Verlage locken einen ja nur zu gern auf falsche Fรคhrten, schon allein damit, dass sie gleich mal haufenweise Zitate von mehr oder weniger bekannten Lese-Leuten mitschicken, die das Buch schon vor Verรถffentlichung gelesen haben und enthusiastisch anpreisen. Wobei ein wenig Enthusiasmus fรผr Matthias Jรผglers zweiten Roman durchaus nicht fehl am Platz ist. Aber bitte sehr dosiert, also skandinavisch-ostdeutsch unterkรผhlt.
Das mit dem Skandinavischen hat Antje Rรกvik Strubel in den Ring geworfen. Sie spricht von einer an โskandinavischem Erzรคhlen geschultenโ Stimme. Und es stimmt auch, wobei sicher jeder an andere Autoren aus Skandinavien denken wird. An Lars Gustafsson etwa, der eine thematisch verwandte Geschichte geschrieben hat: โDoktor Wassers Rezeptโ.Oder an Per Christian Jersild, der mit โInsel der Kinderโ 1980 wohl als erster diesen deutlich unterkรผhlten Tonfall in die das Biografische auslotende Romanerzรคhlung eingebracht hat. Ein Buch, das seinerzeit auch in der DDR fรผr eine gewisse Aufmerksamkeit gesorgt hat, wo man die skandinavische Literatur erstaunlich aufmerksam verfolgte.
Und die DDR wetterleuchtet in Jรผglers Roman, dem eine wahre Begebenheit zugrunde liegt: das Schicksal eines Malers, dem die Stasi so รผbel mitspielte, dass er sich, als er 1994 seine Stasi-Akte gelesen hatte, das Leben nahm. Denn alle die Schicksalsschlรคge, die ihn in den 1980er Jahren getroffen hatten, waren keine Schicksalsschlรคge gewesen, sondern ganz รผble Anschlรคge, die tatsรคchlich darauf zielten, den Mann zu zermรผrben.
Das verrรคt das Buch freilich nicht. Was gut ist. Auch wenn man es ahnt, spรคtestens, wenn Jรผgler fotokopierte Dokumente in seinen Text setzt, die wie echte Ablichtungen aus Stasi-Unterlagen aussehen. Dokumente, die der Erzรคhler der Geschichte, der biografisch so einiges gemeinsam hat mit dem Autor, letztlich auf einer sehr spontan angesetzten Fahrt nach Norwegen in die Hand bekommt.
Dorthin aber reiste er, weil ein alter Brief, adressiert an seinen Vater, ihm die Chance zu erรถffnen scheint, den Vater wiederzufinden, der ihn eines Tages einfach bei der Oma abgeliefert hatte ohne ein Wort der Erklรคrung und dann verschwunden war.
Das kann man als dramatische Geschichte erzรคhlen, wie es schon viel zu oft geschehen ist. Aber darum geht es Matthias Jรผgler nicht, der 1984 in Halle geboren wurde und heute als Autor und Lektor in Leipzig lebt. Auch wenn er es selbst anders interpretiert. Man kommt ja so schlecht heraus aus den allgemeinen Stereotypen รผber die DDR und die Sicht auf Tรคter und Opfer. Zum Glรผck hat er nicht schon wieder so eine Geschichte geschrieben. Denn das ist โ so seltsam das klingen mag โ nur die kleinere Wahrheit รผber die Tragรถdie des deutschen Ostens.
Die beschreibt dieser Johannes, der eigentlich angekommen ist im Leben als gut bezahlter Verwaltungsangestellter, tatsรคchlich sehr eindringlich, wenn er nach seiner Norwegen-Reise endlich anfรคngt, all das aufzuschreiben, was er weiร รผber seinen Vater, seine Oma und die eigene Kindheit.
Und Matthias Jรผgler ist als Autor eines sehr wohl bewusst: Wir wissen nichts, egal, wie schรถn wir uns unser eigenes Leben zurechterzรคhlt haben und wie beharrlich andere Leute uns immer wieder erzรคhlen, โwie es wirklich warโ. Das ist das, was Antje Rรกvik Strubel mit ihrem Verweis auf die skandinavische Literatur andeutet: Wir leben in Interpretationen und versuchen all dem, was wir erlebt haben, einen Sinn zu geben, der es uns leidlich ermรถglicht, das Erlebte fรผr uns zu ordnen.
Was aber passiert eigentlich in einer Gesellschaft, in der das Schweigen nicht nur Gold war, sondern oft lebensnotwendig? Wir werden ja auch mit lauter Bรผchern รผberschwemmt, in denen uns frohlockende Helden immerfort versichern, sie hรคtten damals am Familientisch frei von der Leber weg reden kรถnnen und alles sowieso durchschaut. Also quasi echte Widerstandskรคmpfer von Windel an.
Aber Jรผgler lรคsst seinen Erzรคhler Johannes Wagner so nicht aufwachsen. Und spรคtestens, als er seine spรคtere Frau Katja kennenlernt, fragt man sich als Leser: Kann es sein, dass die meisten Menschen so aufwachsen und dass auch all jene, die immer felsenfest behaupten, sie wรผssten alles รผber ihre Eltern und ihre Kindheit, irren? Vielleicht unabsichtlich. Vielleicht in dem drรคngenden Wunsch, dazugehรถren zu wollen und keine Schwรคche zu zeigen, wo doch alle anderen auch immer fest davon รผberzeugt sind, alles richtig zu wissen?
Denn ohne Grund finden sich die beiden nicht โ der schweigsame Junge aus Halle, der gelernt hat, wie man die Studienkollegen zum Lachen bringt und akzeptierter Teil der Gruppe wird, und die letztlich genauso verschlossene Studentin aus der westdeutschen Provinz, deren Eltern รผberhaupt keine Gefรผhlsregung zeigen, als sie Johannes kennenlernen.
Ist das also ein deutsch-deutsches Problem?
Ich vermute mal: ja. Nur wird den einen ihre Vergangenheit zum Vorwurf gemacht. Was die Last nur noch erhรถht. Auch deshalb sucht Johannes nun endlich Klarheit, merkt aber schon auf der Suche, dass er diese Klarheit nie finden wird. Und auch seinen Vater nicht, der nicht nur an dem Tag kein Wort der Erklรคrung hatte, als er den 13-Jรคhrigen bei der Oma ablieferte. Als wรคre das abgesprochen. Doch auch die Oma erzรคhlt nichts, auch wenn sie sich rรผhrend um den Jungen kรผmmert.
Und irgendwann ist der Zeitpunkt verpasst, zu fragen. Oder es gibt keine Antwort auf die Fragen. Was Johannes nicht neu ist, denn so ging es ihm seit dem Tag, an dem seine Mutter ihn nicht vom Kindergarten abholte. Auf einmal musste er mit dem wortkargen Vater allein zurechtkommen und sich irgendwie zusammenreimen, was geschehen sein kรถnnte und warum die Berge von Papier auf seinem Schreibtisch irgendwie wichtig sein kรถnnten. So wichtig, dass ihn der Vater mit zwei Wochen Schweigen straft, als der Junge das Arbeitszimmer des Vaters aus lauter Tatendrang aufrรคumt.
Dass dieser Vater auch ein lebenslustiger und weltoffener Mensch gewesen sein kรถnnte, das erfรคhrt Johannes erst, als er in Norwegen die Stasi-Akte in die Hand bekommt, aus der er auch endlich erfรคhrt, wie seine Mutter zu Tode kam.
Doch bis dahin ist es ein langer Weg, auf dem Johannes immer dann, wenn er konkrete Fragen stellt, ins Leere lรคuft. Auch bei Vaters altem Freund Wolfgang, dem einzigen aus dem Freundeskreis des Vaters, der den Jungen รผberhaupt ernst nahm und sich mit ihm unterhielt. Und dessen Rolle er auch erst spรคt versteht. Man ahnt, warum Johannes zeitlebens Probleme hat, sich auf andere Menschen einzulassen, รผber Gefรผhle zu sprechen und รผberhaupt konkret zu werden mit seinen Fragen. Denn irgendwann verinnerlicht das ein Mensch, wenn er das von Kindheit an erlebt: โFrag nicht!โ Oder noch ausweichender: โFrag lieber nicht.โ
Irgendwann reagiert der Mensch dann selbst mit Ausflรผchten, so wie Johannes, wenn er gefragt wird, ob alles in Ordnung ist. โWas soll denn schon sein?โ
Ganz so, als seien seine Sorgen und Probleme nicht wichtig, nicht der Rede wert. Denn die haben damals im Kindergarten niemanden interessiert und auch nicht zu Hause mit diesem schweigsamen Vater, der nicht mal auf die Frage des Kindes antworten kann: โWo ist Mama?โโ
Aus Selbstschutz? Aus tiefster Verletzung? Das Kind ahnt nicht einmal, was fรผr eine Wunde es aufreiรt, als es โ wie einst die Mama โ trรถstend sagt: โDas wird schon wieder.โ
Es wird aber nicht. Und auch der Zeitenbruch 1990, den Jรผgler motivisch vรถllig ausspart, รคndert nichts. Schon gar nicht am Schweigen dieses Vaters, der irgendwann einfach den Umzug des Jungen organisiert und dann verschwindet. Auf eine โDienstreiseโ, die nicht mehr endet. Dass die Lรถsung etwa mit dem schlimmsten Verrat zu tun hat, kann man ja verraten. Das bietet Jรผgler dem Leser wie eine kleine Kriminalgeschichte an.
Aber dieser Johannes begreift irgendwann, dass er trotzdem keine Antworten auf all die Fragen bekommen kann, die ihn sein Leben lang schon begleiten und immer wieder schlaflose Nรคchte bereiten. Eigentlich bestรคtigt ihm die Fahrt nach Norwegen nur, dass das Verlassensein nicht enden wird. Und dass er damit auch nicht allein ist. Der Buchtitel trรคgt ja nicht ohne Grund die Mehrzahl.
Und gerade weil man in Johannesโ Rolle schlรผpft, bekommt man ein Gespรผr dafรผr, wie sich eine Gesellschaft anfรผhlt, in der รผber die eigenen verletzten Gefรผhle nicht gesprochen wird / werden darf. Und dass diese Gesellschaft eben nicht einfach endet, wenn mit groรem Jubel eine Mauer umgestoรen und schnellstens eine Einheit zusammengeflickt wird, die bis heute ihre Brรผche nicht verleugnen kann. Denn diese Brรผche stecken tief in der Seele, im Unausgesprochenen und in falschen Beschwichtigungen: โDas wird schon wieder.โ
Nein, wird es eben nicht, wenn den alten Schweigegeboten neue Sprechverweigerungen und Hรถrverweigerungen folgen. So schafft man kein Vertrauen und keine Nรคhe. Und an Johannes zeigt es Jรผgler ja sehr eindrucksvoll, wie sich das Schweigen in Distanz verwandelt, die eigentlich ein permanentes Misstrauen in den Augenblick und selbst in die nรคchsten Menschen ist. Denn da fragt sich nicht nur das verlassene Kind: Trรคgt diese Beziehung eigentlich? Oder werde ich wieder im Stich gelassen?
Johannes wรคhlt da lieber die Flucht und die Trennung. Und natรผrlich die Einsamkeit. Denn eines hat er ja in all dem Schweigen โgelerntโ: Dass man alle Fragen am Ende allein mit sich ausmachen muss und dass einem die anderen einfach nie die Antwort geben werden, die man eigentlich sucht. Und dass es deshalb auch nie eine ehrliche Antwort geben wird.
Da fragt man sich durchaus: Was macht das mit einer ganzen Gesellschaft, in der das vererbt wurde, stillschweigend, mit ausweichenden Antworten wie diesem โDas wird schon wiederโ. Als wรผrde irgendetwas groรes Anonymes die Dinge und das Leben wieder in Ordnung bringen und alles wรคre gut.
Und das scheint nicht nur ein Problem dieser schweigsamen Ostdeutschen zu sein, die vielleicht sogar zu Recht das Gefรผhl haben, dass ihnen sowieso wieder keiner zuhรถren mรถchte. Dass sie das doch wieder alles allein mit sich abmachen mรผssen und ansonsten nur dankbar zu sein haben.
In einer scheinbar ganz kleinen, fast novellistischen Geschichte, ahnt man das viel grรถรere Schweigen, das in diesem gesamtdeutschen Gelรคrme nur nicht so auffรคllt, weil ja doch irgendwie alle mรถglichen Leute immerzu etwas Endgรผltiges und Unumstรถรliches zu sagen haben รผber das so herrlich Gemeinsame, das erst bei genauerem Hinschauen zersplittert in lauter kleine Sprachlosigkeiten und sรคuberlich versteckte Einsamkeiten. Wer wird denn einsam sein, wenn alle so verdammt frรถhlich sind? Lass den Kopf nicht hรคngen. Das wird schon wieder. Ganz bestimmt.
Matthias Jรผgler Die Verlassenen, Penguin Verlag, Mรผnchen 2021, 18 Euro.
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