Der Aphorismus ist eine unterschätzte Gattung. Der deutsche Aphorismus sowieso. Drama, Roman. Novelle. Das sind die Disziplinen, die deutschen Schülern als Königsdisziplinen eingetrichtert werden. Was kurz ist und treffend, kann kein deutsches Meisterwerk sein und taucht bestenfalls als Sinnspruch im Poesiealbum auf. Und so veröffentlicht Gunter Preuß seine Aphorismen auch nicht in einem großen Verlag, sondern in einem kleinen.

Und zwar ziemlich regelmäßig in immer neuen Ernten. Denn wo andere im Alter den Kopf hängen lassen und so langsam verdimmen, denkt er gar nicht daran, seine Dickköpfigkeit herzugeben und sich auf eine betreute Gartenbank zurückzuziehen. Ein Querkopf war er schon immer, eckte lieber an auch bei honorigen Funktionären, als sich die Widerspenstigkeit im Denken austreiben zu lassen.So ein bisschen Vorbild könnte Schopenhauer gewesen sein, den er als Einzigen zitiert in diesem neuen Band – zumindest indirekt. Denn manchmal sind alte, grantige Philosophen gerade dann interessant, wenn man ihnen gehörig widersprechen kann. Denn das Leben ist – das vergessen die großen Denkgebäude-Konstrukteure ja gern – voller Widersprüche.

Oder besser: der Mensch ist es in seinem Allmachtswahn, seiner Eitelkeit, seinem kleinen und großen täglichen Selbstbetrug.

Wer wüsste das besser als ein aufmerksamer Selbst-Beobachter wie Gunter Preuß, der im vergangenen Jahr seinen 80. Geburtstag hatte und sich gern immer noch streitet, wenn es sich lohnt. Meistens lohnt es sich ja nicht oder ist einfach nur müßig, weil zwar viele laut sind und hart im Urteil – aber eigentlich nicht reden wollen. Nur recht haben und recht behalten.

Oder einfach irgendwas gesagt haben wollen. Und dann kneifen. Weil dahinter nichts mehr kommt. „Was keiner weiß, will jeder besser wissen“, bringt Preuß diese Eitelkeit auf den Punkt. Die so neu nicht ist. So taten sich auch schon die gelehrigen Zeitgenossen von Georg Christoph Lichtenberg hervor.

„Aphoristiker sind, ob sie sich so sehen oder nicht, verkappte Moralisten“, schreibt Preuß. Der seine Abneigung gegen Einfalt, Blendertum, Hohlheit und Größenwahn nicht verhehlen kann. Diese ganze Wichtigtuerei von Leuten, die viel Reden und Aufhebens um sich machen, einem aber eigentlich nur die Zeit stehlen und die Ruhe zum Denken. Denn wer immerzu Lärm macht, kommt nicht dazu. Der kommt auch nicht zum Wundern und Stutzen, wie schön verräterisch Sprache sein kann. Gerade dann, wenn sie von den Oberflächlichen benutzt wird, als wüssten sie, was sie da benutzen.

Und so merken sie meistens nicht, wie sie sich ein Leben lang selbst beschwindeln. Reden wir mal nicht von Politik, obwohl auch Preuß sich fragt, woher diese verbale Inkompetenz der Großen und allseits Zitierten kommt, die unsere Welt erfüllt. Denn das ist ja überall. Nicht nur bei den Leuten an der Supermarktkasse oder im Wartezimmer beim Arzt. Als wäre Großsprechen eine neue Tugend geworden. Als hätten diese Vielredner nichts gelernt in diesem Schlingerkurs des Lebens.

„Sich erinnern zu können heißt nicht, begriffen zu haben“, schreibt Preuß. Und man kann ihn sich richtig vorstellen, wie er sein Notizbuch aus der Tasche zieht, vielleicht sogar mitten beim Spazieren im Wald, wenn er sein Gehirn sich auslüften lässt. Oder besser austoben.

Die Nachdenklicheren unter uns wissen, wie das geht, wie man beim Gehen im stilleren Teil unserer verlärmten Welt die Gedanken schweifen lässt und sich austoben, damit sich der Zorn legt, der unmutige Krach, den man oft mit sich schleppt, wenn man wieder in dummen, flachen Gesprächen mit Leuten gelandet ist, die einen belehren und beschwören und bedrängen, weil sie dies und das und am Ende eigentlich alles besser wissen und schon immer gewusst haben.

Dieser Kopfschmerz, den man erst loswird, wenn man ein paar Meilen wütend durch die Landschaft gelaufen ist, die dafür nichts kann. „Entwicklung heißt: Infrage stellen“, ist so eine geerntete Frucht. Ganz bestimmt wieder nach so einem fruchtlosen Gerede von sturzüberzeugten Leuten, die alles besser wissen. Immer. Und mit Wucht. „Die meisten Leute wissen gerade so viel, dass ihre Eitelkeit befriedigt ist. Und je größer ihre Eitelkeit ist, umso weniger wissen sie.“

Und das schreibt einer, der nur zu gern den Spiegel zitiert, in dem er sein Gesicht findet. Oder besser: zu finden versucht. Das richtige Gesicht. Nicht die Maske oder die falsche Miene, die man meistens aufsetzt, wenn man sich unter Menschen wagt. Was schwer genug ist. Kann man sich selbst so sehen, wie man wirklich ist? Schwer zu sagen. Das gibt auch Preuß zu. Nur eins ist sicher: Der Spiegel zeigt einen so, wie man wirklich ist. Ob wir uns darin auch so sehen, ist meistens eher unwahrscheinlich. Da steckt eine Menge Lebenserfahrung drin. „Alles, was ich mir einreden ließ, musste ich mir wieder ausreden.“

Ein Satz, so kurz, dass man erst beim Kurz-drüber-Nachdenken merkt, wie da etwas konzentriert wurde, was andere in stundenlangen Reden nicht auf den Punkt kriegen. Weil sie eben meist reden, um nicht zum Punkt kommen zu müssen. Und zu jenem Stück Selbst-Erkenntnis, das die großen Aphoristiker immer mit den großen Philosophen gemein hatten, denen immer gegenwärtig war, dass der Mensch nur selten wirklich bei sich ist. Und noch seltener zu sich kommt. Was Preuß – der die Worte tatsächlich gern so nimmt, wie sie sind – noch weiter dreht. Denn wie kann einer, der behauptet, in sich gegangen zu sein, nicht außer sich geraten?

Denn unsere Sprache ist ja weder kaputt noch leer geworden, auch wenn sie meistens nur für Geschwätz und Wichtigtuerei missbraucht wird. Sie funktioniert noch in ihrer ganzen alten Schönheit. Auch wenn Preuß trocken feststellt: „Unsere Sprache lässt sich immer weniger beim Wort nehmen.“

Eigentlich sind wir es, die sie nicht mehr beim Wort nehmen. Was Preuß ein wenig später so auf den Punkt bringt: „Neue Schule der Rhetorik: Das Wort ergreifen, wenn man nichts zu sagen hat.“

Wer weiß, was das ist, erschrickt bei solchen Sätzen. Es wäre tatsächlich herrlich still, wenn alle, die immerfort reden, ohne etwas zu sagen zu haben, einfach mal den Mund hielten. Dann hätten zwar viele Medien nicht mehr viel zu berichten, der öffentliche Tratsch würde einfach verstummen.

Aber: „Gern höre ich dem zu, der mir mit seinem Schweigen etwas zu sagen hat“, schreibt Preuß, der auch über das Leben, dieses Unvollendete, immer wieder nachdenkt, wohl wissend, dass man auch mit 80 immer noch nicht fertig ist. „Die Zukunft blüht uns erst noch“, schreibt er. Und nimmt sich nie aus, wenn es um das menschliche Irren geht, die Fallen der Wahrheit und das Rechthabenmüssen: „Der Skeptiker hat früher oder später immer recht.“

Die seit dem letzten Aphorismen-Band „Mensch, Mensch“ gesammelten Sinnsprüche hat Preuß in diesem Bändchen eingebettet in zwei Kapitel mit Epigrammen und Limericks, in denen er auch seiner Lust am gereimten Stiche-Verteilen Raum gibt. Aber am stärksten ist er tatsächlich in seinen (ungereimten) Aphorismen, die davon erzählen, auf was ein nimmermüder Kopf so alles kommt, wenn er keine Lust hat, sich einfach abzuschalten, vielleicht kann er es auch gar nicht. Das geht nun einmal gerade den skeptischen Zeitgenossen meistens so. Sie wollen sich auch gar nicht ablenken und einlullen lassen, sondern sind eher gespannt darauf, was die kleinen grauen Zellen aus dem ganzen Wirrwarr am Ende machen.

Wahrscheinlich geht es ihm da tatsächlich wie diesem Lichtenberg, der sich schon in jungen Jahren aus blanker Not ein paar Sudelbücher zulegte, um das im Kopf zu Erkenntnis Gereifte (und sei es noch so widerborstig) schleunigst aufzuschreiben. Und damit loszuwerden. Denn das Rumoren hört ja erst auf, wenn das Belohnungszentrum die Nachricht bekommt, dass der widerborstige Gedanke festgesetzt ist auf geduldigem Papier. Bereit für spätere Wiederverwendung. Oder für spitze Gegenrede, zu der freilich nur ein Kopf fähig ist, in dem es noch rumort. Und manchmal bringt es den ganzen Zynismus der Gegenwart sehr schön auf den Punkt: „Realistischer Aberwitz: Von den Ohnmächtigen verlangt man Demut.“

Lauter Kurzwaren also, die manchmal verraten, dass ihr Autor des Öfteren einmal aus lauter Verzweiflung in den nächsten Wald stapft, um sein armes Gehirn sich erholen zu lassen vom erlebten Kasperletheater der Gegenwart und seinen verlogenen Helden. Ein Büchlein so richtig für Skeptiker, Optimisten und Pessimisten.

Und alle, die auch immer öfter das Gefühl haben, verzweifeln zu müssen an dem Angebot von schillernder Leere, die einem die allerorts allezeit Redenden aufnötigen. Aber das Gefühl muss auch Lichtenberg schon gehabt haben. Bei Goethe und Schiller (Stichwort: Xenien) weiß man, dass sie es hatten. Manches ändert sich eben doch nicht, auch wenn die Schauspieler in der Lohengrin-Rolle wechseln.

Gunter Preuß „Kurzwaren“, HeRaS Verlag, Berlin 2020, 9,99 Euro.

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