Früher waren Kinderbücher entweder total niedlich oder grässlich pädagogisch. Das hat sich gründlich geändert, denn gerade Verleger/-innen und Autor/-innen haben längst gelernt, dass Kinder viel offener sind für eine oft widerborstige Wirklichkeit als die meisten Erwachsenen, die sich der Realität so gern verweigern. Zum Beispiel der Tatsache, dass schreckliche Krankheiten zum Leben der Menschen gehören. Wirklich schreckliche Krankheiten.

Da musste gar nicht erst die Corona-Pandemie um die Welt jagen, dass die Hamburger Autorin Birte Müller sich des Themas annahm. Sie lebt in Hamburg, hat das Kinderbuch „Planet Willi“ veröffentlicht und selbst Kinder. Und wer Kinder im neugierigen Alter hat, weiß, wie beharrlich die Kleinen nachfragen. Sie wollen alles wissen. Und zwar richtig. Und wenn sie die Erklärungen nicht verstehen, fragen sie nach, bis Mama oder Papa endlich so erklären, dass man es versteht.Was ja eigentlich auch ein Problem unserer Medien ist. Den meisten Journalist/-innen und Moderator/-innen ist gar nicht mehr bewusst, wie selbstverständlich sie die technokratischen Phrasen von Politikern aber auch Wissenschaftlern übernehmen und verwenden, ohne das Thema selbst begriffen zu haben. Gute Lehrer/-innen kennen das Phänomen ebenfalls.

Deutsche Schulbücher sind gespickt mit solchen Sätzen, die eigentlich in aller Trockenheit verhindern, dass die Kinder überhaupt begreifen, worum es geht. Man lernt die Formeln auswendig, um sie bei der Prüfung genau so wieder auszuspucken. Aber die wilden Diskussionen im Corona-Jahr haben ja nur zu deutlich gezeigt, wie viele Menschen gar nicht begreifen, was da passiert und was die Experten da jeden Tag erzählen.

Also hat sich die Buchillustratorin Birte Müller diesmal nicht hingesetzt, um lustige Bilder über schlimme Krankheiten zu malen. Die Bilder im Buch stammen von Yannick de la Pêche. Sie sind zwar kindgerecht – aber nicht lustig. Denn da gibt es nichts zu verniedlichen. Und wahrscheinlich werden sich Kinder, die dieses Buch in die Hände bekommen, auch ganz schrecklich gruseln, ekeln, schaudern – manchmal freilich auch lachen. Denn Birte Müller erklärt einige der schlimmsten Krankheiten, die die Menschheit in ihrer Geschichte heimgesucht haben, anschaulich und mit einer lockeren, sehr jugendlichen Sprache.

Da werden Viren, Bakterien, Maden und Würmer schon mal als Gesocks bezeichnet, was ja ernsthafte Mediziner nie tun würden. Aber es hilft, Dinge verständlich zu machen, die man sich sonst nicht wirklich vorstellen kann. Und die man sich nach einem eher schematischen Biologieunterricht in der Schule auch nicht vorstellen kann. Denn Lehrbuchschreiber haben in der Regel keine Phantasie.

Sie wissen meist nicht, wie man den neugierigen Kleinen erzählen kann, dass unser Körper aus lauter kleinen Zellen besteht, die alle zusammenarbeiten, und gleichzeitig von einem unendlichen Heer winziger Lebewesen besiedelt ist, die auf unsere Haut oder in unserem Darm leben und ohne die wir nicht leben könnten. Noch dominiert auch in Schulbüchern eher die Vorstellung von einer funktionierenden Maschine.

Nicht die eines ganzen lebendigen Planeten, in dem die eigenen Zellen mit diesen nützlichen kleinen Bakterien und Pilzen zusammenwirken. Sie bilden eine Schutzschicht. Sie helfen bei der Verdauung. Und sie sind eigentlich auch überall rings um uns. Und die kleinen Leser/-innen erfahren, dass das eigentlich nichts Schlimmes ist. Denn das verbindet uns mit unserer Umwelt. Unser Organismus hat damit gelernt umzugehen. Und wenn das Gleichgewicht stimmt, wird unser Immunsystem auch mit gefährlichen Krankheitserregern fertig. Und zwar meist so, dass wir gar nichts davon merken.

Wir merken es erst, wenn dieses sensible Gleichgewicht aus den Fugen gerät – zum Beispiel durch Parasiten und Erreger, die eigentlich nichts im menschlichen Organismus zu suchen haben, sondern eher im Wasser leben, in und auf Fledermäusen, Ratten oder Flöhen. Viele der Krankheiten, die Birte Müller hier porträtiert, sind echte Zivilisationskrankheiten, wurden erst zur Plage für den Menschen, als er begann, auf engstem Raum in Dörfern und Städten mit anderen Menschen und Haustieren zusammenzuleben und dabei noch keine Ahnung hatte von Hygiene.

Wir können uns kaum noch vorstellen, wie es in mittelalterlichen Städten gestunken hat, ja selbst noch im 19. Jahrhundert in den meisten deutschen Städten, die noch keine Kanalisation und kein sauberes Trinkwasser hatten. Die großen Seuchen der Vergangenheit, die oft Millionen Menschen hinwegrafften, fanden in diesen ungesunden Lebensbedingungen den idealen Verbreitungsweg.

Und es ist nicht ganz unwichtig, dass man es den Kindern, die das alles nicht kennen, trotzdem erzählt. Denn viele dieser Krankheiten werden ja nicht nur durch winzige Erreger wie Viren oder Bakterien ausgelöst, sie waren oft noch weit ins 20. Jahrhundert allgegenwärtig. Und das heißt: Die Großeltern haben das oft alles noch erlebt. Genauso wie sie erlebt haben, wie zum Beispiel Massenimpfungen dafür gesorgt haben, dass wirklich schreckliche Krankheiten wie Masern, Tollwut, Tuberkulose, Pocken oder Kinderlähmung in unserer Gesellschaft fast zum Verschwinden gebracht wurden.

Birte Müller erzählt nicht nur, welche Winzlinge diese Krankheiten ausgelöst haben, sondern auch von den Forschern und Forscherinnen, die im 19. Jahrhundert die Mittel entdeckt haben, wie man dieser Plagen Herr werden konnte. Sie erzählt aber auch, warum die Ärzte im Mittelalter so seltsame Mittel anwendeten, die überhaupt nicht funktionierten, und warum Bakterien und Viren so spät entdeckt wurden und so spät erkannt wurde, dass sie es waren, die bestimmte Krankheiten auslösten.

Aber richtig gruselig ist natürlich, wenn Birte Müller schildert, was diese Krankheitserreger im Körper auslösen und wie sie die Menschen verunstalten, weil sie den Körper regelrecht zerstören. Manche ganz schnell, in einem erschreckenden Tempo wie die Pest, der die Menschen des Mittelalters hilflos gegenüberstanden, manche sehr langsam wie die Lepra.

Manche Krankheiten hatten aber auch mit fehlenden Vitaminen zu tun – so wie die Seefahrerkrankheit Skorbut. Andere haben mit Würmern und anderen Parasiten zu tun, die sich im menschlichen Körper ansiedeln, wenn schmutziges Wasser getrunken oder schlechtes Fleisch gegessen wird.

Und manche wird man einfach nicht wirklich los, weil sich die Erreger immer wieder verändern – so wie bei der Grippe, von der man ja schon wusste, dass es Jahre mit leichten Grippeverläufen gibt und Jahre, in denen tausende Menschen an der Grippe sterben. Und das Coronavirus verhält sich ja ganz ähnlich wie das Grippevirus – nur dass es deutlich tödlicher ist.

Und eigentlich war es in Birte Müllers Buch gar nicht eingeplant, dass sie ja eigentlich zu schreiben begonnen hatte, um den Kindern zu erzählen, wie sehr auch wirklich schlimme Krankheiten zur Geschichte der Menschen gehören und wie kluge Menschen Wege gefunden haben, sie nach und nach in den Griff zu bekommen. Was wirklich oft nur heißt „in den Griff kriegen“, denn gegen manche Krankheiten gibt es eben (noch) keine endgültigen Mittel.

Vielleicht werden sie mal gefunden – etwa eine wirklich dauerhafte Impfung gegen die Grippe. Aber da Birte Müller so schön schildert, wie die winzige Lebewesenwelt auf und in unserem Körper funktioniert, ahnt man auch so ein bisschen, dass das mit dem Traum von der endgültigen Beseitigung der Krankheiten wohl eine Utopie ist. Denn schon heute haben wir ja massive Probleme mit Antibiotika, weil viele Bakterien längst Resistenzen ausgebildet haben, weil wir viel zu viele Antibiotika verwenden – und zwar nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren.

Und immer wieder springen Viren, die eigentlich in wilden Tierpopulationen zu Hause sind, auf den Menschen über, dessen Immunsystem damit oft erst einmal völlig überfordert ist. Das ist ja bei SARS-COV-2 der Fall. Und in einem Kapitel geht Birte Müller auch auf die psychischen Störungen ein, die Menschen völlig aus der Bahn werfen, manchmal einfach ausgelöst durch Erlebnisse, die den Betroffenen völlig überfordert haben.

Und die Kinder, die das Buch lesen oder sich vorlesen lassen, lernen Stück für Stück, dass es vielleicht ganz gut ist zu verstehen, dass wir Menschen nicht in einer klinisch reinen Welt leben, sondern Teil von etwas viel Größerem sind, das wir meistens gar nicht sehen. Überall ist winziges Leben. Und Gesundheit bedeutet ja am Ende eigentlich nur, dass man im Einklang damit lebt und das eigene Immunsystem stark genug ist, jeden winzigen Störenfried in den Griff zu bekommen.

Man denkt über Gesundheit ein bisschen anders nach, als es einem Werbung oft beibringen will. Denn gegen die meisten Krankheiten helfen keine Präparate, Vitaminpillen oder sonstigen Medikamente. Viel wichtiger ist das, was man so beiläufig Hygiene nennt, die unsere Städte in den vergangenen 100 Jahren deutlich gesünder gemacht hat. Wie wichtig regelmäßiges Händewaschen ist, damit man sich nicht irgendwelche gefährlichen Bakterien ins Gesicht schmiert, erzählt Birte Müller natürlich genauso genüsslich wie die Sache mit den schmutzigen Socken und dem Gemüse in der Brotdose.

Eltern, die ihren Kindern klarmachen wollen, warum sie so auf bestimmten Dingen beharren, die die Kleinen gar nicht so mögen, haben hier jede Menge Argumente. Aber die besten Argumente sind wirklich die Schilderungen, in denen Birte Müller erzählt, was passieren kann, wenn man die Regeln einfach ignoriert.

Und weil manche Dinge tatsächlich nicht leicht zu begreifen sind, hat sie auch noch ein kleines Glossar geschrieben, in dem sie sehr anschaulich erklärt, was es mit Antibiotika, Pandemien und Infektionen auf sich hat. Früher hätte wohl manch mahnender Pädagoge gesagt: Das verstehen die Kleinen doch noch nicht.

Aber Kinder sind neugierig. Und Birte Müller erzählt all das so lebendig, dass die meisten Kinder mit offenem Mund dabeisitzen werden und staunen. Denn diese Welt der Winzlinge sieht man ja nicht. Dabei ist sie genauso aufregend wie der große Kosmos, wenn sie einem so anschaulich erzählt wird. Bis hin zum Zickenkrieg zwischen Koch und Pasteur.

Wissenschaftler sind eben auch nur Menschen, die zutiefst gekränkt sind, wenn ein anderer ebenfalls mal Beifall bekommt. Dabei ist das Wichtigste an ihrer Forschung, dass wir alle was gelernt haben dabei und unsere Medizin viel besser geworden ist, sodass heute auch die meisten Ärzte wissen, wovon sie reden. Und auch wissen, was man tun kann, wenn doch mal einer dolle krank wird.

Man ahnt nur noch, wie wenig die Menschen früher über die Krankheiten tatsächlich wussten. Deshalb starben sie eben oft auch wie die Fliegen und wurden nicht so alt wie wir heute.

Natürlich ist das Buch nur eine Auswahl wirklich fieser Krankheiten, betont Birte Müller. Aber es sind wirklich die wohl schrecklichsten dabei, die noch vor einigen Jahrzehnten die Menschen tatsächlich in Angst und Schrecken versetzt haben. Kein Vergleich mit der Corona-Pandemie, in der die Menschheit schon vieles viel besser macht als etwa bei der Spanischen Grippe vor 100 Jahren. Nicht überall. Stimmt. Aber gerade da, wo sich Regierungschefs wirklich doof stellen, ist die Sache ja richtig aus dem Ruder gelaufen.

Bei uns lief es etwas besser – auch weil eben viele Eltern wissen, worauf man möglichst achten sollte. Und viele Großeltern können sich noch daran erinnern, wie schlimm es früher war. Das muss man einfach immer wieder erzählen. Denn wer das nicht weiß, weiß auch nicht, was wirklich geholfen hat und warum auch gerade Impfungen ein ganz wichtiger Teil der Lösung waren. Und auch bei Corona sein werden, dieser Pandemie, die auch Birte Müller überraschte, als sie gerade über diesem Buch saß. Aber weil die neue Pandemie nun mal da war, hat sie auch ihr Kapitel bekommen.

Birte Müller Wie krank ist das denn?, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2021, 15 Euro.

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