Es ist eine ganz persönliche Art, mit der Verleger Michael Faber den Brexit zum 1. Januar 2021 gewürdigt hat: Er hat eins der unbekannteren Werke von Gilbert Keith Chesterton, den die meisten wegen seiner Father-Brown-Geschichten kennen, aufgelegt: „Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer missachteter Dinge“. Ein Buch, das schon einmal ein augenzwinkerndes Statement zur deutsch-britischen Beziehungskiste war.

Denn im Jahr 1917, mitten im Krieg, in den sich an der Westfront auch die deutschen und britischen Truppen gegenüberstanden, veröffentlichte der Verlag der Weißen Bücher diese humorvollen Essays von Gilbert Keith Chesterton. Der Verlag war einer der vielen Imprint-Verlage von Kurt Wolff, der mit seinem Verlag damals noch in Leipzig ansässig war.

Die englische – bzw. amerikanische – Originalausgabe war 1911 unter dem Titel „A Defence of Nonsense: And Other Essays“ in New York erschienen. Jetzt müsste man noch ein ordentliches digitales Archiv des englischen Magazins „The Illustrated London News“ haben, um möglicherweise die Erstveröffentlichungen der einzelnen Essays zu finden, denn seit 1905 war Chesterton Kolumnist bei dieser Zeitschrift.

Auch der Hinweis auf Franz Blei – immerhin selbst ein begnadeter Schriftsteller und Essayist – ist nicht ganz unwichtig. Denn er war zwar auch ein umtriebiger Übersetzer (u. a. von Oscar Wilde und Walt Whitman), aber beim Übersetzen tickte man damals noch anders. Irgendwie ging man davon aus, dass die deutschen Leser mit einigen – in diesem Fall englischen – Persönlichkeiten und Vorgängen nicht vertraut sein könnten. Und so übersetzte Blei auch gleich mal die englische Personage, die Chesterton aus sehr satirischen Gründen anführt, in eine – damals vertraute – deutsche Personage.

Das Ergebnis ist: Man kann mit den englischen Personen, die Chesterton erwähnte, eher etwas anfangen als mit den deutschen, die zu Bleis Zeit irgendwie nach bekannten Personen vom Boulevard klangen. Eine typische Stelle findet man im Essay „Verteidigung unüberlegter Gelübde“ – englisch: „A Defence of Rash Vows“.

Da gibt es die schöne Stelle mit der multiplen Persönlichkeit eines Dekadenten, der vor lauter Anpassung an die Mode jeden Tag seine Persönlichkeit wechselt:

„That John Paterson should, with apparent calm, look forward to being a certain General Barker on Monday, Dr. Macgregor on Tuesday, Sir Walter Carstairs on Wednesday, and Sam Slugg on Thursday, may seem a nightmare ; but to that nightmare we give the name of modern culture. One great decadent, who is now dead, published a poem some time ago, in which he powerfully summed up the whole spirit of the movement by declaring that h could stand in the prison yard and entirely comprehend the feelings of a man about to be hanged : ,For he that lives more lives than one More deaths than one must die.‘“

Auf deutsch:

„Dass John Paterson sich mit scheinbarer Ruhe darauf freuen sollte, am Montag ein gewisser General Barker, am Dienstag Dr. Macregregor, am Mittwoch Sir Walter Carstairs und am Donnerstag Sam Slugg zu sein, mag ein Albtraum sein. Aber diesem Albtraum geben wir den Namen der modernen Kultur. Ein großer Dekadent, der jetzt tot ist, veröffentlichte vor einiger Zeit ein Gedicht, in dem er den gesamten Geist der Bewegung kraftvoll zusammenfasste, indem er erklärte, er könne auf dem Gefängnishof stehen und die Gefühle eines Mannes, der gehängt werden soll, vollständig verstehen: ,Denn wer mehr lebt als einer, stirbt mehr als einen Tod.‘“

Franz Blei hat anstelle dieser Dandys aus Chestertons London die Figuren gesetzt, von denen er 1917 annehmen konnte, dass sie dem deutschen Leser eher vertraut klingen müssten: Laurenz Steinmüller, General Kirchner, Dr. Farussi, Walter von Stubenrauch und Max Schicketanz.

Und sie klingen ja auch nach was. Vielleicht findet man die Namen auch tatsächlich in den Klatsch-und-Tratsch-Spalten damaliger Zeitungen. Oder ähnliche. Leute, die für nichts anderes leben und Aufsehen erregen, um in den Klatschspalten der Zeitung aufzutauchen, gab es auch damals schon. Und das ist eigentlich die erst bei genauerem Lesen sichtbare Qualität von Chestertons Texten, der seine Verteidigungs-Essays zwar sehr schnippisch angeht und so tut, als würde er jetzt mit echt britischem Humor die allergrößten Torheiten verteidigen.

Aber tatsächlich nimmt er etwas aufs Korn, was die ach so brave bürgerliche Welt niemals als Torheit bezeichnen würde, weil es die Kostüme der eigenen Darstellung in der Welt sind. Sei es die damals genauso lächerliche wie traurige Kostümierung selbst der Adeligen in eine schwarze, überall gleiche Uniform (damals ja auch noch mit schwarzem Zylinder, Weste und Krawatte), sodass von Prunk und Schneid vergangener Zeiten gar nichts mehr zu sehen war und eine Hochzeitsfeier genauso tragisch aussah wie eine Beerdigung. Sei es das lächerliche Verhältnis der in ihrer Kultur so weit Fortgeschrittenen zum Tod und zur eigenen Körperlichkeit („Verteidigung von Gerippen“).

Sei es die Verachtung einer von Sprachschablonen verblödeten Gesellschaft für den Slang, der nicht nur aus Chestertons Sicht mehr Poesie enthält als die veröffentlichten Gedichte der Herren Professoren. (Blei wählt hier zur Veranschaulichung das Berliner Idiom.) Chesterton tobt gegen das dumme Schönheitsideal der Antike, das in der Idealisierung zu Chestertons Zeit genauso fatal weiterwirkte wie in den heutigen Schönheits-Normierungen, die ja tausende (junger) Frauen geradezu unters Skalpell der Schönheitschirurgie treiben.

Gäbe es heute noch Magazine wie „The Illustrated London News“ und Kolumnisten mit der Begabung eines Chesterton, sie fänden noch immer genauso viel Stoff zivilisierter Verdummung, der sich aufspießen ließe. Und das nicht nur mit Genuss. Denn dieser Chesterton hat ein Gespür für die Lügen, aus denen die Bewohner der von Oberflächlichkeiten bestimmten bürgerlichen Welt ihr kleines Ich zusammenbasteln – stets bemüht, den Vorturnern der Moden alles nachzubeten und nachzuplappern.

Sei es die snobistische Verachtung für den kleinen Planeten, auf dem man leben muss, sei es die Verachtung für Denkmäler, die wie richtige Denkmäler aussehen (da kommt einem der ganze irre Leipziger Denkmalskampf in den Sinn, den Michael Faber ja auch noch als gebeutelter Kulturbürgermeister irgendwie durchstehen musste), sei es die Verachtung echter Demut – wozu der zum aufgeblasenen Ego mutierte heutige Zeitgenosse ja geradezu hingerissen ist. Bescheidenheit ist wirklich nicht die Tugend unseres Jahrhunderts – oder vielleicht auch eher jener Klasse, die sich ihr Selbstbild aus lauter teuren Versatzstücken zusammengebastelt hat.

Dass Chestertons Zeit unserer Zeit wie ein Ei dem anderen gleicht, wird deutlich, wenn er schreibt: „Die neue Philosophie der Selbstwertung und Selbstbehauptung erklärt die Demut als ein Laster.“

Da haben auch zwei große Weltkriege nicht genügt, um der Demut wieder eine Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen. Wer sich nicht verkaufen kann, nicht blendet und mehr hermacht, als er ist, existiert quasi nicht. Bekommt keine Aufmerksamkeit, wird regelrecht negiert. Das Ergebnis: Die allseitige Karriere von Blendern, Aufschneidern, Narzissten und anderen Leuten, die ihre innere Leere mit großer Show verbrämen.

Und unser verzweifelter Blick auf das Führungspersonal auf der Suche nach nur einer Person, die auch nur danach aussieht, dass sie weiß, was sie tut – und warum –, er trifft nur auf lauter Darsteller. Chesterton: „Es sind stets die Sicheren, die Selbstbewussten, welche die Demütigen sind.“

Denn sie wissen, was sie können – und was sie falsch machen können. Die Aufschneider denken nicht mal drüber nach. Man merkt schon, dass in diesem bissig kommentierenden Chesterton auch der so weltkundige Father Brown steckt, der seine Fälle ja nicht durch göttliche Ratschlüsse aufklärt, sondern weil er die Maskeraden und Selbsttäuschungen der Menschen durchschaut.

Mitsamt ihren falschen Göttern und ihrer falschen Verächtlichmachung dessen, was eigentlich alle Ehrfurcht verdient – wie unsere Erde eben, die ganze frappierende Schöpfung, die erst da wirklich beeindruckt, wo sie aufhört, der faden Ästhetik des verbildeten Bürgers zu genügen. „Höchstwahrscheinlich sind wir immer noch in Eden. Nur unsere Augen haben sich geändert.“

Dieser Kolumnenschreiber wusste eine Menge über die Folgen falscher Bildung und der Bereitschaft der zivilisierten Bürger, alles zu glauben, was ihnen irgendein Schauspieler als einzige Wahrheit verkündet. Er hätte sich wohl auch nicht darüber gewundert, wie das in unserer Gegenwart heute noch immer genauso funktioniert und die so gern Betrogenen sich nur zu gern betrügen lassen, weil sie sich auch noch etwas einbilden darauf, Auserwählte zu sein, also erwachsene Leute, die stolz darauf sind, den angelernten Blödsinn für Weisheit zu halten und auf die dummen Kinder herabzuschauen, die alles, was sie sehen, noch für echt und wahr halten.

„Die Verteidigung der Kinderanbetung“ beginnt mit einem richtig begeisterten Abschnitt über die Ernsthaftigkeit von Kindern: „Die zwei Dinge, die beinahe jeden normalen Menschen bei Kindern anziehen, sind: erstens, dass sie sehr ernst, und zweitens, dass sie infolgedessen sehr glücklich sind. Sie sind so restlos lustig, wie es nur möglich ist, wenn der Humor aus dem Spiele bleibt. Die unergründlichsten Schulen und weise Männer haben niemals die Tiefe erreicht, die in den Augen eines drei Monate alten Kindes wohnt. Es ist die Tiefe des Staunens über die Welt, und Staunen über die Tiefe der Welt ist nicht Mystizismus, sondern transzendenter Menschenverstand.“

Die meisten Menschen verlieren dieses Staunen genauso wie die Ernsthaftigkeit, mit eigenen Augen die Welt wahrzunehmen, sondern lassen sich von anderen einreden, wie sie gucken sollen – und sind dann auch noch stolz darauf, sich auf diese Weise zum Narren zu machen und für besser, klüger, gescheiter zu halten. Obwohl sie nichts davon sind.

Bestenfalls arroganter und vollgestopft mit angelernten Plattitüden. Jedenfalls nicht authentisch, was Chesterton natürlich auch dazu bringt, Dinge wie Kriminalromane, Knabenbücher und sogenannte Schundromane zu verteidigen, in denen mehr reale Welt steckt als in den ganzen Literaturstücken voller Weltverachtung, Gedankenakrobatik und stilistischer Schaumschlägerei, die man meistens für „ernsthafte“ Literatur erklärt. Obwohl das Gegenteil wahr ist.

Und genauso ist es mit dem Patriotismus, mit dem dieser Essayband abschließt, den Chesterton im Großmacht-Wahn seiner Zeitgenossen einfach nicht finden kann. Er hält es geradezu für lächerlich, wenn jemand Kolonien, Kriegsschiffe und dumme Soldaten für den Inbegriff von Patriotismus hält. Und das bei einer Nation, die in der Schule nicht mal Shakespeare behandelt. Da war er richtig sauer. Und das kommt einem doch sehr vertraut vor, wenn man die deutschen „Patrioten“ von damals und von heute danebenlegt, diese Krachmacher von der ungebildeten Sorte, die nicht mal wissen, was am eigenen Land wirklich spannend, aufregend und besonders ist.

Wer sich nicht selbst würdigen kann, der kann auch andere nicht würdigen, der kippt die Verachtung, die er seinem eigenen Vaterland gegenüber inwendig brodeln lässt, auch über die anderen aus. Ein „tauber und heiserer Jingoismus“, wie es Chesterton nennt. Und spätestens an dieser Stelle denkt man an die von „Patriotismus“ besoffenen Brexiteers, die dafür gesorgt haben, dass Großbritannien aus der EU katapultiert wurde.

Ein Chesterton hätte gewusst, was für eine windige Show die Macher dieser Komödie da abgezogen haben – mit Phrasen wie „Mein Land, im Recht oder Unrecht“, hinter denen nichts ist. Nur feierlich aufgeblasenes Gehabe, das dem Volk ein großes Theater zelebriert, das selbst die Schauspieler mit der Wirklichkeit verwechseln. Die man aber nur wahrnimmt, wenn man sie ernst nimmt. „Denn das erste aller Kennzeichen der Liebe ist Ernst: Liebe wird nicht Lügenberichte oder den leeren Sieg der Worte anerkennen. Sie wird immer den aufrichtigen Ratgeber als den besten schätzen.“

Zwei Sätze, und man fühlt sich wieder mitten hineinversetzt in das Theater um den Brexit.

Und man ahnt, warum Michael Faber dieses Buch genau zu diesem Zeitpunkt wieder herausbringen wollte. Gespickt mit Zeichnungen, in denen Egbert Herfurth seine ganz besondere Liebe zum Ewig-Britischen in Bilder fasst. Man bedauert sie natürlich, diese armen Teetrinker, dass sie sich so haben verschaukeln lassen.

Aber ganz so fremd sind die von Chesterton aufgespießten Verächtlichkeiten auch dem „patriotischen“ Deutschen nicht. Man schaut in einen Spiegel (was wir ja in den vier Jahren Brexit-Theater eigentlich auch getan haben) und erkennt, wie leicht sich ein Volk zum Narren machen lässt, wenn es ein Leben lang gelernt hat, „Gold in die Gosse und Diamanten ins Meer zu werfen“.

Das tun wir alle noch immer. Denn diesen ernsthaften Blick der Kinder oder des legendären Father Brown haben die wenigsten. Die meisten sind alleweil beschäftigt damit, jede Narretei mitzumachen, wenn es dafür nur Beifall gibt. Offline oder online, egal. Hauptsache zum Affen gemacht.

Gilbert Keith Chesterton; Egbert Herfurth Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer missachteter Dinge, Faber & Faber, Leipzig 2020, 24 Euro.

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