Na, wenn das nicht gleich mehrere rote Fahnen fürs bürgerliche Feuilleton sind. Ein neuer Kommunismus? Und das ausgerechnet jetzt, wo doch der Kapitalismus seit 30 Jahren überall siegt und der Kommunismus vor 30 Jahren so gründlich in die Knie ging und bewiesen hat, dass er es nicht kann? Aber: Hat er das? Und: Worum geht es wirklich? Das vergisst man irgendwann, denn wenn sich die Welt so gründlich verändert, ändert sich auch das Denken.

Die neue Gegenwart verändert auch die Vergangenheit. Und unser Denken über diese. Damit beginnt Slavoj Žižek im Grunde seinen materialreichen Essay, der ihn am Ende auch noch zu Feminismus, zum Antirassismus, zur Political Correctness und all den anderen scheinbar linken Gefechten der (Post-)Moderne führt, in denen über Identitäten (scheinbar) das neue Rechts und Links ausgefochten wird und eine geheimnisvolle neomarxistische Verschwörung im Hintergrund scheinbar dabei ist, das Patriarchat und die Identität des (alten) weißen Mannes zu zerstören.Žižek kennt seinen Marx. Und zwar nicht nur die üblichen Zitate. Und er kennt auch all die anderen Philosophen, die in den vergangenen 250 Jahren versucht haben zu begreifen, wie der Mensch denkt und warum er so sehr dazu neigt, die Wirklichkeit umzuinterpretieren, um mit ihr leben zu können. Was ja keine Absicht ist, sondern meist blanke seelische Not. Was ja – kurz nach Marx – noch so ein Querkopf erstmals ausformuliert hat, den heute auch schon so viele neuere Denker nur zu gern entsorgt hätten auf dem „Müllhaufen der Geschichte“.

Doch Freud ahnte sehr wohl, warum der Mensch verdrängt und sich nur zu gern ein falsches Bild macht von sich selbst und seiner Welt. Und den Gesetzen, nach denen sie funktioniert. Und damit sind weder die Gesetze in der Bibel noch im BGB gemeint, sondern die Gesetze, die unerbittlich auch dann wirken, wenn die liberalen Medien pflichtschuldigst von Freiheit, Gleichheit und Demokratie tönen, ohne nur einen Moment darüber nachzudenken, was diese Worte eigentlich implizieren.

Und warum auch Demokratie nicht die Herrschaft der Mehrheit ist, nicht einmal dann, wenn eine linke Partei mal an die Regierung kommt. Denn wie machtlos sie dann ist, erlebte zuletzt die Syriza in Griechenland, der niemand anders die Instrumente zeigte als der deutsche Finanzminister, der genau diese – vom Volkszorn unterstützte linke Partei – dazu zwang, die schlimmsten Sparprogramme in der griechischen Geschichte aufzulegen. Nicht einmal mit dem Grexit konnte Alexis Tsipras drohen, denn der hätte Griechenland erst recht in die Armut geschleudert.

Es ist eines der vielen Beispiele in Žižeks Buch, anhand derer er erklärt, warum selbst radikale linke Parteien zahnlos werden, wenn sie mal an die Macht kommen. Oder das, was man dafür hält. Denn die Bedingungen, nach denen regiert werden darf, diktiert nicht der große Lümmel, das Volk. Die diktiert die Ökonomie, genauer: das Kapital.

Man muss wohl wirklich zu Marx zurückkommen, um wieder zu verstehen, was das eigentlich bedeutet und warum nationale Regierungen daran wenig ändern können. Denn es gibt keine Ausnahmen mehr von einer kapitalgetriebenen Ökonomie. In gewisser Weise ist das Kapital eine blinde Gewalt. Es nutzt all seine Macht, sich überall, wo es zuschlägt, vollen Zugriff auf die Märkte zu sichern.

Und wenn die Märkte kahlgefressen sind, sind neue Betätigungsfelder zu erschließen. Also neue Felder, auf denen sich aus den ganz gewöhnlichen Bedürfnissen der Menschen wieder Profit schlagen lässt. Wozu schon lange nicht mehr nur Gemeingüter wie ÖPNV, Gesundheitswesen und Bildungswesen gehören (wo die fatalen Wirkungen dieses Zugriffs längst in voller Blüte zu besichtigen sind), sondern auch Sozialversicherungen und Kultur.

Wozu eine Menge gehört. Und wortgewaltig und viel belesen seziert Žižek vor den Augen des Lesers, wie dieser Zugriff auf die menschliche Kultur funktioniert und längst überall im Gang ist – und was das genau mit dem Selbstoptimierungswahn, dem Medienkonsum und der Identitätspolitik zu tun hat. Und warum das dazu geführt hart, dass heute scheinbar die Kämpfe der Linken gegen die Rechten ausgerechnet auf dem Gebiet der Identitätspolitik ausgetragen werden.

Aber dass gleichzeitig der Plebs, das immer mehr frustrierte und abservierte Volk überall in den scheinbar so wohlhabenden Staaten des Westens, lieber die Rechtsradikalen und rechte Populisten wählt und den scheinbar für sie kämpfenden linken Parteien in Scharen davonläuft.

Das sieht paradox aus. Genauso wie die Tatsache, dass ausgerechnet die Malocher aus dem Mittleren Westen den stinkreichen Immobilienmogul Donald Trump gewählt haben. Und auch 2020 haben sie nicht anders gewählt. Aus gutem Grund, der auch mit unseren Illusionen über Liberale und Populisten zu tun hat und der aus europäischer Sicht kaum sichtbaren Spaltung der Demokraten.

Žižek ist nicht ohne Grund auch theoretischer Psychoanalytiker. Er weiß, dass pathologische Verhaltensweisen zum ganz normalen Verhaltensinventar der Menschen gehören. Manche pathologischen Verhaltensweisen sind reiner Selbstschutz, sind „Lügen“, die wir uns selbst erzählen, um mit einer im Grunde grausamen und ungerechten Wirklichkeit klarzukommen.

Lebendiger Klassenkampf

Sodass auch vieles, was heute scheinbar die „linken“ Medien dominiert, im Grunde selbst wieder nur Ablenkung ist, eine neue Spielwiese, auf der Ersatzkämpfe ausgetragen werden, die vom eigentlichen Konflikt ablenken, der eben kein Konflikt zwischen Männern und Frauen, Farbigen und Weißen, Heteros und Andersliebenden ist, sondern nach wie vor ein Klassenkampf.

Der Klassenkampf ist tot, hörte man eben noch. Aber alle statistischen Erhebungen zu Armut und Reichtum zeigen: Er ist so lebendig wie einst. Nur sieht man ihn nicht mehr. Er hat sich verkleidet, kommt im Kleid von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten daher. Und wir möchten ja alle daran glauben. Felsenfest, sodass wir uns auch noch den Überwacher selbst ins Haus holen, der uns noch mehr Freiheit verspricht: die volle Freiheit des Internets, aber bitte cash gegen alle persönlichen Daten.

Es gibt Dutzende Stellen in dem Buch, in denen Žižek mit Lust den Schleier beiseiteschiebt, die entlarvendsten Texte zitiert und zeigt, dass es um die Freiheit der Bewohner der „freien Welt“ nicht viel besser bestellt ist als in einigen autoritären Staaten. Es sind oft genau jene Wahrheiten, die wir uns so gern mit schönen Versprechungen und wildem Konsum vom Leibe zu halten versuchen.

Doch zur Wahrheit gehört auch: Der Kapitalismus braucht keine Demokratie und keine freien Menschen. All das ist ihm egal. Er braucht nur Menschen, die bereit sind, auch noch ihr letztes Stück Persönlichkeit zu verkaufen, die sich berechnen lassen und voll einsetzbar sind. Ansonsten kennt er keine Grenzen. Deswegen respektiert er auch keine. Was all die Krisen, die jetzt über uns hereinbrechen, so miteinander verkettet.

Sie sind allesamt Symptom derselben radikalen Verwertung von allem, was verwertbar ist. Denn um das zu verhindern, hätten wir starke Staaten gebraucht, Staaten mit Regierungen, die die Macht gehabt hätten, die Zerstörung der Meere zu verhindern, die Zerstörung der Wälder, der Flüsse, der Böden, der Artenvielfalt. Wir lernen gerade erst, was uns alles sehenden Auges kaputtgemacht wird, weil es niemanden gibt, der dieses Raubtier zähmt.

Und man darf ruhig bei Marx nachlesen, der das alles auch nie persönlich nahm, weil ihm die Figuren, die das zu seiner Zeit verbockten, herzlich egal waren. Es waren nur Leute, die für einen Typus standen. Und wären nicht sie es gewesen, hätte ein anderer die Chance ergriffen, das Feld zu plündern. Der Kapitalismus selbst kennt keine Moral und keine Ethik.
Wahrscheinlich kommt man so dem Punkt am nächsten, um den es geht, wenn einer wie Žižek nach einer echten Alternative zum (radikalisierten) Kapitalismus sucht.

Wobei er abwinkt, den Kapitalismus auch nur zähmen zu wollen. Oder „menschlicher“ zu machen, wie es liberale Denker gern formulieren. Weil er nicht menschlich ist und auch nicht sein kann. Er ist das Funktionsprinzip einer radikalisierten Ökonomie, die ihre Macht als rücksichtslose In-Wert-Setzung entfaltet. Und die längst auch alle Methoden gelernt hat, diese unbarmherzige Gewalt zu verschleiern, als Glücksversprechen und individuelle Erfüllung zu verkaufen.

An einigen Stellen deutet Žižek an, wie man es machen könnte, wenn man nicht auf die kommenden Katastrophen zusteuern möchte, die unter Garantie kommen werden, wenn wir den Kapitalismus nicht zügeln und eingrenzen. Und ihm vor allem die Gemeingüter wieder entreißen, die er sich angeeignet hat.

Derer gibt es eine ganze Liste, aber eines rückt Žižek besonders in den Fokus: Das Gemeingut Internet, aufgebaut mit den Mitteln der Öffentlichkeit, von der Allgemeinheit bezahlt – aber längst in weiten Teilen angeeignet von großen amerikanischen Konzernen, die sich hier nicht nur das geistige Eigentum anderer Leute aneignen und dabei noch so tun können, als hätten sie damit gar nichts zu tun. Sie haben sich auch noch die Öffentlichkeit angeeignet, haben die Seele der Gesellschaft privatisiert und beeinflussen damit Wahlen und Stimmungen. Von Kaufentscheidungen ganz zu schweigen.

Und selbst die Regierungen im ach so modernen Europa schweigen dazu, lassen die IT-Konzerne ebenso wie die finstersten Geheimdienste aus Ost und West im Gemeingut Internet ihr Unwesen treiben und auch noch die persönlichsten Geheimnisse der Bürger stehlen. Ein Raubzug, wie es ihn in der Geschichte noch nicht gab.

Logisch, das Žižek fordert: Holen wir uns unser Gemeingut zurück.

Wobei er es nicht belässt, sondern sehr genau erklärt, warum sich die Regierungen in Ost und West so einig sind, wenn sie Personen wie Julian Assange verfolgen, einsperren und bestrafen dafür, dass sie ihre (Staats-)Geheimnisse ans Licht gezerrt haben. Die ja nicht irgendwelche Geheimnisse sind, sondern nachweislich Verstöße gegen geltendes Recht. Man sollte all die Passagen, die Žižek zum Gemeingut Internet schreibt, sehr genau lesen. Denn hier entscheidet sich, wie unsere Gesellschaften denken über Politik, Werte, Menschenrechte und die Krisen der Welt.

Hier werden schon längst die Schlachten geschlagen, in denen die einen (Stichwort Trump und Brexit) ihre ganz persönlichen Interessen auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzen und den Wählern trotzdem einreden, es seien ihre Interessen, und nicht die Interessen einer reichen Elite, die längst gelernt hat, den Frustrierten und Verängstigten einzureden, dass ihre Wünsche auch die Wünsche der kleinen Leute sind, die nun Regierung um Regierung auf das Wunder warten, dass sie auch mal dran sind bei der großen Verteilung.

Seltsam: Aber genau das passiert nie.

Warum aber haben dann all die Populisten aus dem stramm rechten Lager so einen Erfolg ausgerechnet bei den Leuten, deren Interessen sie eigentlich mit Füßen treten?

Das beleuchtet Žižek sehr eingehend. Und am Ende verändert sich logischerweise das Bild von Rechts und Links. Denn die Öffentlichkeit war auch schon vor Trump erfüllt mit Fakes und Illusionen. Bis weit hinein in linke Parteien, die sich von der Radikalität, die sie allesamt noch in den 1970er Jahren hatten, Lichtjahre weit entfernt haben. Žižek verweist mehrmals auf das Modell des europäischen Wohlfahrtsstaates, für den die sozialdemokratischen Parteien Europas jahrzehntelang erfolgreich gekämpft haben.

Der aber seit gut 40 Jahren systematisch ausgehöhlt wird. Stets mit den gleichen faulen Versprechungen für mehr Wachstum und Wohlstand und was der Phrasen der „Wirtschaftsexperten“ mehr sind, die dem Volke gern mit wissenschaftlichem Vokabular serviert werden, obwohl sie nicht mehr sind als in Phrasen gegossenen Meinungen. Oder genauer: die Spezialinteressen einer sehr reichen Elite.

Und so wird auch klarer, warum ein Putin die EU genauso verabscheut wie ein Trump. Hier existiert noch heute – freilich arg ruinös – ein Gesellschaftsmodell, das zeigt, dass Staaten nicht verelenden, wenn sie auch den „Armen und Beladenen“ eine soziale Sicherung, kostenlose Bildung und ein funktionierendes Gesundheitssystem anbieten. Was eigentlich heißt – und da sieht Žižek in Bernie Sanders ein Vorbild: Man muss nur genau benennen, worum man eigentlich kämpft, wenn man sich als Linker definiert.

Und während selbst das sogenannte liberale Establishment Bernie Sanders für einen kommunistischen Teufel hält, wäre er in Deutschland mit seinen Positionen eher ein gemäßigter Sozialdemokrat, vielleicht einer der alten Garde, der noch weiß, wie man sich für die Güter der Gemeinschaft starkmacht. Nicht so ein Möchtegern-Linker des Dritten Weges, der Europa nichts anderes beschert hat als eine verschärfte Gangart des Neoliberalismus, also des entfesselten Kapitalismus.

Funktion des Kapitals

Soweit wenigstens in Stichpunkten das, was Slavoj Žižek mit viel mehr Zitaten und Verweisen auf großartige Philosophen der Klassik und der Moderne vorexerziert. Und natürlich beharrlich mit Verweis auf Marx und seine bis heute gültige Sichtweise auf die Funktion des Kapitals (und seine emotionslose Unbarmherzigkeit) und die schlichte Erkenntnis, dass es in einer derart ungleichen Gesellschaft wie der unseren natürlich immer noch Klassen gibt und die damit verbundenen Klassenkonflikte, Ängste und Machtungleichgewichte. Denn dass Donald Trump genau diese Ängste befeuern konnte in seinem Wahlkampf, desavouiert diese Ängste natürlich nicht. Die Menschen haben echte Angst um ihren Job, ihre Existenz und das bisschen Wohlstand, das ihnen in den Händen zerrinnt.

Eigentlich zerronnen ist, weil auch die Obama-Regierung es nicht geschafft hat, die Schäden durch die Finanzkrise von 2008 zu beheben. Vielleicht nicht konnte. Aber es ist beschämend genug, wie schnell das alles vergessen war und wie leicht sich das liberale Establishment (das es nicht nur in den USA gibt) lieber dazu bereitfand, gewaltige Diskussion über #MeToo und Feminismus und „toxische Männlichkeit“ zu führen, als auf die Wurzeln all der speziellen Diskriminierungen zu kommen.

Die viel toxischer sind, weil sie Menschen tatsächlich entrechten, machtlos und unfrei machen. Denn um die Freiheit des Kapitalismus wirklich zu erleben, muss man reich genug sein. Das weiß jeder, der all die gläsernen Decken erlebt hat, die nicht nur Frauen daran hindern, „nach oben“ zu kommen.

Und toxischer auch deshalb, weil sie die Wahrnehmung unserer Realität verstellen und selbst die politische Willensbildung kapern, sodass die Wähler selbst dann, wenn sie wütend und ratlos sind, doch wieder Politiker wählen, die keine Veränderung versprechen, schon gar nicht zugunsten all derer, die sich mit prekären und Billigjobs von Monat zu Monat quälen und trotzdem nie auch nur ein Fitzelchen soziale Sicherheit bekommen.

Das sind die eigentlichen Konflikte, betont Žižek, der auch sehr genau erklärt, warum die heutigen Liberalen nichts mit linken Positionen zu tun haben. Und ihm ist auch wichtig zu erklären, warum Europa in der Welt eine so angegriffene Position einnimmt und die Europäer gut daran täten, endlich einiger zu sein und keiner der drei Großmächte mehr hinterherzulaufen.

Denn das Gefährliche daran ist das Irre in der Machtpolitik dieser Supermächte, die ihr militärisches Drohpotenzial nur zu gern nutzen, um andere Länder botmäßig zu machen. Deswegen haben sie alle (Žižek klammert China da noch aus) ein riesiges Interesse daran, dass die EU zerfällt. Sie nutzen alle Mittel dafür.

Höchste Zeit, könnte man sagen, die Augen aufzumachen. Was nicht einfach ist. Das weiß Žižek als (theoretischer) Psychoanalytiker nur zu gut. Denn es würde manchen erschrecken, wenn er merkt, dass die Welt, in der er lebt, weder gerecht noch heil noch ehrlich ist. Dass wir uns einlullen lassen in einer Freiheit, die bei genauerem Hinsehen keine ist. Und einem Wohlstand, der nicht wirklich glücklich macht. Aber wir glauben felsenfest daran, weil uns genau das längst schon mit scheinbar wissenschaftlichen Methoden eingetrichtert wird.

Wissenschaft kann auch genutzt werden, Menschen über genau das zu manipulieren, was Menschen erst zu Menschen macht – ihre Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte. Gern mit der Behauptung, man könne das Glück erlangen, wenn man nur reich genug ist und sich alles kaufen kann. Dabei ist Glück ein Geschenk, das man fast beiläufig bekommt, wenn man sich den Widerständen des Lebens stellt. Sagt nicht erst Žižek. Das wussten selbst schon ein paar alte Griechen.

„Lehren“ der Corona-Pandemie

Und ganz zum Schluss geht Žižek natürlich auch auf die „Lehren“ der Corona-Pandemie ein, die eigentlich nur offengelegt hat, wie kaputt unsere Welt inzwischen ist. Und dass ein neues Virus nur eine weitere Krise ist auf einem Berg von lauter ungelösten Krisen, die allesamt in einem völlig entfesselten Kapitalismus ihre Ursache haben.

Da verknüpft sich das Schicksal aller Menschen und aller Völker. An einer Stelle zitiert er Orwell: „Falls Freiheit überhaupt irgendetwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“

Das Märchen vom alle beglückenden Kapitalismus ist ausgeträumt. Er hat zwar große Teile (auch der deutschen) Politik korrumpiert, aber er ist unfähig, die Welt in einem lebenswerten Zustand zu bewahren. Er kennt keine Rücksicht auf Gemeingüter. Das Wohlergehen der Menschen ist ihm völlig egal. Und die schöne Fassade ist ein Märchen für alle die, die sich den eigenen Ängsten lieber nicht stellen wollen.

Die sich lieber irgendein neues Feindbild vorsetzen lassen, um die Wut irgendwo hinzulenken und irgendeinen Schuldigen für all das zu suchen, was sie so panisch macht. Und recht hat Žižek, wenn er schreibt, dass Trumps Erfolg, der Brexit und die Wahlerfolge der Rechtspopulisten genau davon erzählen: von einer tiefsitzenden Angst, die sich ihrer selbst nicht klar ist und schon gar nicht der Gründe für die innere Not.

Eigentlich genug Arbeit für eine linke Bewegung, die all die Krisen unserer Zeit zu begreifen bereit ist und entsprechend programmatisch handelt. International übrigens, das betont Žižek extra. Weil auch Europas linke Parteien in letzter Zeit nur zu gern die nationale Karte gezogen haben, um die entlaufenen Wähler wieder einzufangen.

Aber die meisten unserer heutigen Probleme lassen sich nicht mehr national lösen. Die brauchen wieder Menschen, die fähig sind, über den nationalen Tellerrand hinauszuschauen. Auch so eine Lehre aus Corona. Denn dieses Virus wird uns erhalten bleiben, auch mit Impfung. Vielleicht als permanente Warnung, dass wir geglaubt haben, es gäbe den bequemen Wohlstand ohne Quittung.

Nicht in einer begrenzten Welt, wo Milliarden Menschen genau jetzt endlich lernen müssen, mit dem auszukommen, was dieser einmalige Planet (noch so ein Gemeingut) zu bieten hat. Wir müssen also anders zu denken lernen, stellt Žižek fest: „Für unser Überleben sind radikale Veränderungen nötig, und das eben wird nicht wie gewohnt weitergehen, sondern wir werden uns selbst in unserem Innersten ändern müssen.“

Was freilich nur mit Politikern geht, die sich nicht als Willenserfüller des Kapitals betrachten, sondern den Mut haben, unsere Gesellschaft wirklich wieder menschlicher zu machen. In allen Belangen. Aber dazu muss man sich seinen (Alb-)Träumen stellen und der Tatsache, dass käufliches „Glück“ tatsächlich die Zahl der seelischen Erkrankungen ansteigen lässt. Glück kann man nicht kaufen und auch nicht anstreben, wie die Amerikaner glauben. Ein Buch voller Denkanregungen, voller kleiner Essays, die sich zu einem großen Essay verbinden, der mit wuchtigen Strichen skizziert, wie ein neues Denken in den Kategorien der Gemeinschaft aussehen könnte und müsste.

Denn Kommunismus hat wenig mit dem zu tun, was wir inzwischen an autoritären Parteiregimen erlebt haben (und schon gar nicht mit dem, was in China abgeht), sondern bleibt nach wie vor der Wurzel verhaftet, um die es die ganze Zeit geht, das Gemeinsame (von lat. communis), also die Bedürfnisse unserer Gemeinschaft und damit auch alle Gemeingüter, die wir uns zurückholen müssen, weil sie in den Händen von Konzernen denkbar schlecht aufgehoben sind.

Jetzt habe ich bestimmt jemanden erschreckt. Sei’s drum: Das Buch sei empfohlen.

Slavoj Žižek Ein Linker wagt sich aus der Deckung, Ullstein, Berlin 2021, 22,99 Euro.

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Es gibt 3 Kommentare

Vielen Dank , Herr Julke, für diese tolle Rezension und Leseempfehlung. Ich hab es mir auf die Wunschliste für meinen nächsten Besuch im Buchladen gesetzt. Ich bin sehr gespannt.

Ich schließ’ mich mal an. Klingt Interessant. Und, falls – also falls ich gemeint war, nee, bin nicht erschrocken:-)…
Bin mal gespannt, ob er , also Zizek, auf die letztlich alles entscheidende Frage : “Wie machen wir’s denn nun?” eine akzeptable und plausible Antwort bietet, ich denke mal, eher nicht. Zizek ist dass, was man als coole Sau bezeichnen könnte, man verzeihe mir die Despektierlichkeit…
Ich habe mal ein aufgezeichnetes Gespräch mit ihm + Assange + David Horowitz(nicht DER Horowitz am Klavier) gesehen, da ging es ganz schön zur Sache, war ja auch ‘ne schöne Kombination. Scheint etwas aufbrausend zu sein. Wie auch immer, ich werde die € 22.- mal investieren, genug nicht vertanes Kneipengeld habe ich ja übrig.

Danke für die ausführliche Kritik. Habe das Buch auf meine Leseliste gesetzt.

Manche Feministin würde dem alten weißen Mann Zizek allerdings wohl entgegenhalten, dass die Keimzelle aller speziellen Diskriminierungen höchstwahrscheinlich doch die als vermeintlich natürlich verstandene, aber tatsächlich kulturell hergestellte Hierarchie zwischen Mann und Frau ist. Die führt auf direktem Wege nicht nur in eine systematische Diskriminierung, sondern immer wieder und überall auch zu realer Gewalt gegen Frauen (weshalb bspw. #MeToo keineswegs nur ein Symptom des von Zizek Diagnostizierten sein dürfte). Die verbreitete Grundannahme, dass Frauen gegenüber Männern minderwertig seien, ist übrigens sehr viel älter als der Kapitalismus. Findet sich etwa schon bei den alten Griechen.

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