Eigentlich heißt Rocco ja gar nicht Rocco, sondern Bertie. Wie halt so ein kleiner Bruder heißt, der aus seinen Gefühlen kein Hehl macht, immer kurz vor Drama ist und natürlich wie ein richtiges Kind bekleckert von den Abenteuern des Lebens. Deswegen nannte ihn Alan MacDonald auch Dirty Bertie. Was sich natürlich im Deutschen nicht so gut sagen lässt.
Und so wurde vor vielen, vielen Jahren aus dem kleinen Rabauken Bertie der Rocco Randale im Klett Kinderbuch Verlag, der nun zwölf dieser von David Roberts illustrierten Bücher herausgebracht hat. Das englische Original hat es inzwischen auf 33 Bände gebracht, was ja ein Leichtes ist, wie die Eltern solcher Rabauken wissen. Wobei die kleinen Helden gar nicht mal besonders wilde Gesellen sein müssen.Solche Dinge, wie sie Bertie alias Rocco passieren, gibt es im Leben kleiner Jungen am laufenden Band. Eigentlich gibt es überhaupt keine Tage, an denen nicht irgendetwas Schreckliches passiert und der kleine Mann an die Grenzen seiner Gemütsruhe kommt. Oder einfach Blödes passiert, sodass der kleine Mensch in eine hochgradig peinliche Lage gerät. Obwohl …
Eigentlich sind ja doch meistens die Erwachsenen schuld daran, dass es peinlich wird. Sie merken es nur meistens nicht mehr und tun so, als wäre alles bestens in Ordnung. Wie diese komische Fluggesellschaft Air Sparnis, mit der Roccos Familie in der zweiten Geschichte in diesem Buch in den Urlaub fliegt – und das, wo Roccos Vater doch so viel Flugangst hat, was man eher in den Zeichnungen von David Roberts sieht als im Text liest.
Aber es ist unübersehbar. Und man kann ihn nur zu gut verstehen, wenn er nach diesem Flug, auf dem ein kleiner neugieriger Junge einen Feueralarm ausgelöst hat, ausruft, nie wieder mit dem Flugzeug zu fliegen, auch nicht mit dieser Fluggesellschaft.
Man kann es ihm so gut nachfühlen. Und hat so nebenbei einen kleinen Aha-Moment: Kann es sein, dass all die Leute, die so „cool“ herumfliegen in der Welt, sich falsch benehmen? Und gar nicht mehr begreifen, dass sie es sind, die eigentlich närrisch sind und die Absurdität des Herumfliegens gar nicht mehr sehen können?
Ganz ähnlich geht es einem mit der dritten Geschichte im Buch, in der die Lehrerin Frau Schreck-Schraube die Kinder im überhitzten Klassenzimmer dursten lässt und Rocco und seine Freunde in der Pause logischerweise einen Weg suchen, jetzt irgendwie heimlich an Eis zu kommen, wo doch der Eisverkäufer gleich vor dem Schultor seine Verlockungen verkauft?
Ob er selbst so einen kleinen chaotischen Sohn hat, verrät Alan MacDonald auf seiner Homepage nicht. Aber vielleicht hat er das ja auch selbst erlebt damals an der Watford Fields Junior School. Genauso wie diese panische Angst vorm Zahnarzt, die der kleine Rocco in der Titelgeschichte durchlebt. Und auch hier hat man das seltsame Gefühl, dass es eigentlich die Älteren sind, die sich falsch benehmen und die Ängste des Jungen eher noch bestärken, als sie ihm zu nehmen.
Was einem doch sehr vertraut ist, dieses „Hab dich nicht so“ oder „Indianer kennen keinen Schmerz“, Sprüche, mit denen am Ende gefühllose Ochsen erzogen werden, aber natürlich keine Männer, die Gefühle zeigen können. Unsere Gesellschaft mit ihrem herumwabernden Paternalismus ist genau deshalb so wie sie ist. Kinder werden am Ende zu den Abbildern dessen, was Erwachsene aus ihnen zu machen versuchen. Manchmal auch zu Zerrbildern.
Denn eigentlich erzählen diese drei Rocco-Geschichten davon, wie ein kleiner Junge irgendwie versucht, mit den Sprach-Losigkeiten der Erwachsenen umzugehen. All dem, was sie nicht sagen, weil sie aus irgendeiner dummen Erwartungshaltung heraus annehmen, dass Kinder das bitteschön schon zu wissen haben.
Man kringelt sich zwar beim Lesen der Geschichten und möchte vor Lachen unter den Tisch kullern – aber es ist ein Lachen mit einem Beigeschmack. Denn mit Rocco erlebt man natürlich, wie sich das anfühlt, wenn Erwachsene stets erwarten, dass man alles schon kann und perfekt funktioniert. Und sie dann regelrecht beleidigt sind, wenn das Kind „seine Lektion noch nicht gelernt hat“.
Deswegen passt die Schulgeschichte so gut. Denn sie erzählt ja von dieser nun wirklich angelernten Scham erwischt zu werden. Würde Frau Schreck-Schraube nicht solche Ängste verbreiten, weil sie denkt, die Kinder mit einem derart strengen Regiment zum Parieren bringen zu müssen, würde ein Junge wie Rocco gar nicht erst in so peinliche Situationen geraten und sich am Ende heimlich in die Schule schmuggeln müssen.
Denn mal ehrlich: Ein ziemlich großer Batzen von Erziehung ist eigentlich Erziehung zum Nicht-erwischt-Werden. Es steckt tief in unserer Gesellschaft. Es steckt auch im Staatsdenken und in dem, was eine Menge Leute tagtäglich als Ordnung und Sicherheit vorexerzieren. Natürlich aus einem erwartbaren Grund: Sie wurden genau so erzogen. In ihnen allen steckt ein solcher zurechterzogener Rocco, in jedem einzelnen deutschen Innenminister. Sie können gar nicht anders denken über die Motive all der kleinen Dirty Berties, sie müssen davon ausgehen, dass sie genauso zur Heimlichkeit erzogene Jungen sind wie sie selbst. So gehen sie auch mit anderen Leuten und Ländern um. Genau so.
Auch wenn Roccos Abenteuer beim Zahnarzt noch einmal gut ausgeht. Der will ihn wirklich nicht umbringen. Der ist ängstliche Patienten sogar gewohnt. Weswegen es sogar erwachsene Menschen geben soll, die gerade deshalb gern zum Zahnarzt gehen – weil sie hier endlich mal einen vertrauenswürdigen Menschen treffen, der ihre Angst akzeptiert und annimmt.
So gesehen auch ein ganz normales Jungen-Leben, das Eltern durchaus zum Nachdenken bringen sollte. Auch gern Großeltern und Geschwister. Denn die harsche Art, mit den ehrlichen Gefühlen kleiner und großer Menschen umzugehen, wurde zumindest noch vielen in Alan MacDonalds Generation anerzogen. Ob es den nachfolgenden Generationen besser ging, können nur die Jüngeren einschätzen. Aber was man so mitbekommt von der mobbenden Mitwelt, verheißt nichts Gutes.
Und gerade die „Heiß mit Eis“-Geschichte lässt zumindest vermuten, dass unsere Schule dabei keine besonders rühmliche Rolle spielt, auch dann, wenn die Kinder von griesgrämigen Schreck-Schrauben verschont werden. Denn das Schäm-dich-Programm ist schon im permanenten Vergleichen und Bewerten enthalten. Und es ist zur Matrix unserer von Elitenwahn besessenen Gesellschaft geworden. Jedes einzelne Bewertungsportal im Internet funktioniert so, das Body-Shaming genauso wie die römische Daumen-Geste auf Facebook.
Es ist erstaunlich. Denn von all dem erzählt MacDonald natürlich nichts. Er erzählt ja nur lauter sehr flotte Abenteuer aus Roccos Leben, scheinbar ganz einfache Dinge, die jedem Jungen passieren, jeden Tag. Mit all den Gefühlskatastrophen, die sowieso passieren und alles nur noch chaotischer machen und sich fest einbrennen fürs Leben. Oder würde MacDonald das sonst derart emotional und mitreißend erzählen können? Es muss ja irgendwo sitzen, jederzeit wieder abrufbar, wenn man dann selbst kleine Jungen zu bändigen hat.
Nur dass man dann meistens erst merkt, dass man sich in dem kleinen Wirbelwind „leider“ wiedererkennt. Leider mit Gänsefüßchen, weil man dabei was lernen könnte über sich. Zum Beispiel die Geduld mit dem Leben, das einem im Pressvorgang der „Bildung fürs Leben“ aberzogen wurde. Weil diese Welt ja nichts so sehr verachtet wie Menschen, die nicht perfekt funktionieren.
Das ist noch keine Heilung. Stimmt. Denn die meisten großen Leute wollen ja nichts mehr wissen davon, dass sie mal klein und verzweifelt waren. Sie wählen deshalb auch immerzu Typen, die ihnen in ihrer Gefühllosigkeit ähneln, in alle entscheidenden Ämter. Leider. Für die Sensiblen wird damit jede Wahl zu einer Enttäuschung, einem neuen nassen Waschlappen im Gesicht.
Ich führe das nicht weiter aus. Das wird auch Alan MacDonald in den vergangenen Jahren genau so erlebt haben. Denn die Leute, die sich so um die Ämter und Posten balgen, lesen ihren Kindern keine Dirty-Bertie-Geschichten vor. Weshalb man diese Bücher eigentlich nur empfehlen kann – und zwar allen Eltern mit kleinen Jungen.
Nehmt die Kleinen einfach mal ernst. Dann wird es zwar immer noch solche wilden Abenteuer geben. Aber ihr werdet sie ein bisschen besser verstehen, diese kleinen Rabauken, die ihr immer so gern zu „harten Kerlen“ erziehen wollt oder zu „ordentlichen Menschen“, die ihre Gefühle „zähmen“ und einen nicht mit Fragen behelligen. Die nicht rumzappeln, dazwischenquatschen oder „Unfug“ anstellen.
Stellt Rocco eigentlich „Unfug“ an? So gefragt, könnte man es auch umdrehen und fragen: Was stellen denn eigentlich all diese „harten Kerle“ an, die ihr in die großen Ämter gewählt habt? Tut mir leid. Wenn es drauf ankommt, bin ich lieber in der Bertie-Rocco-Partei, aber nicht bei euch, ihr Ordentlichen und Unfehlbaren. Garantiert.
Alan MacDonald Rocco Randale. Zoff mit Zahnarzt, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2021, 10 Euro.
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