Manchmal braucht es Zeit, richtig viel Zeit, bis Menschen รผberhaupt bereit sind, ihre eigene Geschichte mit der Nรผchternheit zu betrachten, die sie so zeigt, wie sie wirklich war. Ungefรคhr 30 Jahre. Als Cordia Schlegelmilch 2001 erstmals ihre Fotos in Wurzen ausstellte, die sie in den โWendeโ-Jahren gemacht hatte, reagierten viele Wurzener ablehnend. 2019 war das vรถllig anders.
Da stellte die Sozialwissenschaftlerin Cordia Schlegelmilch ein weiteres Mal ihre Fotos aus den frรผhen 1990er Jahren in Wurzen aus und verรถffentlichte parallel im Sax-Verlag das Buch โEine Stadt erzรคhlt die Wendeโ, in dem sie noch einmal all jene Wurzener ausschnittweise zu Wort kommen lieร, die ihr 1990 und in den Folgejahren Auskunft gegeben hatten innerhalb ihres soziologischen Forschungsprojekts zum Umbruch in der Kreisstadt an der Mulde. Sie kam damals aus Westberlin. Ihre Feldforschung in Wurzen hatte eigentlich zum Ziel, den biografischen Umgang der Wurzener mit der Transformation zu untersuchen.
Aber schon โEine Stadt erzรคhlt die Wendeโ machte sichtbar, dass Stรคdte nicht einfach nur Aufenthaltsorte sind. Menschen verรคndern ihre Stรคdte, Stรคdte verรคndern die Menschen. Nichts bleibt ohne Wirkung. Und die, die von diesen Verรคnderungen gebeutelt werden und mitgerissen, sind die schlechtesten aller Geschichtsschreiber.
Da kam Schlegelmilch ihre unabhรคngige Beobachterposition zugute: Sie war nicht involviert in die alten Geschichten von Arbeit, Mitlรคufertum, Verletzungen, Frust, Hass. Selbst die Wahlplakate auf den Straรen konnte sie einfach nur registrieren, mit den Mitarbeiter/-innen der alten Stadtverwaltung sprechen, den Leuten von der Wohnungsverwaltung, Ladeninhabern, Gewerkschaftern, arbeitslos gewordenen Menschen.
Und sie konnte die ziemlich heruntergewirtschaftete Stadt so ohne Vorurteile betrachten, ihre in Grau bewahrte Wรผrde, die bewahrte Schรถnheit einer noch von mittelalterlichen Strukturen geprรคgten Stadt. Eine Schรถnheit, die sich schon bald der Gnadenlosigkeit โeiner anderen Zeitโ gegenรผbersah, die alles nach seiner Verwertbarkeit betrachtete und bis heute betrachtet. Auch die Menschen, die das zwar merken, aber daraus nicht unbedingt logische Schlรผsse ziehen. Auch in Wurzen erzรคhlen die Wahlergebnisse davon.
Worum es Schlegelmilch aber nicht geht. Nach der Ausstellung von 2019 wurde der Wunsch mehrfach ausgesprochen, es mรถge die Fotografien doch auch einmal in einem Buch geben, das sich ganz allein diesem Thema widmet: der sichtbaren Transformation der Stadt. Denn das Wurzen der Gegenwart ist natรผrlich nicht mehr das von Grau und Verfall gezeichnete Wurzen von 1990/1996. Der Sanierungsprozess hat zwar lange gedauert, viel lรคnger, als es den Wรคhlern 1990 versprochen wurde. Viele eindrucksvolle Gebรคude wurden gerettet. Andere verschwanden, wichen einer Neubebauung, die nicht nur Schlegelmilch in gewisser Weise als stereotyp empfindet.
Aber die Vergleichsbilder aus der Wenceslaigasse, der Badergasse oder der Jacobsgasse zeigen, dass Wurzen durch die Sanierungen auch ein neues Flair erhalten hat. Auch wenn fast รผberall die Ladengeschรคfte wechselten und fรผr manchen Grรผnder der frรผhen 1990er Jahre der Start in die Selbststรคndigkeit mit einem Scheitern endete. Da scheiterten wirklich Trรคume. Und das Sterben der Betriebe, die sich fast alle dicht beim Stadtzentrum befanden, sorgte fรผr tiefe Frustration gerade bei jenen, die vorher in ihrer Arbeit Achtung und Stolz erfahren hatten.
Man vergisst viel zu schnell, wie sehr diese Entwertung eines ganzen Arbeitslebens von den Betroffenen auch als Entwertung ihrer ganzen Persรถnlichkeit empfunden wurde. Und dass der Osten das in einem Ausmaร erfahren hat, wie es keine Region im Westen erleben musste, auch nicht das Ruhrgebiet. Und gleichzeitig stand auch eine 19.000-Einwohner-Stadt wie Wurzen 1990 vor einem gigantischen Investitionsstau, von dem auch 1996, als Schlegelmilchs Projekt endete, nicht absehbar war, wann er abgearbeitet sein wรผrde und wer hier eigentlich kรผnftig Arbeitsplรคtze anbieten wรผrde, die den Menschen Zuversicht und der Stadt wenigstens ein paar finanzielle Einnahmen verschaffen wรผrden.
Glรผck fรผr Wurzen, dass in all der Zeit auch erhebliche Fรถrdermittel zur Denkmalsanierung flossen, auch wenn einige Bauensembles, die Cordia Schlegelmilch als unersetzlich empfand, dennoch einer Neubebauung weichen mussten. Und gleichzeitig dokumentieren ihre Fotos auch, wie reich Wurzen selbst 1990 noch an gesellschaftlichen Treffpunkten war wie Kinos, Kneipen, Eiscafรฉs und Dutzenden kleinen Geschรคften, deren Zukunft freilich ebenfalls in den Sternen stand. Das Kino ist dicht, die einst reiche Kneipenlandschaft ist verschwunden. Und Discounter haben auch in Wurzen einen Groรteil des einstigen Einzelhandeln aus den Straรen gefegt.
Zu jedem der sieben Abschnitte erzรคhlt Schlegelmilch von diesen Verรคnderungen und von ihren Befunden und Gesprรคchen aus den frรผhen 1990er Jahren und den Menschen, bei denen sie zu Besuch war. Menschen, die sich oft in vรถllig verschiedener Weise um ihre Stadt sorgten. Was die Bilder mit den Wahlplakaten und Wahlparolen noch schizophrener macht, weil die von Kรคmpfen erzรคhlen, die Menschen immerfort in feindliche Lager teilen. Die Wut, die sich heute in den โsocial mediaโ austobt, durchloderte schon die Wahlen im Osten 1990. Und sie ist nie erloschen. Sie teilt die Gesellschaft des Ostens bis heute. Ganz so, als wรคre das genau so gewollt gewesen.
Und nur die Auรenstehende kann unbefangen mit allen sprechen und wird akzeptiert, weil sie jedes Schicksal gelten lรคsst und auch die Trauer teilen kann, die viele Wurzener mit den Verlusten auch im Stadtbild verbinden. Irgendwie verknรผpft sich in der sich immer wieder verรคndernden Architektur einer Stadt doch immer wieder das Leben aller zu etwas als gemeinsam Empfundenen, auch dann, wenn die einen weiterhin arm sind, weil sie nach 1990 nie wieder auf einen goldenen Zweig gekommen sind, und andere ihren neuen Reichtum mit einem schmuck sanierten Haus zeigen kรถnnen.
Verschwunden sind freilich die alten Leute, die in den frรผhen 1990er Jahren โ oft mit Fahrrad โ noch zahlreich die Straรen und Plรคtze bevรถlkerten und selbst vorm Gemรผseladen (โVitaminquelleโ) eifrig miteinander redeten. Damals schien Wurzen รผber Nacht vergreist, weil die Betriebsschlieรungen gerade die jungen Leute auch in Wurzen zum Wegziehen veranlassten. Befรถrdert auch dadurch, dass die Wohnsituation in den heruntergewirtschafteten Hรคusern noch lange prekรคr blieb.
Und das vom Demokratischen Aufbruch verheiรene โWirtschaftswunder DDRโ blieb ja bekanntlich aus, auch wenn einige Wurzener Unternehmen tatsรคchlich den Sprung in die neue Zeit geschafft haben.
Das Buch ist auch eine kleine Versรถhnung, auch mit diesen im Nachhinein ziemlich schรคbig wirkenden frรผhen 199er Jahren, in denen fliegende Hรคndler, Versicherungsvertreter und eiligst erรถffnete Zelt- und Mini-Mรคrkte das Bild auch in Wurzen bestimmten, wรคhrend die meisten Menschen sich vรถllig neu orientieren mussten, umschulten oder glรผcklich eine der kostbaren ABM-Stellen ergatterten.
Dass andere in den Jahren davor noch unter viel schรคbigeren Bedingungen hausen mussten, macht am Ende des Buches ein Besuch in der verlassenen Kaserne der Sowjetarmee deutlich. Aber selbst die alte Wasserglasfabrik erzรคhlt vom Scheitern einer Gesellschaft, die alles zentral bestimmen, regeln und steuern wollte. Und dabei auch Menschen erzog, die die Versprechen eines gemeinsam erwirtschafteten Wohlstands ernst nahmen, so ernst, dass sie 1990 nur zu gern denen folgten, die jetzt ihren Wohlstand auf westlich erprobte Weise versprachen.
Ein Wohlstand, den es so nicht gab, aber doch genug, damit sich die Wurzener des Jahres 2019 doch eher versรถhnt zeigen mit ihrer Stadt und dem, was aus ihr geworden ist. Jetzt kรถnnen sie auch auf die Ereignisse vor 25 bis 30 Jahren zurรผckschauen und akzeptieren, dass sie tatsรคchlich in einer Kulisse gelebt hatten, die voller Tristesse war. Das liegt nicht an der noch analogen Qualitรคt der Fotos von Cordia Schlegelmilch, die man jetzt im Vergleich zu den jรผngeren Digitalaufnahmen sehen kann. So sah es 1990 ja nicht nur in Wurzen aus, sondern รผberall im Osten.
Der Stolz der Arbeiter und Arbeiterinnen auf ihre tรคgliche Arbeit in heruntergewirtschafteten Fabriken hatte eben auch die Kehrseite, dass das Unternehmertum jedes Einzelnen lahmgelegt war. Und wer persรถnlich nichts unternehmen kann, weil entweder die Materialien fehlen oder das Geld oder die Genehmigung oder das Recht, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, der landet in einem Raum der verordneten Hilflosigkeit.
Mancher im Osten ist nie wieder da herausgekommen. Andere haben sich sogar in diesen harten 1990er Jahren mental darin einfangen lassen. Denn der grรถรte Fehler der groรen Sanierer nach 1990 war immer, die Menschen vor Ort kaum bis nie einzubeziehen, wirklich teilhaben zu lassen am โAufschwung Ostโ, den man irgendwie versuchte zu importieren.
Auch das hat fรผr jede Menge Frust und tiefes Misstrauen in politische Instanzen bis heute gesorgt.
Und da steht man nun quasi mit Cordia Schlegelmilch vor dieser vielerorts viel zu schรถn und blank sanierten Stadt und fragt sich natรผrlich: Sollten die Bewohner/-innen nicht glรผcklich sein?
Nicht wirklich.
Denn: Transformationen enden nie. Auch dann nicht, wenn sich Bevรถlkerungen von einer derart harten Transformation wie in den 1990er Jahren endlich erholt haben. Die Sehnsucht auf die Ankunft in einem ruhigen Hafen wird nicht erfรผllt. Und gerade das spรผrt man als Mensch auch, wenn man eigentlich nicht viel Macht hat รผber die Gestaltung des eigenen Schicksals.
Eigentlich mรผsste Cordia Schlegelmilch wieder genauso wie 1990 bis 1996 herumlaufen und die Menschen interviewen und zum Reden bringen รผber ihr Befinden mitten in einem Umbruch, von dem niemand weiร, wie wir alle am Ende daraus hervorgehen. Denn nichts bleibt wie es war. Nicht einmal aus Stein gebaute Stรคdte. Wurzen hat sein Antlitz in diesen 30 Jahren sehr grรผndlich geรคndert, รคhnelt in vielem heute eher den kleinen Stรคdten im Westen, die heute ganz รคhnliche Sorgen mit Abwanderung und รberalterung haben und einem Verlust der Gewerbevielfalt in ihrem alten Zentrum.
Das wรคre ein nicht ganz unwichtiges Forschungsprojekt. Aber solche Forschungsprojekte sind selten. Sie passen nicht in die Weihnachtsmannmentalitรคt der geldgebenden Politik, die sich so gern als der Weisheit letzten Schluss versteht und doch nur mit Augenbinde in eine Zukunft tastet, die ganz woanders entsteht. Manchmal an der Bushaltestelle in Wurzen oder am Bahnhof, wo jemand aus dem Zug steigt oder einsteigt und wegfรคhrt. Manchmal fรผr immer. Mit einem Buch im Gepรคck, das mit sprechenden Bilder zeigt, wie rasant der Wandel einer Stadt aussehen kann, in der sich scheinbar die ganzen Tage lang immer nichts รคndert.
Cordia Schlegelmilch Wurzen. Ankunft in einer anderen Zeit, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2020, 19,80 Euro.
Eine Stadt erzรคhlt die Wende: Wie die Wurzener die rasenden Verรคnderungen von 1989 und 1990 erlebten
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