Wer Arvo Pärt noch nicht kennt, dem kann man nur empfehlen, sich einige seiner ruhigeren Stücke anzuhören – vorm Aufblättern dieser Graphic Novel oder während des Lesens. Denn was Joonas Sildre hier gezeichnet hat, ist der Versuch, die Musik des vielleicht berühmtesten aller Esten in Bilder zu verwandeln. Und das auch noch mit Pärt als Hauptfigur.
Und wenn man sich hineinhört – etwa in „Spiegel im Spiegel“ – merkt man ziemlich bald: Das klingt so unvertraut nicht. Das kommt einem bekannt vor und man hat es wahrscheinlich auch schon oft gehört, angespielt in Filmen oder Dokumentationen. Es gibt wohl kaum einen Musiker, der so sehr den Klang unserer Zeit getroffen hat, das Melancholische, das Kosmische, das Evolutionäre.
All das, was wir so wenig mit dem in Einklang bringen können, was uns tagtäglich als Werbung, Politik und Überdrehtheit angedreht wird. Ganz so, als läge eine gigantische Stille hinter dem ganzen Gelärme unserer Zeit – die man aber nur hören kann, wenn man den ganzen Klimbim einmal ausschaltet.
Was schwer ist. Darum geht es eigentlich in Arvo Pärts Lebensgeschichten, auch und gerade deshalb, weil sie zum großen Teil in der Zeit zur Grundmelodie wurde, als Estland Teil der Sowjetunion war – aus estnischer Sicht: okkupiert. Was eben auch bedeute, dass in Moskau bestimmt wurde, wie Musik zu sein hatte, was erlaubt war und was indiziert. Auf dem Feld der Musik fanden diese dogmatischen Schlachten statt wie auf dem der Wissenschaft, der Malerei, der Literatur. Alles wurde politisiert.
Und stellenweise wirkt dieser musikbegeisterte Junge in seinem späteren Leben, als er schon beim estnischen Rundfunk arbeitet und Filmmusiken komponiert, wie aus „Meister und Margarita“ von Bulgakow entschlüpft, weltfremd in dem Sinn, dass ihm die Welt der verordneten Dogmen fremd bleibt. Und er befremdet durch diese Welt läuft, weil er mit alldem nichts zu tun hat. In ihm wühlt etwas anderes, die Sehnsucht nach einem Komponieren, das ihn wirklich erfüllt.
Und er sucht lange.
Das füllt eigentlich den größten Teil dieser Graphic Novel, die der Graphicdesigner Joonas Sildre thematisch komponiert hat nach den großen Kompositionen Pärts: Credo, Silentium, Tabula Rasa. Und das nicht zufällig. Denn um sich selbst zu finden, muss Arvo erst ein halbes Leben leben, immer Neues ausprobieren, sich mit den Musikzensoren seiner Zeit auseinandersetzen, den völligen Bruch mit der Gesellschaft riskieren, bevor er den Schlüssel zu sich selbst und zu seiner Musik im orthodoxen Kloster von Kuremäe findet.
Mit Credo wird ja schon der religiöse Aspekt seines Schaffens benannt. Zu dem er aber spät fand. Denn auch in Estland setzte die Sowjetunion ihre ideologische Säkularisierung durch. Und schüttete das Kind mit dem Bade aus. Übrigens auch ein Thema unserer Gegenwart. Denn credo heißt zwar „ich glaube“. Aber Künstler haben es immer auch als Selbst-Bekenntnis begriffen und benannt. Als Bekenntnis zum eigenen, unverstellten Blick auf die Welt, wie sie sie sahen und sehen.
Und so gesehen ist Pärts Werdegang natürlich ein typischer für die Menschen im sozialistischen Osten: Hineingewachsen in eine Welt von Dogmen, Richtlinien, Erwartungen, die eigentlich die Mauern mitten durchs Denken und Fühlen zogen und die ihn praktisch zum Dissidenten machten, obwohl er das nie sein wollte.
Zum Außenseiter, obwohl er doch gehört und verstanden werden wollte. Und er hat ja Glück: Immer wieder begegnet er Menschen, die ihn verstehen, die ihn auch ermutigen – angefangen bei seiner Musiklehrerin, die ihm einen Rat mitgibt, den er erst sehr spät wirklich begreifen wird.
Spiegel im Spiegel for Cello and Piano (Arvo Pärt)
Und der letztlich schon auf die von ihm entwickelte Tintinnabuli-Musik hinzielt, die heute – wie Sildre feststellt – in den Konzertsälen in aller Welt zu hören ist. Doch um dahin zu kommen, musste sich Pärt auch erst intensiv mit der gregorianischen Musik beschäftigen und mit der Stille, in die die Mönche des Mittelalters noch hineinsangen. Da wirkte Musik noch ganz anders, brauchte es kein großes Orchester, nur die Stimme als idealstes Instrument. Und die „Liebe zu jedem einzelnen Ton“.
Indem Sildre diese Suche beschreibt und Pärts teilweise große Verzweiflung in seitenweisen Bildserien darstellt, in der der alternde Komponist letztlich den Sprung über den Abgrund wagt, wird sichtbar, wie weit der Weg meist ist von dem Wunsch des Kindes, einmal große Musik komponieren zu wollen, bis zu dem Moment, da der vom Leben gebeutelte Mann endlich den Punkt erreicht, an dem er spürt, was er tun muss.
Und dabei spielt Johann Sebastian Bach zeitlebens eine Rolle für Pärt. Anfangs staunt man. Denn was haben die frühen Kompositionen Pärts eigentlich mit Bach zu tun? Aber je näher Pärt seinem Credo kommt, also letztlich sich selbst und seiner ganz persönlichen Beziehung zur atemberaubend intensiv erlebten Welt, umso näher scheint sich auch die Art des Komponierens zu kommen. Auch wenn es bei Pärt geradezu einfach wirkt, aller Coloraturen entkleidet. Ganz auf den (einzelnen) Ton reduziert. Und trotzdem passiert ganz Ähnliches wie bei Bach.
VOCES8: Nunc Dimittis – Arvo Pärt
Etwas, was man als Musikliebhaber immer wieder erlebt, wenn man sich ganz auf Musik einlässt. Die sich – wie hier mit einer „Nunc Dimittis“-Aufnahme von Voces8 – wie ein in Musik gesetztes Bild der Welt hören lässt. Der wirklichen Welt mit Regen, Sturm, Nebel, ziehenden Wolken, rauschenden Wäldern. Wortlos, so, wie sie ist, wenn wir aufhören, dem Geplapper aus dem Lautsprecher zuzuhören oder den grantigen Belehrungen der Leute, die überall immerzu recht haben wollen.
Je weiter man blättert in dieser im Grunde auf Schwarz und Weiß reduzierten Bild-Geschichte, umso besser versteht man, warum sich Arvo Pärt vor der Begegnung mit dem großen Schweigen wie eingesperrt und verirrt gefühlt haben muss, in einer Sackgasse gelandet, wo eine unübersteigbare Mauer das Weitergehen verhindert.
In dem Moment, in dem die Rechthaber in Moskau und Tallinn meinen, jetzt die Zwölftonmusik auch im gehüteten Osten zulassen zu dürfen, verabschiedet sich Pärt von aller komplizierten Technik und allem instrumentellen Aufwand. Er sucht das ganz Große im ganz Einfachen. Auch darin wohl Bach sehr nahe. Auch in einem jetzt aufkeimenden Vertrauen in den einzelnen, unverstellten Ton.
„Der Mensch ist nicht Schöpfer, sondern Vermittler der Töne“, zitiert ihn Sildre, kurz bevor er seinen gezeichneten Helden den Sprung über den Abgrund wagen lässt – ins „Tabula Ras“, in dem wir dann den Arvo Pärt sehen, den die Welt kennt. Der sich nicht mehr beirren lässt von den Funktionären im Verband, den beleidigten Ideologen in Moskau, die ihn 1980 regelrecht aus dem Land schmeißen. Und damit heimatlos machen.
Das ist nicht ganz wie die Biermann-Affäre in der DDR. Eher wie der traurige Abschied Manfred Krugs nach der Biermann-Affäre. Denn Künstler sind mit vielen Fäden mit dem Ort verbunden, an dem sie groß geworden sind. Heimat ist mehr als Landschaft oder reine Wohnadresse. Es ist auch die Liebe, die ein Publikum mit seinem Künstler verbindet, ist das gemeinsam Erlebte und Durchstandene. Und es ist auch bei Pärt ein Grundton, der eng mit seiner Heimat Estland verbunden ist.
Wer Künstler entwurzelt, macht sie oft ganz mit Absicht sprach- und schutzlos. Und so wurden auch die folgenden 30 Jahre für Pärt eher eine Odyssee durch eine Welt, die ihm eigentlich fremd war, wo man ihn zwar spielte, ehrte und auch verstand. Aber 2010 kehrte er nach Estland zurück. Dorthin, wo man ihn bei allen politischen Umwälzungen ins Herz geschlossen hatte. Nicht nur, weil er berühmt war.
„Zwischen zwei Tönen“ ist die erste Graphic Novel, die in estnischer Sprache entstand. So gesehen auch ein einfühlsames Bekenntnis zu Estlands berühmtem Komponisten und gleichzeitig ein in Bilder gefasster Zugang zum Werk dieses Komponisten, der nie passen wollte, sondern immer auf der (zuweilen verzweifelten) Suche war nach dem richtigen Ton. Und da sich ja die Kunst-Kritiker das ganze 20. Jahrhundert lang stritten über Moderne und Klassik, die richtigen Maßstäbe und das heilige Erbe, findet beiläufig auch diese Diskussion vor allem in Gesprächen Arvo Pärts mit seinen Freunden statt.
Eine letztlich müßige Diskussion, die im Grunde zeigt, wie anmaßend der Versuch von Politikern und Kritikern ist, Musik kanonisieren zu wollen und die Komponisten der Gegenwart gegen die Genies der Vergangenheit auszuspielen. Bach wird immer noch gespielt.
Aber nicht, weil er genialisch 300 Jahre in die Zukunft sehen konnte, wie Pärt feststellt, sondern weil er es schaffte, das Menschliche, die ganz eigene Faszination vom Leben in Musik zu setzen. Womit Pärt letztlich den Punkt benennt, an dem sich beider Kompositionen treffen. Und wo alle guten Kompositionen am Ende ankommen: das intensive Berührtsein vom Leben, vom Dasein oder – religiös ausgedrückt – Gottes Schöpfung.
Wer sich nicht mehr faszinieren lassen kann, wird mit Bach so wenig anfangen können wie mit Pärt. Und das dürfte kein besonders schöner Zustand sein – durch eine Mauer (aus Lärm) getrennt von der Intensität des Seins. Was eigentlich sehr verständlich macht, wie dieser suchende Komponist durch die Begegnung mit dem Kloster den Weg zur Stille findet. Einer Stille, in der jeder einzelne Ton wieder Gewicht und Fülle bekommt.
Logisch, dass er bei einer Generalprobe das Orchester drängen muss, immer langsamer zu werden. Das Furiose des schmetternden Wagner-Zeitalters steckt ja vielen Musikern in den Knochen. Aber es überschmettert eben alles, verwandelt alles in ein riesiges Jagen und Forcieren, als müssten immerfort immer neue, gigantische Schlachten geschlagen werden.
Logisch, dass Menschen dabei taub werden für die eigenen Gefühle, Sehnsüchte, die Stille jenseits des Lärms. Ihre Reinheit, in der das faszinierende Instrument menschliche Stimme erst wirklich zu klingen beginnt. Das Buch ist dadurch mehr als das Lebensdrama eines Komponisten, der unter widrigen Umständen zu sich selbst fand.
Es ist – neben dem Blick in eine recht trübselig verwaltete Vergangenheit – auch eine Einladung, sich auf diesen Arvo Pärt einzulassen und seine scheinbar so einfachen Kompositionen, die die Musikrichter ratlos gemacht haben, das Publikum aber in ihren Bann schlagen. Und die Dokumentarfilmer sowieso, die hier den Sound finden, der scheinbar nahtlos passt auf die Musik des lebendigen Kosmos.
Joonas Sildre Zwischen zwei Tönen, Voland & Quist, Berlin und Dresden 2021, 28 Euro.
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