Das war es dann wohl noch nicht. Auch wenn es 1990 so aussah, als wรผrde nicht nur die Jahresproduktion 1990 der DDR-Verlage entsorgt werden, sondern die komplette DDR-Literatur gleich mit, dรผrfte die noch so manchen Leser beschรคftigen und so manche Edel-Kritiker auf die Palme bringen. Selbst dieser eigenartige Johannes R. Becher, Kulturminister, Staatsdichter, Autor der Nationalhymne. Ein Autor, mit dem sich Jens-Fietje Dwars besonders intensiv beschรคftigt hat.

1998 schon hat Jens-Fietje Dwars die 800 Seite dicke Becher-Biografie โ€žAbgrund des Widerspruchsโ€œ verรถffentlicht, 2008 die โ€žHundert Gedichteโ€œ Bechers im Aufbau-Verlag ausgewรคhlt. Er kennt sich aus mit dem Werk des Mannes, mit dessen Hymnen Kinder in DDR-Schulen unliebsame Bekanntschaft gemacht haben. Kann man dessen Schriften รผberhaupt noch lesen?Natรผrlich. Gerade deshalb, weil dieser 1891 geborene Sohn eines Mรผnchener Staatsanwalts eine derart widersprรผchliche Gestalt ist und damit sogar typisch fรผr eine ganze Reihe Schriftsteller, die in der Weimarer Republik begannen, Erfolg zu haben und am Ende im Osten landeten โ€“ Bert Brecht genauso wie Ludwig Renn, Hans Fallada oder Anna Seghers. In ihnen reiรŸen die Widersprรผche des 20. Jahrhunderts auf.

Und so, wie man in den โ€žBuckower Elegienโ€œ einen anderen Brecht findet als in den offiziell angepriesenen Lehrgedichten, so findet man selbst in Bechers Zeit, als er zum Kulturfunktionรคr der gerade gegrรผndeten DDR wurde, Gedichte, die den Mann vรถllig anders zeigen โ€“ nicht mehr als รผberzeugten Hymnenschreiber fรผr eine glorreich siegende Sache, sondern als Melancholiker, Trauernden, Zweifler.

Es sind 25 Gedichte, die Becher im Ostseebad Ahrenshoop geschrieben hat, seinem Zufluchtsort ab 1946, nachdem er aus dem zwรถlfjรคhrigen Exil zurรผckgekehrt war. Hier schrieb er das Finale seines Buches โ€žHeimkehrโ€œ und 1948 die Notizen vom โ€žAufstand im Menschenโ€œ, die Dwars auch ausgiebig zitiert, weil sie genau jenen anderen Dichter zeigen, der so รผberhaupt nicht mit glรผhender Begeisterung in den Osten Deutschlands zurรผckkehrte, um hier an fรผhrender Stelle wirksam zu werden als Funktionรคr einer Gesellschaft, die โ€“ offiziell โ€“ mit der finsteren Vergangenheit brechen wollte.

Was auch Becher anders verstand als die verbissenen Genossen im Fรผhrungszirkel der SED. Den von ihm initiierten Kulturbund verstand er wirklich als Bund aller demokratisch und humanistisch denkenden Menschen. Wie tief die Kluft war zwischen dem Funktionรคr (der dann 1957 nach dem Schauprozess gegen Walter Janka und Wolfgang Harich physisch zusammenbrach) und dem Dichter, machen die Gedichte spรผrbar, die er in Ahrenshoop schrieb.

Dort, wo er in der rauen Ostseelandschaft das Spiel der Elemente beobachtete und spรผrte โ€“ wie er selbst schreibt โ€“ dass ihm hier die Gedichte auf einmal wie von selbst zuflogen. Als hรคtte er seine Rรผstung abgelegt, wรคre wieder fรผhlender und ganz von der Wucht des Lebens beeindruckter Mensch.

Manchmal verfรคllt er wie beilรคufig in den Rilke-Ton, wird elegisch, manchmal gar schwรคrmerisch wie Mรถrike, manchmal freilich auch gedankenschwer wie Goethe oder Shakespeare. Aber davon darf man sich nicht blenden lassen, auch wenn sich dieser Klang wegliest, als wรคre er fast beilรคufig, als wรคre das einfach nur gekonnt niedergeschriebene Naturlyrik, quasi die Ferienlyrik eines Dichters, der sich in Berlin dann wieder mit sozialistischen Hymnen quรคlen musste.

Aber selbst die stimmungsvollen Fotos, die Dwars seiner Auswahl beigegeben hat, verschieben den Lesefokus sehr stark auf Bechers unverhรผllte Begegnung mit den Elementen, der Endlichkeit des Lebens und der beeindruckenden Schรถnheit der Welt. Es ist nicht nur melancholisch, was er da schreibt. Und auch nicht wirklich verzweifelt, auch wenn einige dieser Texte sehr unverblรผmt zeigen, wie sehr er mit seinen Genossen haderte, dass da ein Bruch war, der ihn โ€“ wenigstens als Gedicht โ€“ eine regelrechte โ€žAbsageโ€œ schreiben lieรŸ, einen GruรŸ an die โ€žHoffnungslosenโ€œ: โ€žLaรŸt preisen euch, ihr kรผhnen Hoffnungslosen! / Ihr habt das Tor zum Nichtsein aufgestoรŸen! / O Blick ins ewige Reich der Nichtigkeit!โ€œ

Natรผrlich kann man sich streiten รผber den Adressaten. Sind damit wirklich seine Genossen in Berlin gemeint? Oder jene, die auch nach diesem Neubeginn wieder hoffnungslos sind, enttรคuscht von denen, die die Macht รผbernommen haben und das Land zuschรผtten mit Parolen der Hoffnung? Vielleicht ist das die richtige Interpretation, denn Becher wusste nach seiner Zeit im Moskauer Exil nur zu genau, wie gebrochen seine engsten Kampfgefรคhrten waren. Da kรถnnte genau diese Zeile der Schlรผssel sein: โ€žโ€ฆ zu Tod getroffen / Hofft ihr noch unentwegt โ€“ wie feig gehofft!โ€œ

Dass das so abwegig nicht ist, sieht man in โ€žDie Lichterโ€œ, wo er noch deutlicher wird: โ€žIhr prahlt: Wie herrlich strahlen / Scheinwerfer durch die Nacht! / Ich sage: Euer Prahlen / Hat uns kein Licht gebracht.โ€œ Es ist eindeutig eben nicht nur das Licht auf den Wellen, das er in mehreren Gedichten benennt. So wie in dem geradezu eindeutigen Gedicht โ€žIn Licht und Finsternisโ€œ.

Denn was ist das anderes als eine Abrechnung mit seinen Genossen, die er nach dem Hotel Lux nur zu gut kannte, genau jenen Funktionรคren, die nun mit diesem Moskauer Hintergrund darangehen wollten, eine โ€žneue Zeitโ€œ aufzubauen: โ€žVor ร„ngsten nรคchtlich, nichtig, wรผrdelos: / So haben wir gelebt in jenen Jahren. / Wir wuchsen auf zu einer รœbermacht / Und waren machtlos, wie wir niemals waren, / Denn keine Macht half uns vor dem Verdacht. / Ein jeder war dem anderen verdรคchtig, / Ein jeder war des andern ungewiรŸ. / โ€“ So hoch gestiegen und so niedertrรคchtig!โ€œ

Zu viel hineingedeutet? Wer weiterliest, merkt: Nein. Es ist ein Gedicht รผber einen ganz aktuellen Schrecken. Hier geht es nicht um die Nazi-Zeit. Hier geht es um die eigenen Leute: โ€žWar unsre nicht die grรถรŸte der Epochen? / Und wessen Tรผr wird heute Nacht erbrochen?โ€œ

Vielleicht war Becher wirklich der Einzige, der in diesem mit so einer Last gestarteten Neu-Land DDR solche Gedichte schreiben konnte, ohne dass in der Nacht die Tรผr zu seiner Wohnung aufgebrochen wurde.

Nur in Ahrenshoop fiel die Last von ihm ab, die Last der Loyalitรคt, die ihn in Berlin durchhalten lieรŸ โ€“ trotz aller Verdรคchtigung und Rankรผne in jenem inneren SED-Zirkel, aus dem er nach und nach verdrรคngt wurde. Indem ihn die Genossen nach seinem frรผhen Tod zum grรถรŸten Dichter der Nation ausgerufen hatten, war er politisch zwar heiliggesprochen, als Dichter aber vรถllig desavouiert. Besser konnte man den Mann gar nicht fรผr unlesbar erklรคren, als ihn auf diese perfide Art zu ehren.

Und so lasen ihn auch in der DDR nur die wenigsten. Und damit sind nicht seine offiziell gewollten Texte in den Schullesebรผchern gemeint. Johannes Bobrowski kannte seine Gedichte noch und wรผrdigte ihn, weil er in ihm wirklich einen groรŸen Dichter erkannt hatte. Christa Wolf wรผrdigte seine Tagebuchnotizen.

Und vielleicht ist es einfach an der Zeit, ihn seiner falschen Titel und Zuschreibungen zu entkleiden, sonst sieht man den Mann nicht, der immer loyal war und dennoch wusste, dass ihm das niemand gutschreiben wรผrde. Was ihn sogar krank machte. Und mรผde. โ€žMรผdeโ€œ betitelte er dann auch eins seiner kurzen Gedichte aus Ahrenshoop: โ€žMรผde bin ich alle dessen, / All der Pein, jahraus, jahrein, / Und ich will nichts als vergessen / Und will selbst vergessen sein.โ€œ

Und wer das Shakespeare-Zitat nicht รผberliest, sucht sich gleich Shakespeares Sonette aus dem Regal mit eben jenem zitierten Sonett, das Shakespeare in einer ganz รคhnlichen Situation geschrieben hat.

Und dabei entdeckte Becher gerade in Ahrenshoop jedes Mal, dass es im Leben gar nicht um Macht, Sieg und Recht haben geht. Sondern ums Menschsein und dieses Gefรผhl, das man vielleicht wirklich nur stark empfindet, wenn man sich wieder allein den Elementen aussetzt. So, wie er es in โ€žDas Einmaligeโ€œ schildert: โ€žDaรŸ einmal nur und nur ein einziges Mal / Mein Leben ist โ€“ ich muรŸ es wiederholen: / Nur einmal ist mein Leben, nur einmal, / Erkennend dies, muรŸ ich tief Atem holen โ€ฆโ€œ

Aber gerade in diesem Moment kann er tiefste Dankbarkeit empfinden โ€žfรผr dieses herrlich-eine, einzige Mal!โ€œ Es ist ein Gedicht, das sich in dieser Auswahl mit mehreren solcher Texte trifft, in denen Becher die Begegnung mit dem Unfassbaren in Verse zu fassen versucht, da und dort durchaus auch feierlich, ins Transzendente greifend.

Da kann er es zulassen, sich wieder gemeint zu fรผhlen und erkannt von einem Du, das mรถglicherweise Lilly Becher ist, vielleicht auch ein grรถรŸeres Du. Ein Moment, in dem der Zufluchtsuchende wieder Zuflucht verspรผrt. Egal, wen er damit wirklich ansprach und meinte. Die Ahrenshooper Gedichte, die Dwars hier zusammengestellt hat, zeigen von diesem Becher etwas, was auch seine Zeitgenossen in der DDR eigentlich nur zu sehen bekamen, wenn sie zu Gedichten griffen, die er eben nicht fรผr das offizielle Podium schrieb.

Aber wer den Ruf eines Nationaldichters weghat, hat es auch Jahrzehnte nach seinem Tod schwer, gelesen zu werden. Aber es lohnt sich. Gerade wenn man wissen will, wie diese Autoren aus der Frรผhzeit der DDR mit ihren Brรผchen, ร„ngsten und Einsamkeiten umgingen.

Johannes R. Becher Wolkenloser Sturm, Edition Ornament, Jena 2020, 18 Euro.

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