Am Ende weiß man es nicht so recht: Ist sie nun gescheitert? Gestrandet? Hat sie sich aufgegeben? Hat sie ihre Glasglocke verlassen? Denn Lux sitzt allein in der Wüste. Irgendwo jenseits von Las Vegas. Ohne Geld, ohne Rucksack. Endet hier ihr großer Versuch, auf einer Reise quer durch die USA wieder gesund zu werden? Oder wenigstens wieder Mut zum Leben zu finden? Oder sind die USA der denkbar schlechteste Ort, um sich selbst wiederzufinden, wenn man sich verloren hat?
Oder haben wir es generell mit dem Problem einer jungen Generation zu tun, die sich in einer zunehmend entleerten Gegenwart nicht mehr orientieren kann, keinen Halt mehr findet und selbst bei der Flucht in die Wildnis scheitert, weil es auch dort keine Zuflucht mehr gibt?Immerhin ein im Buchprogramm von Voland & Quist immer wieder auftauchendes Thema, wenn man etwa an Sebastian Lehmanns „Parallel Leben“, Tereza Semotamovás „Im Schrank“, Ziemowit Szczereks „Sieben“ oder auch Volker Surmanns „Extremly Cold Water“ denkt. Als könnten die jungen Leute, die da nach dem Umbruchjahr 1989 herangewachsen sind, einfach keinen Platz mehr finden in einer Welt, in der nur noch das Geldmachen zählt, das Schicksal der (jungen) Menschen aber niemanden mehr interessiert. Außer, es lässt sich vermarkten und wieder zu Geld machen.
Als wäre mit dem Zusammenbruch des dualen Weltsystems auch der Sinn abhandengekommen. Als wäre nichts so deprimierend wie eine Welt, in der sogar Gut und Böse beliebig werden, weil alles nur noch danach geht, ob einer sich gut verkaufen kann oder nicht.
Und noch eine Frage tut sich auf in Olivia Kuderewskis erstem Roman: Kann es sein, dass diese Welt Menschen psychisch krank macht, ihnen die Grundlagen ihrer Persönlichkeit entzieht und damit verantwortlich ist für die um sich greifenden seelischen Belastungen, unter denen die Bewohner dieser sinn-entleerten Welt leiden?
Denn der Mensch braucht so eine Sinnstiftung. Aber Geld allein kann sie nicht geben. Und selbst die alten Märchen vom Land der unendlichen Möglichkeiten lösen sich auf wie Tau in der Sonne. Schon die erste Szene zeigt uns die Heldin Lux, wie sie – völlig erschöpft von der Reise – am Times Square in New York auf der Treppe nahe am Denkmal für Father Francis P. Duffy sitzt und dem Mann zusieht, der hier jeden Morgen die Stufen wischt. Den Mann kennt sie von der Webcam. Mit seinem rhythmischen Arbeiten hat er ihr oft genug beim Einschlafen geholfen.
Dass Lux eine Psychotherapie hinter sich hat, erfährt man früh. Auch, dass der Tod ihres Freundes Leon dabei eine Rolle spielte. Mit Tabletten ist sie jetzt einigermaßen stabil, auch wenn man sich natürlich fragt: Was für ein Wagnis geht sie da trotzdem ein, ganz allein in die USA zu fliegen und den ganzen Kontinent durchqueren zu wollen? Spätestens nach dieser Szene mit dem Treppenputzer, der sich durch ihr Ausharren nur in seiner Arbeit gestört fühlt. Dieses rätselhafte Amerika begrüßt Lux ganz und gar nicht rätselhaft, sondern eher überfordert.
Auch die Fahrerin es Greyhound-Busses, in dem Lux dann Kat kennenlernt, mahnt die Fahrgäste eindringlich, sie einfach ihren Job machen zu lassen. Denn genau so wird ja ein Land, in dem Arbeit „optimiert“ und „rationalisiert“ wird. Alles Zwischenmenschliche löst sich auf. Jeder sieht nur noch, dass er irgendwie über die Runden kommt. Logisch, dass Lux eigentlichen keinen Kontakt findet.
Und auch das mit der weißblonden Kat, die fortan ihren Weg Richtung Westen begleitet, hat eher nichts mit Kennenlernen zu tun. Eher ist es eine seltsame Abhängigkeit, die zwischen den zwei jungen Frauen entsteht, die beide ihre psychotherapeutischen Erfahrungen gemacht haben. Doch daraus erwächst kein Verständnis, auch wenn Lux – von Kat herausgefordert – dann in großen weißen Lettern an die Scheiben des stillgelegten Bahnhofs von Detroit KATILOVEYOU schreibt.
Hoppla, sagt man sich da beim Lesen: Hat man da was verpasst?
Hat man aber nicht. Eher war diese ebenso alleinreisende Kat wie ein Rettungsanker für die einsame Lux, die gerade im menschenentleerten Detroit mit ihrer eigenen Einsamkeit konfrontiert war. Und die auch wieder ihre Flashbacks hat. Da wirken Kats Herausforderungen fast wie eine Hardcore-Therapie nach dem Muster: Man muss sich seinen Ängsten stellen und sie geradezu herausfordern, sonst wird man sie nie los.
Nur dass sich diese Mutproben im Verlauf der Reise ziemlich schnell radikalisieren. Auf eine Weise, bei der einem selbst als geruhsamer Zeitgenosse schwindelig wird. Denn eigentlich treibt diese unberechenbare Kat, von der sich Lux ziemlich spät eingesteht, dass sie sie in Wirklichkeit gar nicht kennt, ihre Begleiterin immer mehr in eine Situation, in der sie nicht mehr Herrin ihres Tuns ist. Teilweise scheinbar nach dem Rezept, man müsse alle Sicherheiten hinter sich lassen, erst dann wäre man wirklich frei. Volles Risiko.
Aber wer kann sich eigentlich volles Risiko leisten in dieser Welt? Lux jedenfalls nicht. Die viel zu spät merkt, dass diese Reisebegleiterin eigentlich nicht fähig ist für ehrliche Gefühle, Vertrauen schon gar nicht. Vielleicht auch, weil ihre seelischen Verletzungen Folgen hatten, die letztlich nicht kalkulierbar sind. Aber es scheint noch etwas anderes auf.
Denn indem sich Lux ausgerechnet an die impulsive und letztlich undurchschaubare Kat hängt, wird ja einer der Gründe sichtbar, warum in dieser gefühlsentkernten Gegenwart so viele junge Menschen sich selbst verlieren. Denn außer ihrer daheimgebliebenen Freundin Charlie scheint sich niemand wirklich für Lux und ihr Wohlbefinden zu interessieren. Wenn alles ökonomisiert wird, gehen auch die Beziehungen der Menschen vor die Hunde.
Auch wenn Lux ja scheinbar gut versorgt ist und mit ausreichendem finanziellen Puffer nach Amerika geflogen ist. Aber Vertrauen kann man sich mit Geld nicht kaufen. Und es werden so einige dienstbare Geister einfach gekauft von Lux’ Geld. Und schon gar nicht schafft Geld Selbstvertrauen, das, was Lux augenscheinlich fehlt. Und das man auch nicht künstlich schafft, indem man irre Wetten abschließt und Dinge riskiert, die man aus Selbstschutz sonst niemals riskiert hätte.
Statt also tatsächlich aus ihren Mustern und ihrem alten Leben auszubrechen (von dem wir nicht wirklich viel erfahren), reproduziert Lux eigentlich genau diese alten Muster. Nur dass jetzt nicht Leon derjenige ist, der die Gefahren ignoriert, sondern Kat, die am Ende wohl auch merkt, wie leicht sich diese nach Vertrauen suchende Lux manipulieren lässt.
Aus der Suche nach sich selbst wird eine Fluchtgeschichte. Nur dass sie in eine immer schnellere Abwärtskurve mündet, in der Lux dann keine Kontrolle mehr hat über das, was ihr passiert. Das gelobte Land wird also ganz und gar nicht zum Ort der Erfüllung. Man kann sich drin verlieren. Und gerade das entvölkerte Detroit steht ja geradezu für dieses gleichgültige Amerika, das sofort zur Geisterkulisse wird, wenn sich dort kein Geld mehr verdienen lässt.
Und irgendwie wird man dabei auch das Gefühl nicht los, dass Lux hier den Regen mit der Traufe getauscht hat, dass sie in diesem auf Drogen und Video-Clicks gesetzten Amerika eigentlich nur wieder dasselbe erlebt, was ihr schon daheim in Deutschland keinen Halt gegeben hat. Keinen festen Punkt, an dem sie sich hätte festklammern können.
Wo aber sucht man nach einem Sinn und einem Faden im Leben, wenn man in eine Zeit geworfen ist, in der Gefühle allerorten ignoriert werden und nur noch zählt, was einer sich kaufen kann? Denn genau so ent-wertet und entkernt ist unsere Gesellschaft ja inzwischen. 1989 hat man, wie es aussieht, das Kind gleich mit dem Bade ausgekippt, die Utopie mit einer falschen Illusion. Und den Gott an die Stelle der Träume gesetzt, der alles Mögliche verspricht, nur keine Nähe, kein Vertrauen und kein Verständnis.
So gesehen ist auch Olivia Kuderewskis Roman eigentlich ein Flucht-Roman. Einer aus einer Welt ohne Wärme in eine Welt, in der der Eigennutz nicht einmal mehr von Wärme träumt und auch Love und Friendship zu billigen Markenartikeln geworden sind. Wir haben uns eigentlich, so könnte man meinen, die amerikanische Krankheit eingefangen. Und immer mehr junge Menschen leiden unter ihr und wissen nicht, wie sie da rauskommen sollen, da ja auch ihre Eltern ratlos sind. Auch die Eltern von Lux, was sie als Gleichgültigkeit erlebt. Und damit wohl auch als Nicht-Gewolltsein.
Da hilft auch eine Flucht am Ende nicht. Nicht mal nach Amerika. Oder gerade deshalb nicht.
Keine leichte Lektüre, gerade für Leser/-innen, die eigentlich in jedem Buch auch ein bisschen Hoffnung suchen. Oder wenigstens so etwas wie ein halbes Happy End, bei dem man am Ende hoffen kann, dass die Gestrandete am Straßenrand aufgelesen wird von einer hilfreichen Seele.
Aber wo sollen hilfreiche Seelen in einer Welt herkommen, in der jeder ausgelacht wird, der nicht nur an sich selbst denkt? So gesehen ist das Buch auch ein Hilferuf. Nicht der erste aus dieser jungen Autor/-innen-Generation. Wir sind alle auf einem falschen Weg. Das wenigstens sollte einmal festgestellt werden.
Olivia Kuderewski Lux, Voland & Quist, Berlin und Dresden 2021, 22 Euro.
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