Hofnarren, Prinzesschen, eitle Kรถnige. Auf den ersten Blick geht es recht mรคrchenhaft zu in den kleinen Texten, die der Dessauer Dichter Manfred Jendryschik zu den kleinen, burschikosen Grafiken des Leipziger Grafikers Karl-Georg Hirsch geschrieben hat. Wobei: Burschikos sind diese Bagatellen, wie sie Hirsch selbst gern nennt, nicht wirklich. Eher zeitlos ironisch.

Im Osten ist der Grafiker, der etliche Jahre auch als Lehrer an der Hochschule fรผr Grafik und Buchkunst arbeitete, eine Hausnummer. Die Bรผcher, die Karl-Georg Hirsch illustriert hat, sind richtige Schmuckstรผcke der Buchkunst, in denen die Illustrationen mit den Geschichten in frรถhlichen Reigen treten.

Egal, ob bei Gogol, Bobrowski, Stevenson oder Kafka. Seine Gestalten sind nicht nur eigenartige Figuren aus einem Panoptikum, ganz so, als stammten sie direkt aus dem Narrenschiff oder dem Lalebuch, auch wenn sie sich herzhaft unterscheiden von รผblichen Illustrationen, in denen Menschen meistens sehr idealisiert dargestellt werden.Auf einmal werden sie alle erkennbar an ihrer Gestalt, ihrer Kleidung, ihrer offensichtlichen Ratlosigkeit: die Hagestolze, Neider, Besorgten und Wutbรผrger, die รผberforderten Hofmaler, Marschรคlle und Majestรคten. All jene, die ja tatsรคchlich unsere Welt besiedeln. Nur tun wir gern so, als wรคren sie alle weder eitel, nรคrrisch, fett noch nackt.

Mit seinen Miniaturen zeigt er uns so, wie wir sind. Alle. Wir ach so Perfekten und Schรถnen, die wir uns in falschen Selbstbildern tummeln, um uns im nรคchsten Moment auf die menschlichste und nรคrrischste Weise lรคcherlich zu machen. Manche nur beim Rumbrรผllen auf der StraรŸe, andere beim Protzen vor den Nachbarn oder vor laufender Kamera.

2015 hat Manfred Jendryschik mal eine kleine Ausstellung mit Grafiken seines Leipziger Grafiker-Freundes in Grimma erรถffnet und dabei auch ein bisschen erzรคhlt, wie vertraut ihm die plebejischen Gestalten Hirschs sind. Damals hat Hirsch seine Grafiken zur Sichelfrau ausgestellt. Die gehรถrt zur sorbischen Sagenwelt und ist ein wenig dem bekannten Sensenmann verwandt (der in Hirschs Bilderzyklus auch auftaucht).

Aber sie ist tiefsinniger angelegt, denn sie schreitet in der Mittagsstunde von 12 bis 13 Uhr รผber die Felder und fragt die Leute, die einfach weiterarbeiten, statt eine ordentliche Mittagspause einzulegen, ob sie fรผr ihr Tun einen triftigen Grund haben. Und da die meisten keinen solchen haben (auรŸer all die faulen Grรผnde einer aus dem Gleis geratenen โ€žLeistungsgesellschaftโ€œ) endet das in der Regel mit einem Sichelschnitt. Kurz und knapp. Ende mit den Ausreden.

Es sind also ziemlich doppelbรถdige Bilder, in denen Hirsch etwas thematisiert, was wir fast vรถllig aus unserem Leben und Denken verdrรคngt haben. Und da geht es nicht nur um den Tod oder das richtige Leben, das man vorher gelebt haben sollte, sondern auch um Respekt, Verlangen, das Gefรผhl fรผr die eigene Vergรคnglichkeit, die sich einfรผgt in den groรŸen Tanz des Lebens. Aber auch um unsere Ansprรผche an das Leben, unsere Wรผnsche. Also auch um Bescheidenheit.

Die Bilder findet man ebenfalls in diesem Band, flankiert von Jendryschiks kleinen Legenden, in denen er die Gedanken tanzen lรคsst zu diesen Bildern โ€“ und es werden jedes Mal lyrische Miniaturen, kleine Gleichnisse, Glossen, Kleinstgeschichten, die selbst einen Hauch von Mรคrchenhaftigkeit in sich tragen. Als wรคren sie Volkes Mund entsprungen. Denn genau daran erinnern sie โ€“ was man freilich nur weiรŸ, wenn man in kleinen Dรถrfern lebt und zuhรถrt, wenn รผber den und jenen geredet wird.

Der Dorftratsch ist unerbittlich. Da hรคlt keine Maske. Jeder wird zum Typen, gerinnt zur fast mythischen Gestalt. Man ahnt mit Jendryschiks Texten, wie einst die Geschichten in der Welt der Dรถrfer entstanden. Und auch der ironische Blick der Dorfbewohner auf die eitlen Bewohner der groรŸen Welt ist darin.

Denn wo jeder jeden kennt, kann sich keiner verstecken. Nicht mit seinen Macken und nicht mit seinen Sรผnden. Und so gesehen ist auch Deutschland nur ein Dorf. Denn die Typen erkennt man ja alle wieder. Die falschen Kรถnige, Hofschranzen, Zeremonienmeister und Hofkomponisten, all die Typen, die Karl-Georg Hirsch schon immer gern im Exlibris-Format abgebildet hat. Wer sich von Hirsch ein solches Aufkleberchen fรผr die Bรผcher gewรผnscht hat, hat lauter deftige kleine Kunstwerke bekommen, die ihre Zeitkritik meist erst im Detail entlarven.

Und genau diese Details haben Jendryschik auf Gedanken gebracht. Er hat den Dargestellten eine Geschichte verpasst, ein Malheur, ein kleines oder groรŸes Scheitern. Stรผck fรผr Stรผck entsteht ein Panoptikum der Eitelkeiten und Todsรผnden. Und da der Dichter die Handlung an den Hof obskurer kleiner Kรถnige verlegt, darf sich jeder gemeint fรผhlen und keiner beim Namen genannt. Obwohl man die Typen tagtรคglich in den Nachrichten sieht. Die einen wie die anderen.

Denn solange der untertรคnigste Bรผrger nur erschrocken die Launen seines Herrchens beobachtet, ist die Sache noch nรคrrisch. Man kann sie bedauern, all diese Verschreckten, weil man das alles selbst oft genug erlebt hat im Dunst der Mรคchtigen, denen nie etwas lieber war und ist, als die ihnen BotmรครŸigen zu schikanieren und ihre Ohnmacht spรผren zu lassen. Frรผher wie heute. Denn eins hat der im Osten Lebende gelernt und lernen mรผssen: dass sich die Zeiten und Verhรคltnisse wohl รคndern kรถnnen, die Menschen aber nicht.

Und wer gestern Hofschranze war, darf heute mal Kรถnig sein. Oder macht sich zum Kรถnig, wenn er nur kann. Das steckt nicht nur in den von Jendryschik so farbenreich geschilderten Todsรผnden, sondern mรผndet ohne Ruckeln und Holpern direkt in โ€žHerrschaften und Verhรคltnisseโ€œ, die durchaus auch erschrecken dรผrfen. Denn hier zeigen Hirschs Gestalten genauso wie Jendryschiks kleine Texte, wie schnell der emporgekommene SpieรŸer zum kleinen Diktator wird. Das Bild vom unbarmherzigen Fรผhrer steckt tief in der Seele des Kriechers: โ€žAch, wenn ich doch nur die Macht hรคtte โ€ฆโ€œ

Dann passiert genau das, wovon Kรถnigstreue und Populisten trรคumen. Dann wird gestraft, was die Peitsche hรคlt. Dann zweigt man sich die Gelder fรผr ein Schloss ab und beschรคftigt ein paar โ€žRaufboldeโ€œ, mit denen man jeden Widerspruch im Keim erstickt. Spรคtestens da darf man wirklich erschrocken sein. Ist denn der Mensch nicht zu retten? Zumindest nicht, wenn es um die Lust an der Macht geht. Das weiรŸ man eigentlich, wenn man gelernt hat, sich genau von diesen Leuten fernzuhalten.

Was ostwรคrts der Elbe stets ein guter Rat war. Es steckt sehr viel gut gewachsener ostdeutscher Humor in diesen Geschichten und Bildern. Den man zu Recht vermisst, wenn man die offiziellen Nachrichten schaut. Da gibt es ihn nicht. Da gibt es nur die Typen zu sehen, die Hirsch und Jendryschik nur zu gern portrรคtieren und karikieren. Die heimischen und die zugewanderten Hassprediger, Gefolgschafter, Neureichen, Amts- und Gutsbesitzer. Deren Vorhut kam ja sofort, als es 1990 wieder was zu verteilen und in Besitz zu nehmen galt.

Als wรคre dies ein Neuland gewesen, nur zeitweilig nicht erreichbar. Und Geschichten zur Mittagsfrau, die eigentlich die Sichelfrau ist, gleiten unverhofft hinรผber in das Skurrilitรคtenkabinett der Vergangenheit mit all seinen dubiosen Spitzeln, Behรถrden, Ordenstrรคgern. Die aber beide Kรผnstler nicht in ihrer Karikatur zeigen, sondern in ihrer Hilflosigkeit und Abhรคngigkeit, wohl wissend, dass auch die Macht ihre Zwรคnge hat und ihre Laiendarsteller in Rollen zwingt, aus denen sie nicht mehr herauskommen.

Logisch, dass das dann fast unmerklich hinรผbergleitet aus den alten Geschichten in die neueren Geschichten, in denen die Hochspringer den Moment des Triumphes niemals genieรŸen dรผrfen, weil der Stadionsprecher schon den Absturz beschwรถrt. Fรผhlt man sich da an die Tonart unserer lamentierenden Medien erinnert, die selbst im sportlichen Triumph immer schon den Makel und das Versagen wittern?

Man mag da wirklich kein Hochspringer mehr sein, kein Rennkรคmpfer auf der Radrennbahn, kein Herr Ballinger, der immerzu hinter sich fasst, weil er seinem eigenen Leben zu schnell enteilt. Und schon gar keiner von den Herren in Nadelstreifen, die nie an etwas schuld sind, schon gar nicht, wenn andere Leute ihre Reden ans Gesocks ernst genommen haben und zur Hatz schritten. Was sich nicht wirklich viel unterscheidet von den Schรถnrednern, die von Solidaritรคt singen, aber hinterher beim Heimmarsch mit dem Ellenbogen in den StraรŸengraben stoรŸen, was ihnen in ihrem Gehege als nicht dazugehรถrig erscheint.

Nein, unser Land ist nicht in Ordnung. Zusammengewachsen ist es sowieso nicht. Die Schauspieler auf der Bรผhne haben gewechselt. Die Eitelkeiten sind geblieben. Und die falschen Freundlichkeiten derer, die auf der Bรผhne den eisernen Handschlag zelebrieren, wรคhrend sie hinterrรผcks die Messer probieren.

Geht es nur Jendryschik und Hirsch so? Haben sie einfach zu viel erlebt von den beiden deutsch-deutschen Halbherzigkeiten? Wahrscheinlich nicht. Dazu wissen beide zu gut, dass Kรผnstler eh nichts verรคndern und lieber vermeiden, als Portrรคtmaler bei Hofe angestellt zu werden. Die sanfte Warnung des Kรถnigs im Nacken, nur ja nicht zu gut zu werden im Portrรคtieren, nicht wahr?

Bestenfalls dรผrfen sie den Hofnarren spielen und kรถnnen von Glรผck reden, wenn der neue Kรถnig nicht allzu klug ist. Und in gewisser Weise ist auch das Dasein der Kรผnstler auรŸerhalb der kรถniglichen Empfรคnge und Ordensverleihungen ein Dasein bei Hofe, mรถglichst weit genug weg, damit die Raufbolde nicht gleich wissen, wo sie die Kรถpfe holen kรถnnen.

Weit genug weg, um ein paar wahre Worte รผber die Herrschaften verlieren zu dรผrfen, die ihren Humanismus immer dann entdecken, wenn sie sich sicher fรผhlen in ihren Palรคsten. Da kann man dann mal gnรคdig sein. Sich ein bisschen herabbeugen zu den nun so angestrengt Schweigenden. Ist der Kรถnig nicht herzallerliebst?

Natรผrlich ist er das.

Die Sichelfrau wird er nie treffen. Die treffen nur diese Emsigen unten im Lande, die meinen, sie mรผssten doch immerfort FleiรŸ und Leistung beweisen. Wem auch immer. Ein Schnitt, ein bisschen Blut. Und wer fleiรŸig war, verwandelt sich in einen Schatten im Kahn, der aufs andere Ufer fรคhrt. In dem treffen sich alle, die Emsigen und die Bรผttel, die Eitlen und die Verwunderten, die sich schon gar nicht mehr dazugehรถrig empfanden.

Vielleicht auch der verwundete Adler, der nicht begreift, warum der Zaunkรถnig dagegenhรคlt und ihm quasi den Vogel zeigt, entsandt von den Pazifisten, denen das Abwehrgekreisch des Adlers lรคngst auf die Nerven geht. Stimmt schon. In den Gehรคusen der Macht ist erstaunlich viel kriegerischer Lรคrm, viel Theater und falsches Lรคcheln. Die Stille ist auf den Feldwegen der Lausitz zu Hause, wenn die Sichelfrau umgeht. Die Sorben wissen das noch und flรผstern hinter vorgehaltener Hand von ihr.

So oszillieren Bilder und Texte im Grunde zwischen zwei Welten und erzรคhlen eigentlich von der stillen Heiterkeit der in der Provinz Gebliebenen, wenn sie dem Puppentanz auf der groรŸen Bรผhne zuschauen. Oder dem in der Nachbarschaft. Macht der Hofgรคrtner wieder, was der Kรถnig in seiner โ€žWeisheitโ€œ sich gerade gewรผnscht hat? Der Arme. Am Ende bleibt ihm nicht mal ein Grab auf dem selbst gestalteten Friedhof. Darum geht es eigentlich die ganze Zeit in den zunehmend melancholischeren Bildern von Karl-Georg Hirsch, der โ€“ wie Jendryschik erzรคhlt โ€“ schon in den 1980ern aufhรถrte, โ€žgemรผtlicheโ€œ Bilder zu zeichnen.

Dazu waren die allgegenwรคrtigen Zeichen des Zerbrรถselns zu deutlich und zunehmend mehr. Die Bilder feierten also die schiefe Ebene, das Stรผrzen und Kopfverlieren. Und wer meinte, dass sich das nach der bekannten Wende รคnderte, der irrt.

Freudig wird so mancher, der ein Exlibris von Hirsch hat anfertigen lassen, seine Bรผcher immer wieder aufschlagen und sich freuen kann an den kopfรผber hinstรผrzenden Narren der Zeit, die so seltsam zeitlos sind, dass man ahnt, wie sich das ganze Theater eigentlich anschaut auf einem verlassenen Feldweg irgendwo in ostdeutscher Provinz, wenn am Horizont nur eine dรผrre Frau mit Sichel spaziert, vielleicht gefolgt von dem dรผnnen Alten mit der Sense, die sich lebhaft zu streiten scheinen. Oder auch nicht. Wie das so ist mit alten Paaren, die immer schon wussten, was sie aneinander haben.

Manfred Jendryschik, Karl-Georg Hirsch Die Sichelfrau. Herrschaften und Verhรคltnisse, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2020, 25 Euro.

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