Den entscheidenden Begriff findet man auf Seite 126. Da hat der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel schon ausfรผhrlich und hochemotional geschildert, wie es in deutschen Staatsanwaltschaften aussieht, nachdem sie einer nun รผber 20 Jahre anhaltenden Rosskur unterzogen wurden. In Berlin ist manches noch viel schรคrfer. Denn dort hieร der Rosskurdoktor Thilo Sarrazin.
Der hat nicht nur Hartz-IV-Empfรคngern rotzfrech vorgemacht, wie man von ihrem mageren Tagessatz aus SPD-Senator-Sicht รผppig speisen kann, er hat auch den kompletten Berliner Staatsapparat zum Einsparen verdonnert โbis es quietschtโ.Er war mit dieser Philosophie nicht allein. Vor 20 Jahren hat fast die komplette SPD diesen radikalen Seitenwechsel vollzogen. Damals auch noch gefeiert mit einer europaweiten Neujustierung der Sozialdemokratie unter dem Label โThe Third Wayโ, niedergeschrieben im Schrรถder-Blair-Papier. Eine einzige Kapitulationserklรคrung der Sozialdemokratie vor dem Ansturm des Neoliberalismus, dessen zentrales Mantra in Phrasen steckt wie โSteuern runterโ, โSchwarze Nullโ, โNeuverschuldungsverbotโ, โSchlanker Staatโ.
Und wer meint, nur Berlin hรคtte diese rigiden Einsparmaรnahmen in allen Bereichen des Staatsapparates erlebt, der darf sich auch alle sรคchsischen Statistiken zu Gemรผte fรผhren. Wir haben immer wieder darรผber geschrieben, wohin diese Besessenheit vom verschlankten Staat gefรผhrt hat โ vom massiven Lehrermangel รผber die heruntergesparte Polizei bis zum in die รberlastung gesparten Justizapparat.
Womit wir zum Stichwort von Seite 126 kommen. Es lautet PEBBยงY. In der L-IZ schrieben wir zum letzten Mal darรผber im Jahr 2014. Da waren alle fatalen Folgen dieses seit 2005 bundesweit implantierten Systems der Justiz-Verschlankung in Sachsen offenkundig geworden. Allerenden war das Fehlen von Richtern und Staatsanwรคlten offenkundig geworden, die Gerichte und Staatsanwaltschaften schoben immer grรถรere Berge unbewรคltigter Fรคlle vor sich her (genauso wie die heruntergesparte Polizei). Und wรคre es nach dem damaligen sรคchsischen Finanzminister gegangen, wรคre das auch noch in den Folgejahren genauso weiterpraktiziert worden.
Die riesigen Lรผcken vor allem beim qualifizierten Personal sind bis heute nicht wirklich geschlossen. Und das eigentliche Drama kommt in Sachsen genauso wie in Berlin noch auf uns zu: All die ab 1990 in einem groรen Neustart eingestellten Richter/-innen und Staatsanwรคlt/-innen werden in den nรคchsten zehn Jahren in den Ruhestand gehen. Und an deutschen Hochschulen werden nicht ansatzweise so viele exzellente Juristen ausgebildet, dass diese neu aufreiรenden Lรถcher gestopft werden kรถnnten.
Wenn also selbst brutalste Kriminalfรคlle erst nach Jahren und manchmal รผberhaupt nicht vor Gericht landen, hat das genau damit zu tun. Und PEBBยงY ist kein Zufallsprodukt, sondern steht symptomatisch fรผr die Kapitulation der gewรคhlten Politik vor den Drรผckerkolonnen des Neoliberalismus. Das betrifft nicht nur die SPD.
Auch die Minister/-innen von CDU, CSU und FDP begannen seitdem, immer mehr originรคre Regierungsaufgaben auszulagern und damit externe Beratungsgesellschaften zu beauftragen. Und das fรผr wachsende Millionenbetrรคge im dreistelligen Bereich.
Im Fall des Justizwesens beauftragte man die Wirtschaftsprรผfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC), die dann mit PEBBยงY ein Instrument vorlegte, das die Arbeit der Staatsanwaltschaften und Gerichte in auf die Minute genau portionierte Fallpauschalen (im Gesundheitswesen ist ja genau dasselbe passiert) zerhackstรผckte und damit das Tayloristische Flieรbandsystem auf einen Bereich รผbertrug, in dem รผberhaupt nichts immer gleich ist.
Jeder Fall hat einen vรถllig anderen Arbeitsaufwand. Die Finanzminister und -senatoren nahmen diese direkt aus der BWL stammende Effizienzrechnung und bestimmten danach nicht nur die neue (schlanke) Personalstรคrke in Gerichten und Anwaltschaften, sondern auch den Aufwand fรผr IT, Hilfskrรคfte, Bรผroausstattung, Gebรคudesanierung.
Mit den Ergebnissen, die heute deutschlandweit zu besichtigen sind und die Knispel in seinem Buch detailliert und zutiefst frustriert schildert. Denn diese โรkonomisierung der Justizโ fรผhrt genau zu den fatalen Erscheinungen, die seit einigen Jahren das Vertrauen in die deutsche Justiz rapide schwinden lassen.
Man denke nur an den rechtsradikalen รberfall auf Connewitz im Jahr 2016, dessen letzte Fรคlle jetzt erst vor Gericht kommen. Da lachen sich nicht nur die Gewalttรคter ins Fรคustchen, die mit deutlich milderen Strafen rechnen kรถnnen.
Da schmilzt die Motivation der Richter und Staatsanwรคlte wie Schnee in der Sonne. Denn von der von Innen- und Justizministern gern beschworenen Schlagkraft des Staates bleibt da nicht viel รผbrig. Selbst Mehrfachintensivtรคter bleiben jahrelang auf freiem Fuร, weil es ohne Urteil auch keine Strafe gibt.
Knispel schildert sehr anschaulich, wie Staatsanwaltschaften eigentlich arbeiten, auch wenn er natรผrlich meist seine Berliner Erfahrungen schildert. Aber man darf sich zu Recht an ganz รคhnliche Verhรคltnisse in Sachsen erinnert fรผhlen โ an Prozesse, die erst Jahre spรคter in Gang kommen, an den seltsamen Versuch, die Gerichte zu entlasten, indem der Generalstaatsanwalt die scheinbaren Bagatelldelikte bevorzugt abgearbeitet sehen wollte, an unbehelligt agierende kriminelle Netzwerke, fรผr deren Aufklรคrung das Personal fehlte, an nicht vollstreckte Urteile oder die elend langen Straftatenlisten von kleinen sรคchsischen Nazis, die erst einkassiert wurden, als sie bei Anschlagsplanungen ertappt wurden.
Vieles bekommt die รffentlichkeit gar nicht mit, weil es in den Medien nicht thematisiert wird โ sei es die schlechte Ausstattung mit IT, das Nicht-Funktionieren angeschaffter Software, fehlende Raumkapazitรคten bis hin zu nicht verfรผgbaren Verhandlungssรคlen. Oder Entlassungen von Straftรคtern aus der Untersuchungshaft, weil es die Staatsanwaltschaft nicht schafft, rechtzeitig eine Anhรถrung anzusetzen.
Knispel macht am Ende seiner recht vehementen Analyse eine ganze Liste mit Dingen auf, die getan werden mรผssten, um die deutsche Justiz wieder zuverlรคssig arbeitsfรคhig zu machen. Natรผrlich geht es um Geld. Und niemand kann erzรคhlen, dass die Justiz nicht finanzierbar ist. Das hat vor dem psychologischen Zugriff des neoliberalen Denkens ja auch geklappt und angehende Juristen waren damals stolz, wenn sie in den Staatsdienst รผbernommen wurden.
Mittlerweile aber wandern sie zu Tausenden in die Wirtschaft ab, wo sie dann oft genau den Unternehmen, die immer wieder Steuersenkungen und Einsparungen beim Staat fordern, dabei helfen, Gesetzeslรผcken massiv zu ihrem Vorteil auszunutzen.
Lรคngst ist auch ein Effekt eingetreten, den Knispel mit groรer Sorge betrachtet: das schwindende Vertrauen der Bรผrger in die Justiz. Denn wer genug Geld hat, hat auch alle Zeit der Welt, seine Anliegen vor Gericht bis zum glorreichen Ende auszufechten. Wer sich teure Anwรคlte leisten kann, hat beste Chancen, mit einem Urteil zu seinen Gunsten davonzukommen.
Wรคhrend bei den nichtbetuchten Bรผrgern zunehmend der Eindruck entsteht, dass Deutschland eine Zwei-Klassen-Justiz hat, bei der der, der sich keine teuren Anwรคlte leisten kann, der Gelackmeierte ist. Was mutmaรlich auch dazu fรผhrt, dass viele Kleindelikte gar nicht mehr angezeigt werden, weil es dem bestohlenen Ladeninhaber oder Fahrradbesitzer gar nichts nutzt, wenn der Fall dann doch liegenbleibt, egal, ob bei der Polizei oder bei der Staatsanwaltschaft.
Was รผbrigens auch direkt ablesbar ist an Aufklรคrungsquoten, die von Bundeslรคndern mit besserer Ausstattung bei Polizei und Justiz deutlich hรถher sind als in den รคrmeren Bundeslรคndern, die nur zu gern die Heilsversprechen der โรkonomisierung des Staatesโ geglaubt haben. Die รถkonomischen Folgen dieses Heruntersparens sind viel gravierender.
Da geht es auch nicht nur um die direkten Schรคden, die Bรผrgern und Unternehmen entstehen. Es geht auch um den gravierenden Vertrauensverlust in den Staat und damit der Demokratie. Denn wenn der Staat das Recht nicht mehr garantierten kann (oder will), geht auch der Respekt fรผr Polizei und Justiz in die Binsen. Dann verbreitet sich eher das Gefรผhl, dass Recht kรคuflich ist in Deutschland.
Was einen natรผrlich auch noch auf andere Gedanken bringt, da ja nun alle mรถglichen Kommentatoren behaupten, die Demokratie selbst sei Ursache dafรผr, dass immer mehr Menschen ihr Heil in Populismus und Radikalismus suchen.
Aber nie erwรคhnen sie die fatalen Wirkungen des neoliberalen Denkens, das ja nicht nur in der FDP zu Hause ist, sondern auch die sogenannten Volksparteien gekapert hat. Bis hin zu den fatalen Parlamentsbeschlรผssen, das Verschuldungsverbot in die Verfassungen zu schreiben. Ganz so, als wรคren unsere Parlamente nichts anderes als der verlรคngerte Arm groรer Konzerne, die dem Staat mit ihrer Macht diktieren, wie viel er eigentlich nur kosten darf. Wer glaubt, all das wรผrden die Bรผrger nicht mitbekommen, muss schon gewaltige Scheuklappen vor den Augen haben.
Am Ende nennt Knispel einige Zahlen, die ungefรคhr beschreiben, was es zur Reparatur der Justiz in Deutschland braucht. Die 220 Millionen Euro aus dem Pakt fรผr den Rechtsstaat sind ein erster zaghafter Schritt zur Reparatur. Aber um die Schรคden wirklich auszugleichen, brauche es eher die Summe, die die Grรผnen-Vorsitzende Annalena Baerbock genannt hat: 4 Milliarden Euro in den nรคchsten zehn Jahren.
Dass das kein Geld ist, haben ja die Bettelbriefe groรer deutscher Konzerne in der Coronakrise gezeigt. Was Knispel natรผrlich nicht beleuchtet, ist die Frage der kompletten Unterfinanzierung unseres Staatswesens. Denn รคhnliche Lรถcher sind ja auch an Hochschulen, in den Schulen, bei der Polizei, in Haftanstalten und bei anderen staatlichen Aufgabengebieten entstanden. Das heiรt: Auch das deutsche Steuersystem muss wieder repariert werden, nachdem es unterm Getrommel der Lobbyverbรคnde โverschlanktโ wurde.
Was schwierig werden wird, denn das neoliberale Denken sitzt mittlerweile fest in den Kรถpfen vieler gewรคhlter Entscheider. Aber mit seinem reich mit Zahlen und Beispielen gespickten Buch zeigt Knispel, was dieses falsche Denken allein in deutschen Staatsanwaltschaften und Gerichten angerichtet hat, wie es eine einst stolze Justiz geradezu zahnlos gemacht hat und die unter รberlastung arbeitenden Anwaltschaften und Richter alleinlรคsst mit der unlรถsbaren Frage, wie sie mit dieser viel zu dรผnnen Personaldecke die wachsenden Fallzahlen รผberhaupt bewรคltigen sollen.
Da werden dann viele Staatsanwaltschaften regelrecht zu โEinstellungsbehรถrdenโ, weil sie die Fรคlle schlicht nicht mehr in den gesetzlich vorgegebenen Zeitrรคumen abwickeln kรถnnen. Straftรคter kommen straffrei auf freien Fuร und geschรคdigte Bรผrger warten oft Jahre (vergeblich) auf eine Wiedergutmachung.
Ob der โRechtsstaat am Endeโ ist, wie der Untertitel suggeriert, ist eher die Frage, die jetzt unsere Parlamente klรคren mรผssen. Denn nur sie kรถnnen die Staatsfinanzen wieder so reparieren, dass die wichtigsten Sรคulen des Rechtsstaates ausreichend finanziert sind. Wer den Staat so demoliert, wie es die neoliberalen Sparminister getan haben, hat eine ziemlich groรe Aktie daran, dass das Vertrauen in unseren Staat derart zerstรถrt wurde.
Und auch daran, dass selbst รผberzeugte Juristen dann doch lieber nicht als Staatsanwalt oder Richter anfangen. Es sind Vertrauens- und Ansehensverlust, die den Rechtsstaat aushรถhlen, stellt Knispel fest. Und er betont deutlich genug, wie elementar ein gut funktionierender Rechtsstaat fรผr die Demokratie ist, die eben nicht von rechtsradikalen Populisten unter Beschuss genommen wurde, sondern von neoliberalen Verschlankungs-Spezialisten unter Direktberatung privater Konzerne, denen ein funktionierender Staat immer egal war, eher sogar lรคstig.
โDie herrschenden Verhรคltnisse erlauben kein weiteres Zuwartenโ, schreibt Knispel. โDenn mit jedem Tag der Untรคtigkeit lรคuft der Rechtsstaat Gefahr, weiter zu erodieren.โ
Ralph Knispel Rechtsstaat am Ende, Ullstein Buchverlage, Berlin 2021, 22,90 Euro.
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