Wie feiert man als Dichter seinen 70. Geburtstag? Schreibt man seine Memoiren? Oder bekommt man eine Würdigung im Kulturkanal des Regionalfernsehens? Orden gibt es ja sowieso keine. Und eine große Lesung mit poesiebegeistertem Publikum ist derzeit nicht drin. Aber man kann ja eine Geburtstagspublikation veröffentlichen, in der versammelt ist, was einen Weltbetrachter wie Ralph Grüneberger besonders berührt hat.

Dass er schon 70 wird in diesem Monat, das glaubt sowieso kein Mensch. Dazu hat er sich viel zu viel von seiner jugendlichen Verblüffung bewahrt über das Leben, die Menschen und so erstaunliche Dinge wie eine 100 Jahre alte Brücke in Plagwitz, über die er gerade einen stimmungsvollen Filmessay gemacht hat. Der kommt auch in diesem Bändchen vor, denn darin geht es um Kunst. Weniger um Kino und Theater, was Titelbild und Titel andeuten.Beide durchaus zum Aufmerken da – sowohl das Titelbild von Tobias Gellscheid „Cry Baby!“ als auch dieser gar nicht so stromlinienförmige Titel „Enthält Kunstplatzierung“. So etwas fällt nur einem ein, der in Leipzig und der DDR groß geworden ist. Auch als Dichter. In Zeiten, als an Restauranttüren die unverschämten Schilder hingen „Sie werden platziert!“ (Was für ein Verb! Da steckt der ganze politbürokratische Nullsprech drin.)

Und selbst die ersten Gedichtbände angehender Schriftsteller verkauften sich wie warme Schrippen. So wie 1986 „Frühstück im Stehen“, nach dem „Poesiealbum“ von 1984 Ralph Grünebergers erster richtiger Gedichtband, der schon im Titel verriet, was für ein neugieriger Weltbetrachter sich da zu Wort meldete. Einer, der es sich zur Profession machte, die Poesie im Alltag zu sehen, das, was unser Leben bemerkenswert macht, auch wenn wir eiligen Alltagsmenschen das meistens gar nicht wahrnehmen. Zumindest nicht so klar und verblüffend.

Gut möglich, dass die emsigen Proleten aus dem Leipziger Westen, die Grüneberger beschrieb, lebendig werden ließ und in den Mittelpunkt seiner Lebenserkundungen stellte, seine Gedichte sogar lasen. Denn er baute niemals Hürden auf, versuchte nie mit Sprachakrobatik zu verblüffen.

Im Nachwort versucht Wolfgang Mayer König zu beschreiben, was er da macht und warum dabei Texte herauskommen, die einen verblüffen und aufmerken lassen. Als hätte man die ganze Zeit nur traumselig vor sich hingedöst. Und nun sagt er: Guck mal!

Und man guckt mit ihm und merkt: Der simpelste Moment ist – bemerkenswert. Er ist ein Dichter, der seine Leser/-innen zum Aufmerken einlädt. Zum Aufmerksamsein. Und zum Staunen darüber, dass selbst der tristeste Moment in einem Malocheralltag zutiefst poetisch ist. Wenn man nur einmal die Augen aufmacht. Und aufhört, die Träume anderer Leute für die wirkliche Welt zu halten.

Und so hat er auch die Welt bereist. So hat er auch über New York geschrieben und Leningrad und Paris. Und über Kunst sowieso. Womit wir mitten in diesem Geburtstagsbändchen sind, das lauter Gedichte und Miniaturen zur Kunst enthält.

Eine Brücke wie keine andere. Filmessay von Ralph Grüneberger. Kamera, Schnitt und Ton Patrick Wenig

Malern hat er schon mehrfach neugierig über die Schulter geschaut und Geschichten darüber geschrieben. Auch ganze Bücher wie die Monografien über Gert Pötzschig und Heinz Müller. Sein Blick unterscheidet sich wohltuend vom Geturne der üblichen Kunstwissenschaftler, die so etwas versuchen. Denn er will und muss sich nicht beweisen. Ihn interessiert wirklich, wie der Maler das sieht. Und deshalb sind seine Texte zur Kunst wie Schlüssel für all jene Mitmenschen, die sich schon gar nicht mehr trauen, mit eigenen Augen zu sehen.

Denn Fakt ist auch: Die Welt der bildenden Kunst ist okkupiert. Kunstkritiker und -theoretiker haben sich das Reden über Kunst angeeignet, haben es verwissenschaftlicht und zur Phrase gemacht und damit zu einem elitären Projekt, in dem dann Künstler nur noch wahrgenommen werden, wenn sie den Regeln dieses Novitätenbetriebes genügen. Dessen oberste Regel übrigens ist: Als „in“ zählt nur, wer die alten Regeln zerstört. Mit Ergebnissen, die den Betrachter irgendwann nur noch ratlos machen.

Als würde unser Sehen sich alle drei Jahre verändern und wir am Ende fette Erklärbücher brauchen, um die überwältigende Botschaft des Kunstwerks noch zu verstehen.

Als dürften wir nicht mit unseren alten Augen schauen und Kunst so auf uns wirken lassen dürfen wie zu Monets, Manets und van Goghs Zeiten. Die ja schon umwälzend genug waren. Aber man kann diesen Malern noch immer über die Schulter schauen und sehen, was sie gesehen haben. Und wie sie es gesehen haben. Und sich berühren lassen.

Im Grunde sind Grünebergers Texte zur Kunst lauter kleine Ermutigungen, dem eigenen Blick zu vertrauen, die ganzen Theoretiker, Kritiker und Kunstwärter zu vergessen und sich selbst das Recht zu nehmen, ganz allein vor dem Bild zu stehen. Und zu sehen, was man sieht. Und sich zu freuen über das, was man entdeckt. Oder hineinentdeckt in die Bilder. Denn auch der Kunstbetrachter bringt mit, was er weiß und liest seine eigenen Geschichten hinein in Bilder, die ihre Ab- und Hintergründe oft erst zeigen, wenn man sich auf sie einlässt und sie nicht abhakt, weil sie irgendwo zum Musst-du-mal-gesehen-Haben gehören.

Also keine „Mona Lisa“, kein „Abendmahl“, kein „Ritter mit dem Goldhelm“. Sondern „Hinter den sieben Bergen“ von Mattheuer zum Beispiel oder „Umgestaltung des Karl-Marx-Platzes“ von Müller Simon, zwei Leipziger Bildikonen, die in älteren Leipzigern ganze Meere von Gefühlen anklingen lassen. Bilder, die auch noch viele Jahre nach ihrem Entstehen davon erzählen, wie sehr einen Leben betroffen machen kann. Und, dass gute Bilder einen berühren können. Auch Jahre später noch. Man muss sich nur die Geduld nehmen, stehenzubleiben und sie wirklich anzuschauen.

Oder eben – wie in „Cry baby!“ – einfach so wegzutauchen in eine Zeit, in der unsere Mütter oder Großmütter einmal so jung waren wie diese unbändig lachenden Mädchen im Kino. Natürlich ein typischer Grüneberger-Blick.

Er findet seine Künstler, die ihm nah sind. Die fähig sind, mit derselben ernsthaften Neugier in die Welt zu schauen und auf diese Mit-Menschen, in denen man sich auf einmal wiedererkennt, selbst in diesen Highschool-Mädchen und Telefonistinnen, die in diesem ekstatischen Moment im Kino oder Konzert auf einmal eins sind. Vereint in unbändiger Heiterkeit. Und dann gibt es – wie in fast jedem Grüneberger-Gedicht – wieder diesen stillen, kaum merklichen Bruch, den waghalsigen Gedankensprung, wie König ihn nennt: „Er rundet nie mutwillig ab. Die Reflexion löst er dort aus, wo sie im Leser weiterarbeitet, nicht nur weiterwirkt.“

So, wie eben auch gute Bilder wirken. Oder Momente, in denen man sich mal die Zeit zum Stutzen nimmt. Zum Sich-beeindrucken-Lassen. Verblüfft zu sein darüber, wie seltsam und vertraut uns die nächste Welt eigentlich ist. Worauf uns ja gute Bilder und Gedichte nur hinstubsen. Maler und Dichter.

Wobei es einem einige Maler zuweilen sehr schwermachen. Weshalb man in diesem Band auch den zweifachen Neo Rauch bekommt – den Maler, dessen Bilder ganz von allein zu diesem Stutzen führen und die quasi den „waghalsigen Gedankensprung“ ganz selbstverständlich eingebaut haben. Und dann den Maler, der sich zum Politikum machen lässt, obwohl er genau das nie wollte, wie er einst sagte. Womit sich der Bogen schließt zu jener Vor-Zeit, in der die Kunstpotentaten geradezu verlangten, Kunst und Künstler sollten politisch sein, womit sie parteiisch meinten und plakativ.

Was die Sensibleren dazu brachte, genau das nicht sein zu wollen und sich auf ihre eigenen Augen zu verlassen. Und manche haben dabei einen intensiven und ernsthaften Blick aufs Vorzufindende entwickelt. Einer, den sie auch nach der großen „Wende“ nicht ablegen mussten, weil es ein zutiefst poetischer Blick ist. Denn Poesie ist ja nichts anderes als die Fähigkeit, sich (immer wieder) verblüffen zu lassen von all dem, was einer so erlebt in diesem Aufenthalt auf Erden.

Und deswegen werden (gute) Ausstellungen auch zu Verlockungen, weil sie einem mit geballter Wucht zeigen können, was man alles sehen kann, wenn man nur richtig hinschaut. Und Sehen will gelernt sein. Und mit Grünebergers kleinen Texten zur Kunst lernt man eine Menge darüber. Auch über die Gelassenheit, sich alten Bildern einfach völlig unverkrampft nähern zu können, egal, ob einem Akt von Picasso oder einem Schmetterling von Dali.

Im Grunde bringt Grüneberger seine Dichtung auf den Punkt, wenn er hier für das eigene, aufmerksame Betrachten wirbt und seine Leser/-innen einlädt, mit seinen Augen auf liebevoll platzierte Kunst zu schauen.

Ralph Grüneberger „Enthält Kunstplatzierung!“, Gedichte & Miniaturen zur bildenden Kunst, Ralph Grüneberger, Leipzig 2021, Normalausgabe 16,02 Euro / Vorzugsausgabe 100,70 Euro (bis 30.05.21), dann 130,70 Euro.

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