Immer wieder mahnt das Archiv Bürgerbewegung Leipzig: Leute, schmeißt eure Sammlungen nicht weg! Erst recht, wenn sie Bilder und Dokumente zum Wandel in Ostdeutschland beinhalten. Jetzt hat das Archiv einen kleinen Schatz bekommen: die Fotos der Leipziger Fotografin Karin Wieckhorst zu den Transformationsjahren 1990, 1991 und 1992. Über 2.000 Stück. In diesem Heft sind einige der Ereignisse exemplarisch dargestellt, die sie damals fotografierte.

Die meisten davon vergessen. Plattgemacht von öffentlichen Erinnerungsritualen, die sich an Mauerfall und Deutscher Einheit hochranken und alles, was sonst noch so passierte, schlichtweg ausblenden. Auch so werden Schicksale und Ereignisse marginalisiert. Menschen sowieso, die sich ziemlich schnell zu auswechselbaren Objekten einer Geschichte gemacht sehen, in der irgendwelche anonymen Kräfte zu wirken scheinen. Sie selbst aber spielen keine Rolle. Manchmal bis heute.Denn der gern zitierte Spruch stimmt nun einmal: Die Sieger schreiben die Geschichte. Meistens völlig gedankenlos. Sie retuschieren sie. Da müssen nicht einmal Figuren aus bekannten Fotos herausgeschnitten werden. Es passiert schon dann, wenn die Auswahl der erzählten Ereignisse immer schmaler wird, wenn der „Mauerfall“, der nun einmal kein Mauerfall war, die Ereignisse auf den Straßen Wochen vorher überblendet.

Oder die Schampuspartys zum Tag der Deutschen Einheit alles überblenden, was die letzte Regierung der DDR eigentlich getan hat im Frühjahr und Sommer 1990. Selbst die Währungsunion wird kaum noch reflektiert mit ihren heftigen Folgen, von denen Karin Wieckhorst einige abgelichtet hat.

Selbst diese kleine Auswahl zeigt, wie hart und dissonant das Jahr 1990 eigentlich war. Sie zeigt auch, dass längst schon alle Konflikte da waren, die auch heute noch den Osten zerreißen, so schwer greifbar machen, weil er einfach nicht passt. Nicht passen kann, weil er eigentlich keine Stimme hat, egal, wie sich Regionalsender wie der MDR bemühen.

Denn Faulheit siegt. Davon lebt eine Gesellschaft, die sich nicht wirklich einen Kopf machen will darüber, was da 1989/1990 tatsächlich passiert ist. Oder in den Jahren davor.

Also heißt es: sammeln, sortieren, bewahren. Und mit den Fotos von Karin Wieckhorst kam ein sehr großer Bestand ins Archiv Bürgerbewegung Leipzig. Und es sind keine Schnappschüsse oder Amateuraufnahmen. Karin Wieckhorst hat das studiert und ihre Fotos erzählen Geschichten. Manche kämen auch ohne Erklärung aus.

Aber trotzdem haben sie alle kleine Legenden bekommen, denn im Archiv Bürgerbewegung weiß man, dass man die Bilder inzwischen erklären muss. Gerade für die jüngeren Generationen, die das nicht miterlebt haben. Etwa das widerborstige Erwachen der Demokratie, das in Leipzig spätestens ab Januar 1990 ganz ähnlich dissonante Töne annahm, wie sie heute wieder zu erleben sind.

Oder immer noch, würde wohl manch Älterer sagen, der miterlebt hat, wie die alten Grabenkämpfe immer wieder neu inszeniert wurden und wie die Parteien die alten Vorurteile, Vorwürfe und Abwertungen der anderen immer neu produzierten. Hauptsache, man gewinnt die Wahlen. Wieckhorsts Bilder zeigen, mit welchen Mitteln um den Wahlerfolg in den ersten freien Wahlen im März 1990 gekämpft wurde, wie sich der Ton auf den Wahlveranstaltungen verschärfte, andererseits aber auch flacher wurde, vorwurfsvoller.

Eigentlich Stoff für eine echte Soziologie des Ostens. Die es bis heute nicht gibt. Künftige Forscher/-innen werden froh sein, wenn sie auf die Bestände des Archivs Bürgerbewegung zugreifen können. Dort finden sie Material, das vieles erklärt von dem, was seitdem passiert ist – oder auch nicht.

Wofür auch der Auftritt Helmut Kohls vier Tage vor der Wahl auf dem Augustusplatz steht, obwohl die Leipziger Parteien eigentlich eine Wahlruhe vereinbart hatten. Aber der große Pfälzer wusste, wie man überwältigt. Und so zeigen auch diese Bilder, dass die deutsch-deutsche Überwältigung zwei Seiten hat: eine selbstgefällige und eine verbissene.

Aber 1990 passierte ja noch mehr, als dass 300.000 DDR-Bürger auf dem Augustusplatz (Karl-Marx-Platz) Helmut Kohl zujubelten. Denn das Jahr ist nicht ohne Grund auch ein Gründungsjahr für zahlreiche Vereine, Initiativen, Unternehmen und auch Medien. Man begleitet Karin Wieckhorst in die neu gegründete Connewitzer Verlagsbuchhandlung, zur „Zaunreiterin“ und zur „Leipziger Anderen Zeitung“ (DAZ).

Man sieht die zum Verschenken aufgestapelten Bücher in den LKG-Räumen, erlebt Judy Lybke, in dessen Galerie Karin Wieckhorst ihre ersten Ausstellungen hatte. Man sieht Neo Rauch und Olaf Nicolai in ihren jungen Jahren. Das Neue war genauso gegenwärtig wie das vorwurfsvolle Alte. Die einen begannen ihr Leben in Frust, die anderen starteten durch und zeigten, was in dem heruntergewirtschafteten Leipzig eigentlich immer schon dagewesen war an Kreativität und Umsetzungslust.

Auch hier wird der enge Fokus der höheren Geschichtsbetrachtung sichtbar. Denn meistens werden aus diesem Sommer nur die Schlangen vor den Sparkassen gezeigt, als es um das neue Geld ging, oder die fliegenden Teppich- und Autohändler (die auch Karin Wieckhorst abgelichtet hat). Aber vergessen wird, wie gerade das kulturelle Leben damals brodelte, wie sich Leipzigs Kultur- und Klubhäuser verwandelten und auf einmal überall etwas los war. Als wären gerade die kreativen Menschen jetzt endlich befreit.

Wer nicht dabei war, kann sich das nicht mehr vorstellen. Es hat mit dem heute kommerzialisierten Leipzig nur noch wenig zu tun. Es war, als hätten die Leipziger/-innen ihre Stadt zurückbekommen. Übergangsweise. Bis die neuen Besitzer gefunden wären, die ja bekanntlich nicht lange auf sich warten ließen.

Und so taucht man mit Karin Wieckhorst auch in die Welt der besetzten Häuser ein, erlebt die Rettung des Café Maitre mit, die ersten Ladengründungen und ersten Straßenmärkte, die Ankunft der Videotheken und die schnelle Entwertung der alten Statussymbole Trabi und Wartburg. Volle Spermüllcontainer vor den Häusern erzählen davon, wie viele Menschen bereit waren, die Vergangenheit gründlich zu entsorgen. Und manche Ecke, die sich die Bewohner direkt an der Straße „wohnlich“ eingerichtet hatten, findet man heute nur noch fein säuberlich hinter einem hohen Zaun mit kurzgeschorenem Rasen.

Der Band passt sogar in diese Corona-Zeit, in der wir ja nun praktisch seit einem Jahr sämtliche Veranstaltungen mit großen Menschengruppen vermissen und regelrecht spüren, wie sehr uns das fehlt, einfach mit Gleichinteressierten zusammenkommen zu können, egal, ob zu Lesungen, Konzerten, Galerieeröffnungen. Damals waren solche Veranstaltungen ja noch voller und niemand musste sich fürchten, sich anzustecken, wenn es in engen Clubräumen oder Foyers richtig zur Sache ging und das Publikum wirklich noch mitdiskutiert hat. Das vermissen wir ja alles schon viel länger.

Corona sieht irgendwie nur wie die Steigerung eines schon länger anhaltenden Verlustes an öffentlichen Räumen und Begegnungen aus. Deswegen frustrieren die Fotos eigentlich auch nicht, auch wenn der Zustand der Stadt, die Karin Wieckhorst 1990 fotografiert hat, geradezu deprimierend ist. Davon sieht man heute nichts mehr. Die Häuser sind sämtlich so sauber saniert, dass niemand mehr auf die Idee käme, darin „illegale“ Galerien, Läden oder Klubs aufzumachen. Verschlossen sind sie sowieso. Auch das wäre ein Forschungsprojekt: Wo sind die damaligen Bewohner geblieben?

Viele haben ja Leipzig in den nächsten zehn Jahren verlassen, andere hatten Erfolg – so wie Judy Lybke oder Neo Rauch. Wieder andere verschwanden einfach oder verloren die Kraft, immer weiter gegen Windmühlen zu kämpfen. Andere sind in Ehren ergraut und haben etwas zu erzählen. Ihre Erinnerungen sammelt das Archiv ja in Zeitzeugeninterviews.

Die Herausgeber des Bandes erinnern auch daran, dass Karin Wieckhorst spätestens seit 1964 wichtige Ereignisse in der Leipziger Geschichte mit der Kamera abgelichtet hat – von der Beatdemo angefangen über die Sprengung der Paulinerkirche bis zu den Entwicklungen vor der Friedlichen Revolution. Und es ist dieser letztlich dokumentarische Blick, der auch ihre Bilder aus dem prägnanten Transformationsjahr 1990 auszeichnet, das gerade viele jüngere Leipziger/-innen als ein Jahr der offenen Möglichkeiten erlebten, so offen, wie es später nie wieder war.

Was übrigens auch nachdenken lässt über das, was Menschen unter Freiheit wirklich verstehen. Wenn das einer mal untersuchen würde, würde er erstaunlich Widersprüchliches zu hören bekommen. Und andererseits auch ein wenig verstehen, warum die Freiheit, die damals viele DDR-Bürger wählten, eine völlig andere ist, als sie in diesem „kurzen Jahr der Anarchie“ für viele junge Menschen lebbar war. Freiheit hat immer etwas mit Chancen und Freiräumen zu tun. Ein Dauerthema in der prosperierenden Stadt Leipzig, die mit der Prosperität viele Freiheiten eingebüßt hat.

Worauf man nur alles kommt, wenn man mit Karin Wieckhorsts Blick in dieses Jahr 1990 schaut. Das muss erzählt werden, noch viel öfter und eindringlicher als bisher. Sonst versteht man einfach nicht, warum sich Ost und West bis heute nicht wirklich verstehen und heftig aneinander vorbeireden. Denn Geld ist nicht der allein selig machende Maßstab, was eigentlich viele in diesen ewigen Corona-Lockdowns gespürt haben dürften.

Gesellschaft beginnt tatsächlich erst, wenn Menschen gemeinsam anfangen, Träume Wirklichkeit werden zu lassen und wenn sie sich dazu treffen können – selbst in engen Räumen mit Mobiliar vom Sperrmüll und einer provisorischen Bar in der Ecke. An Orten, wo man wieder reden lernt miteinander. Und nicht nur übereinander.

Eigentlich schon komisch, was für eine Faszination dieses Jahr 1990 in sich birgt, wenn man sich an die Farben erinnert, die diese Schwarz-Weiß-Fotografien nur ahnen lassen.

Uwe Schwabe, Saskia Paul (Hrsg.) „Zwischen den Zeiten. Der Wandel 1990/1991 – fotografisch dokumentiert von Karin Wieckhorst“, Archiv Bürgerbewegung Leipzig, Leipzig 2021.

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