Noch ist Lockdown. Draußen herrschen Frost und Schnee. Da lohnt sich der Griff ins Buchregal. Da kann man nämlich weiterlesen, wenn man sich mit diesem Schelmenroman von Veronika Götze in Stimmung gebracht hat. Denn „Schellingers Welt“ gehört in eine große deutsche Romantradition. Auch, wenn einem das Deutschlehrer so nie verraten würden. Keine Romanform ist typischer für Deutschland als der Schelmen- und Taugenichtsroman.
Vergessen Sie Faust und den „Mann ohne Eigenschaften“, den ganzen „breitgetretenen Quark“ (Goethe), den einem die Pädagogen der „Dichter und Denker“-Schule seit 150 Jahren versuchen anzudrehen als das, was man gelesen haben muss. Als liefe durch die deutsche Literatur eine Demarkationslinie, die noch viel strenger ist als die zwischen U- und E-Musik. Als wäre der arme Michel verdammt dazu, immerfort nur schwermütige dicke Wälzer zu lesen, in denen der Autor (alles Männer) seine Leser mit gedankenschweren Erörterungen zu beeindrucken versucht.Und von den Kritikern können wir ganz und gar schweigen, die uns diese Zentnerlasten als Kanon des zu Lesenden versuchen anzudrehen. Als wenn die Deutschen nicht mal im Reich der Gedanken Spaß haben dürfen, aufatmen dürfen und sich freilesen dürfen von der allerorts herrschenden Ordnungsphilisterei.
Womit wir schon beim Thema wären, mittendrin in der Gedankenwelt Joseph von Eichendorffs, dessen Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ zur schönen Ahnenreihe von Veronika Götzes Buch über den gescheiterten Elektronikstudenten und ewigen Frauenliebhaber Johann Sebastian Schellinger gehört.
Nebst Dutzenden anderen Romanen deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in dieser Romanform oft mit herrlicher Freude am listigen Spiel die ganzen ernsthaften Welt-Geist-Themen der säuerlichen Gegenwart und Vergangenheit gegen den Strich bürsteten und damit vor allem eines zeigten: Geschichte ist nichts als ein Zufallsprodukt. Und sein Glück findet der Mensch nimmermehr, der den eingefahrenen Gleisen folgt oder es mit Brachialgewalt zu packen versucht. Das Glück findet die Unbeschwerten, Gedankenlosen und Unbekümmerten.
Wer es nicht begriffen hat, hätte es spätestens mit Thomas Brussigs „Helden wie wir“ 1995 lesen können, der aus dem Stoff der jüngeren deutschen Geschichtsstolperei den ersten einschlagenden Schelmenroman über das deutsch-deutsche Hingewurstel von 1989/1990 geschrieben hat. Denn das vergessen all diese Denkmalsbauer und weihevollen Erinnerungsapostel immer wieder, dass der sogenannte Mauerfall nichts war als eine Verhaspelung, ein Moment, in dem die Geschichte den Händen der Steuermänner entglitt und zur Farce wurde. Und wer noch immer glaubt, danach sei es anders abgelaufen, der hat echt die falschen Wälzer gelesen.
Die deutsche Geschichte ist voller Tragik. Und der größte Teil erzählt davon, dass die Männer am Steuerruder in der Regel nicht wussten, wohin sie wollten und was am Ende dabei herauskommt. Seltsam, aber über diesen politischen Dilettantismus hat bis heute noch niemand ein Buch geschrieben.
Es wäre ein Buch voller peinlicher und seltsamer Stellen – von „unser Demel sitzt in Memel“ bis zum „Kanzler der Einheit“. Von den Dilettanten der Gegenwart ganz zu schweigen. Nur: Das sieht der gewöhnliche Zuschauer nicht, der sich zwar höhnisch auf der Fernsehcouch echauffiert über die Politiker im Glotzkasten, die ihm so ernsthaft präsentiert werden wie ein deutscher Entwicklungsroman.
Aber gerade die Ernsthaftigkeit, mit der unsere konservativen Großmedien diese Politik inszenieren, verstellt den Blick darauf, dass man es tatsächlich nur mit Laienschauspielern zu tun hat, die oft nicht mal eine Ahnung haben von dem, was sie da tun und anrichten.
Aber: Genau das ist typisch deutsch. Narrentum in ernsthafter Pose. Gern auch mit Wagnerschem Bombast. Und da nahmen sich die Deutschen hüben und drüben nie etwas. Weshalb es auch nicht überrascht, dass auch ostdeutsche Schriftsteller immer wieder freudig zum Modell des Narrenromans griffen, um die erlebte Welt der stocksteif agierenden Laiendarsteller zu konterkarieren.
Wobei es immer zwei Sichtlinien gab – um wieder auf Eichendorffs „Taugenichts“ zu kommen. Denn auch der Schelmenroman lebt von der Sehnsucht nach etwas – und zwar einer widersprüchlichen Sehnsucht. Das eine ist die Sehnsucht nach einer heilen Welt, die nur zu gern in der Vergangenheit gesucht wird. In seinem Festhalten am idealisierten Früher wird der Taugenichts zum romantischen Helden.
Die ganze deutsche Romantik steckt in dieser Eichendorffschen Novelle, ihre ganze mystifizierende Sehnsucht nach einer heilen Welt aus der Erinnerung. Und trotzdem wird ausgerechnet dieser romantische Schwärmer zum Außenseiter, zum nicht integrierten Element, weil er Standesgrenzen ignoriert und die Verhältnisse stört.
Und J. S. Schellinger ist nicht die Bohne anders, auch wenn er im ostdeutschen Leipzig zur Welt kommt als Sohn eines begnadeten Orgelspielers und einer gebildeten Mutter (die ihren Frust darüber, ihre Bildung nicht in eine Karriere umsetzen zu können, an ihrem ungeliebten Erstgeborenen auslässt), der dann in Dresden aufwächst, dort zu studieren beginnt und irgendwann merkt, dass ihn das alles nicht wirklich interessiert.
Dass er lieber feiert, faulenzt und die Liebe der Frauen sucht, von denen ihm in seinem Lebenslauf Dutzende begegnen. Und die Frauen lieben ihn, einfach nur, weil er schön aussieht und wohl auch galant ist und einfach seine Freude auslebt, jede Frau so zu lieben, wie er noch nie eine Frau geliebt hat. Also eine Art Casanova, der gleichzeitig auch noch ein Schlawiner ist, der sich vor jeder anstrengenden Arbeit drückt, es mit dem „sozialistischen“ Eigentum nicht so ernst nimmt und eigentlich immer wieder nur durchkommt, weil die Frauen an ihm Gefallen finden.
Und Angst kennt er auch nicht. Deshalb nimmt er auch die Staatsmacht nicht ernst, traktiert die Behörden mit Ausreiseanträgen und Beschwerden, die am Ende ganze Aktenordner füllen. Am Ende bietet Veronika Götze gar eine neue Variante zur Beantwortung der Frage, warum die DDR so krachend unterging. Aber im Grunde benimmt er sich nach seiner geradezu skurrilen Ausreise in den Westen nicht anders, wo manche Szenen auch ein bisschen in den Hochstaplerroman hineinzutendieren beginnen.
Obwohl dieser Schellinger das gar nicht bewusst so will. Es passiert ihm einfach. Da ähnelt er so manchen Helden aus den Schelmenromanen des fränkischen Autors Weglehner, der freilich in seiner Parodie auf die von falscher Selbstgerechtigkeit triefende Republik zu noch härteren Mitteln greift, um diesen deutschen Weltmeister-Ernst auf die Schippe zu nehmen.
Und Veronika Götze kennt beide Seiten, hat in Dresden studiert, in Leipzig als Theatermalerin gearbeitet, später als Filmkunstmalerin bei der DEFA, bevor sie in den Westen ging und in München in ihrem Beruf weiterarbeitete. Da kennt man seine Pappenheimer und weiß, wie viel von der täglichen Ruhmredigkeit reines Blendwerk ist, Selbstdarstellung und Selbstbetrug. Ein Thema, das ja auch Bernd Schirmer in „Silberblick“ in einer ostdeutschen Schelmengeschichte aufbereitet hat.
Und zur schlichten Wahrheit gehört auch, dass Deutschland ein Land ist, das Blendern und Dilettanten alle Chancen bietet. Chancen, die auch Schellinger immer wieder in den Schoß fallen. Er kann wirklich nichts dafür, ergreift die Gelegenheiten aber beim Schopf und schlawinert sich so – immer wieder freundlich von innigst geliebten Frauen unterstützt – durch sein Leben.
Das freilich rekapituliert er in diesem Buch eigentlich in der Rückschau, liegt anfangs schwer verletzt und von einem Eimer weißer Wandfarbe übergossen im Straßengraben und schwankt immer wieder zwischen dem seltsamen Befinden im Straßengraben und der Erinnerung an die vielen Frauen in seinem Leben.
Wobei er sich selbst in der Erinnerung sagt, dass er sie tatsächlich alle geliebt hat. Und zwar immer ganz und aus vollem Herzen. Selbst dann, wenn er Probleme damit hatte, die Frauen in seinem Terminkalender einigermaßen auseinanderzuhalten.
Was eben mehr ist als nur ein hübscher Gedanke (und stiller Traum aller Männer): Wie geht man eigentlich mit seinen Gefühlen um, wenn man doch eigentlich all diese Schönen lieben möchte? Wie puritanisch und verklemmt muss eigentlich eine Gesellschaft sein, die das untersagt und die Menschen in die Enge einer Ehe zu zwingen versucht?
Oder – auch der Gedanke taucht auf: Kann es sein, dass all die Probleme unserer sexistischen Gegenwart genau mit dieser Verklemmung in den Köpfen von Männern und Frauen zu tun haben? Mit falschen Macht-Ungleichgewichten, Besitzstandsdenken und einer bürgerlichen Moral, die noch immer irgendwo weit vor dem Jahr 1968 feststeckt im Morast romantischer Verlogenheit?
Denn wir haben es ja mit einer Autorin zu tun, die nicht nur ihren Helden liebt und ihn seine Lieben mit Freude erleben lässt. Damit schrieb sie ja auch ein schelmisches Plädoyer für das Recht der Frauen zu lieben. Und zwar unbedingt zu lieben. Wohinter ganz unübersehbar ein sehr ostdeutscher Blick auf ein völlig anderes, unverklemmteres Liebesleben der Geschlechter steckt. Und natürlich auf das, was das Leben wirklich reich macht. Und das ist nicht das Geld. Auch nicht im Leben Schellingers.
Wahrscheinlich ist Geld sogar die Hauptursache für all die sexistischen Lügen unserer heutigen Gesellschaft mit ihrer scheinbaren Freizügigkeit, die aber im Alltag ganz unübersehbar eine Welt der Aggression, des Misstrauens und der falschen Rollenspiele ist, in denen Frauen zu Weibchen degradiert werden und Männer sich in Patriarchen verwandeln – jedenfalls was ihr Außenbild betrifft. Von einer freien, weil unverklemmten Gesellschaft kann – trotz aller Entblößungen – überhaupt keine Rede sein.
Es sei denn, man ist ein unbeschwerter Typ wie dieser Schellinger, der die Dinge und die Frauen so nimmt, wie sie kommen, der nicht zwanghaft an ein zu finanzierendes Morgen denkt (oder gar an seine Rentenvorsorge), der durch sein Leben spaziert wie dieser Eichendorffsche Taugenichts und der auch den Mächtigen nicht gibt, was die sich immer wünschen: Dienstbeflissenheit und Untertänigkeit.
Natürlich steckt auch der Eulenspiegel in ihm. Und in gewisser Weise ist der Eulenspiegel auch die einzige wirklich ermutigende Rolle im Umgang mit dieser gern zum Popanz aufgeblasenen „zweiten deutschen Diktatur“, deren schwarze und graue Seiten immerfort beschworen werden, als wäre es wirklich eine echte Diktatur von mindestens Stalinschem Format gewesen.
Was sie eindeutig nicht war. Man kann die letzten tatterigen Jahre dieses Landes eigentlich wirklich nur beschreiben als Lebensraum, wenn man es in Form des Schelmenromans tut. Denn nur so lassen sich die Abgründe zwischen Schein und Wirklichkeit wirklich ausloten, das sogenannte „richtige Leben im falschen“, oder wie immer man das mit weinseliger Philosophie beschreiben mag.
Die stärksten Helden der deutschen Literatur sind allesamt Schelmen und Taugenichtse (im Eichendorffschen Sinn), geborene Romantiker mit der Sehnsucht nach einer besseren Welt als die dargebotene spießige Gegenwart, Helden in Narrenkappe, denen nichts mehr Freude macht, als der verbiesterten Obrigkeit zu zeigen, was für eine kleingeistige Anstalt sie eigentlich ist.
Auch so kann man Schellingers Geschichte lesen: als ein unbeschwertes Anleben gegen die biederen (und beklemmenden) Erwartungen einer von Ordnung und Sicherheit besessenen Nomenklatur, die sich für die Bewahrerin aller Werte hält und beim nächsten dummen Zufall der Geschichte mit wehenden Rockschößen die Seite wechselt.
Während die meisten Bewohner dieser deutschen Ordentlichkeit mit wachsendem Lebensalter zunehmend die traurige Frage stellen, ob es das nun wirklich war und sie mit all ihrem Fleiß und ihrer Dienstbeflissenheit nicht das Eigentliche und Wichtigste verpasst haben – ihr eigenes Leben.
Also wenigstens alle Lieben geliebt haben, die ihnen begegnet sind, und ein paar Träume erfüllt von denen, die der Mensch einmal hatte im Leben. So wie Schellinger von seinem Haus in Italien träumt. Mit einer echten Madonna darin, mit der er die Freuden des Liebens erleben kann. Da stutzt man zumindest, warum sein Schicksal dann scheinbar im Straßengraben an einer kurvenreichen Landstraße in der Mark enden könnte.
Wo es freilich nicht endet, auch wenn der Unfall genau aus dieser lebenslangen Unentschiedenheit resultiert, die Schellinger aus einem Abenteuer ins nächste trieb. Etwas, was einen als braven Zeitbewohner zumindest immer wieder verwirrt, weil er damit aus einer unsicheren Lebenslage in die nächste stolpert. Sitzt denn unser Bedürfnis nach einem geordneten und wohlversorgten Leben nicht tief in uns?
Das tut es wohl. Denn das wird uns von Kindesbeinen eingetrichtert und eingeübt. Sodass es durchaus die wirkliche Rebellenfigur wird, wenn einer genau darauf pfeift und seine Lust am Leben einfach auslebt. Und in der Regel trotzdem überlebt. Denn unsere Angst vor dem Verlust aller Sicherheiten macht uns ja erst hörig und willig und angepasst. Und bringt uns dazu, auf die unberechenbaren Abenteuer des Lebens doch lieber zu verzichten. Was dann all den Frust, das Verbiesterte, Bockige und Beleidigte ergibt, das unsere Gegenwart durchwabert und meist so unbegreiflich ist.
Aber es wird begreiflicher, wenn man – mit Schellinger – sieht, wie viel gelebtes Leben wir uns damit abschneiden und verkneifen. Männer genauso wie Frauen. Die scheinbare Macht der einen ist genauso ein verkniffenes Nicht-Leben wie die Abwertung der anderen, die in ihre Weibchenrolle gedrängt werden, nur um ihnen nicht dieselbe Lust auf Leben, Liebe und Selbstbestimmung zugestehen zu müssen, die sich die ach so ordnungsliebenden Herren der Selbstgerechtigkeit selbst nicht zugestehen. Außer heimlich auf Dienstreisen bei den Sexarbeiterinnen.
Die weibliche Seite des Plädoyers, das in dieser Schelmengeschichte steckt, darf man nicht überlesen. Und so betrachtet, vergibt Veronika Götze gleich für beide Hälften der deutschen Misere eine miserable Haltungsnote. Wer keine Träume mehr hat, ist eigentlich tot. Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen.
Veronika Götze Schellingers Welt, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2020, 14 Euro.
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