem Bildband begegnen sich beide.

Und das auf verblรผffende Art und Weise, denn das, was Michael SchweรŸinger in seinem 2020 erschienenen Buch โ€žIn Buxtehude ist noch Platzโ€œ atmosphรคrisch dicht beschrieben hat, hat Schreiter, der sich praktisch zur selben Zeit in Rumรคnien aufhielt, in seinen Fotos eindrucksvoll festgehalten.SchweรŸinger hat ja schon seine Leipziger Stadtteilerkundungen wie ein Ethnograf betrieben. Wissend darum, dass es dabei nicht nur um den distanzierten Blick des Wissenschaftlers geht, sondern fรผr die Offenheit dem gegenรผber, was man sieht. Und natรผrlich die Fรคhigkeit zur Distanz, indem man sich als Beobachter der Ereignisse nicht drรผberstellt, allwissend tut und die Dinge durch die eigene Schablone interpretiert.

Ein Fehler, den nicht nur Journalisten fast immer machen. Auch Buchautoren sind davor nicht gefeit. Man sieht nicht, was man sehen kann, sondern das, was man โ€žeh schon weiรŸโ€œ. Also nichts. Man schleppt seine Vor-Urteile genauso mit wie seine Vor-Stellungen. Und kommt so ein-gebildet zurรผck, wie man losgegangen ist.

SchweรŸinger hat sich seine Neugier bewahrt โ€“ auf andere Menschen, Lรคnder, Stรคdte. Bereit, auch das Befremdende und Verwirrende zu akzeptieren. Was am besten gelingt, wenn man genauso wie er reist: ohne groรŸes Gepรคck, ohne Business-Class, ohne Vier-Sterne-Hotel, sondern eigentlich immer als Backpacker, der sich vor Ort einen preiswerten Unterschlupf sucht und eine Gelegenheit zum Geldverdienen. Mรถglichst noch was von der Landessprache lernen und abends dahin gehen, wo die ganz normalen Leute auch hingehen. Und so ein bisschen herausbekommen, wie die ganz einfachen Leute dort leben.

Die sieht man nun in Schreiters Fotos, die er in den Jahren 2015 bis 2017 aufgenommen hat. Dazwischen einzelne Passagen aus SchweรŸingers Bericht. Es ergรคnzt sich nahtlos und wird zu einem fast liebevollen Portrรคt einer Stadt, die es so im Westen Europas garantiert nicht gibt.

Andere groรŸe Stรคdte in Osteuropa mรถgen der Hauptstadt Rumรคnien ein wenig รคhneln, obwohl Bukrarest wohl eine der รคrmsten unter ihnen ist, eine Stadt so zerrissen, wie es mal kurz nach 1990 einige ostdeutsche Stรคdte waren. Nur dass die Ostdeutschen oft gar nicht wissen, wie viel Glรผck sie hatten, dass sie einen reichen groรŸen Bruder hatten, der sich zuweilen zwar etwas arrogant benahm, aber auch jede Menge guter Arbeitskrรคfte brauchte und auch beim Sanieren mithalf.

In Bukarest sieht man noch heute, dass es so dolle viel Geld zum Sanieren nicht gab. Die GroรŸwohnblocks aus sozialistischen Zeiten sehen genauso aus, wie 50 Jahre alte Wohnblocks aussehen, wenn sie heruntergewohnt sind und nie einen neuen Anstrich bekamen. Viele Bilder, die Schreiter in den StraรŸen und Nรคchten Bukarests gemacht hat, erinnern sehr vertraut an die Tristesse einiger ostdeutscher Stรคdte in den frรผhen 1990er Jahren, als von Sanierung noch keine Rede war, aber fliegende Hรคndler die Plรคtze bevรถlkerten und riesige Poster die VerheiรŸungen des Kapitalismus anpriesen.

Von den vielen Gebrauchtwagenmรคrkten ganz zu schweigen. All das prรคgt noch heute das Bild von Bukarest. Und man spรผrt die stille Verblรผffung des Fotografen, dass all das dort genau so noch zu sehen ist. Und trotzdem wirkt es fremd. Denn die Bukarester leben auf erstaunlich gelassene Weise in diesen Kulissen. Ihnen fehlt dieser ostdeutsche Neid, der aus dem tiefen Gefรผhl entsteht, dass es den reicheren Nachbarn so viel besser geht.

Die reichen Nachbarn gibt es ja in Sรผdosteuropa nicht, auch wenn es in den Nachbarlรคndern durchaus schon etwas mehr Wohlstand gibt. Aber auch nicht fรผr alle. Hier sind die Unterschiede zwischen den Immernoch-Armen und den neuen Reichen krasser. Die einen prahlen mit ihrem Luxus, wรคhrend die anderen sich unter sichtlich rudimentรคren Umstรคnden durchschlagen und das Leben trotzdem einfach so nehmen, wie es ist.

Mittlerweile auch zutiefst enttรคuscht von der neuen politischen Klasse, die sich wenig um die Sorgen der kleinen Leute zu scheren scheint. Entsprechend heftig waren 2017 die Proteste, die auch Schreiter im Bild festgehalten hat, Hรถhepunkt der Staatskrise, die im Grunde seit 2011 anhรคlt und 2017 nicht beendet wurde. Im Gegenteil.

Das Land ist auf einem gefahrvollen Weg. Und fast versteht man die Gleichgรผltigkeit der Leute auf der StraรŸe gegenรผber den Regierenden. Denn worauf soll man noch rechnen, wenn weder Wahlen noch Proteste etwas รคndern? Und wenn die Jรผngeren eher weggehen, um sich irgendwo anders in Europa zu verdingen. Arbeitskrรคfte werden รผberall gebraucht.

Wenn Lรคnder so ausbluten, รผberaltern sie noch viel schneller und werden fรผr mรถgliche Investoren noch uninteressanter. Das Land zersplittert. Politik und Volk driften immer weiter auseinander. Sodass selbst die Stimmung so wirkt wie zum Ende des Ostblocks, jenem Zustand zwischen Es-muss-anders-Werden und Es-รคndert-sich-ja-doch-nichts. In so einem Zustand scheinen sich auch die Menschen in Schreiters Fotos eingerichtet zu haben.

Irgendwie versucht man in dieser Kargheit zu leben, sein tรคglich Brot zu verdienen. Tagsรผber wird auch Bukarest zu einer lauten und hektischen Stadt. Aber nachts zieht โ€“ wie SchweรŸinger feststellt โ€“ kleinstรคdtische Stille ein. Da sorgen nur die Leuchtreklamen der Konzerne auf den Dรคchern fรผr wechselnde Farben in der Nacht. Die Klimaanlage ist unรผberhรถrbar.

Und trotzdem bleibt da so ein Gefรผhl, dass der Spruch, der da auch werbewirksam groรŸ an der Wand steht, so falsch nicht ist, dass Bukarest etwas sichtbar macht, was uns im immer hektischer werdenden Westen abhandengekommen ist. Vielleicht einfach die Fรคhigkeit, mit dem Vorhandenen auszukommen, aus einem kargen Zustand doch etwas zu machen und das Leben mit Gelassenheit anzunehmen. Und die Verzweiflung (die in einigen Fotos durchaus Bild geworden zu sein scheint) nicht so sehr an sich herankommen zu lassen.

Vielleicht braucht man wirklich jede Menge Kraft, um wรผtend sein zu kรถnnen. Vielleicht ist es eine AnmaรŸung zu denken, dass man gegen die Machenschaften der Mรคchtigen und Nimmersatten irgendetwas ausrichten kann. Dass einen das letztlich alles nicht betrifft, das รผberall flackernde โ€žglobale Werbeesperantoโ€œ, wie es SchweรŸinger nennt. Dass es vielleicht sogar wichtiger ist, sich einfach die Zeit zu nehmen, den โ€žsomnambulen Spaziergรคngenโ€œ einer verkrรผppelten Taube zuzusehen. Also einfach mal grรผndlich herunterzukommen vom wild gewordenen Ross der Zeit.

Vielleicht ist Bukarest wirklich genau das: eine Stadt, die das gute Leben kennt. Nicht weil es die glitzernden Shopping-Malls gibt, sondern weil die meisten Menschen sich genรผgen mรผssen und Zeit und Kraft fรผr das Alltรคgliche haben. Auch wenn das der Besucher nicht entschlรผsseln kann. In diesem Fall aber eben auch weiรŸ, dass er nur Beobachter ist: โ€žVor mir lag die Stadt in ihrer ganzen Banalitรคt und Abstraktionโ€œ.

Man reist, man schaut. Man versucht die Sprache der fremden Stadt zu lesen. Heraus kommen dann so nachdenkliche Texte, wie sie SchweรŸinger schreibt. Und so dichte und manchmal ganz rรคtsellose Bilder, wie sie Marcel Schreiter gemacht hat. Eine fast traumhafte Reise in Schwarz/WeiรŸ in die โ€žCity of Good Lifeโ€œ.

Marcel Schreiter, Michael SchweรŸinger Bukarest. The city of good life, Edition Outbird, Gera 2021, 25 Euro.

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