London hat eine, Stockholm hat eine, selbst italienische Städte wie Mailand und Bologna. Die Rede ist von der Citymaut, einer Gebühr, die Autobesitzer zahlen müssen, wenn sie mit ihrem Auto in die Innenstädte einfahren wollen. Und überall zeigt diese Citymaut positive Effekte – nicht nur bei der Luftbelastung, sondern auch bei der Verminderung von Staus und beim Aufblühen von Handel und Gastronomie. Berlin könnte in Deutschland zum Vorreiter werden.
Das Buch von Weert Canzler und Andreas Knie erzählt, wie es gehen könnte. Die beiden Sozialwissenschaftler leiten die Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Und die Idee, in Berlin innerhalb des S-Bahn-Rings eine Citymaut einzuführen, ist tatsächlich Teil der öffentlichen Debatte. Das Verkehrswendebüro hat genau das vorgeschlagen.
Dabei geht es nicht bloß um eine simple Maut, um das Stadtsäckel aufzufüllen. Richtig Sinn macht eine Citymaut nur, wenn sie Menschen tatsächlich animiert, ihre täglichen Routinen zu verändern und vor allem auch attraktive Alternativen zur Verfügung stehen. Ein Ansatz, der Berlin nicht ganz so fremd ist wie etwa Leipzig.
Schon vor dem ersten Corona-Lockdown hatte man die Pläne in der Schublade, an stark befahrenen Hauptstraßen mehr Platz für Radfahrer zu schaffen und geschützte Radwege einzurichten. Was dann im Lockdown kurzerhand auch geschah. Dazu kommt, dass Berlin sowieso schon über ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz verfügt.
Das scheinen zwar im Corona-Jahr 2020 viele Menschen „gemieden“ zu haben. Entsprechende Angstmachergeschichten zum ÖPNV hat man ja in bürgerlichen Gazetten immer wieder gelesen. Obwohl Erhebungen mittlerweile viel deutlicher zeigen, dass der Fahrgastrückgang im ÖPNV eher direkte Folge des veränderten Lebens im Lockdown war: Touristen und Messegäste fielen als Fahrgäste weg, Schüler und Partygäste blieben aus, viele City-Pendler blieben im Homeoffice. Diejenigen aber, die auch schon vor Corona mit dem ÖPNV zur Arbeit mussten, fuhren auch in der Corona-Zeit weiter.
Und nicht nur am WZB machte man sich mit ein bisschen Hoffnung im Herzen Gedanken darüber, ob man nicht genau das endlich auch für beherzte Schritte hin zu einer echten Verkehrswende nutzen könnte. Denn Umfragen zeigen schon seit geraumer Zeit, dass die Mehrheit der Deutschen dafür bereit ist. Sie warten eigentlich darauf, dass die Politik endlich die Weichen stellt.
Und in mehreren Erörterungen machen Canzler und Knie auch sehr fassbar, dass der Ball nicht bei den auf Mobilität angewiesenen Menschen liegt. Ein Großteil von ihnen ist sogar verdammt dazu, jeden Tag mit dem Auto zu fahren, weil nun einmal die deutsche Politik seit 60, 70 Jahren alle Gesetzgebung nur auf ein Ziel ausgerichtet hat: die Herstellung der autogerechten Stadt und die Platzschaffung für das Auto.
So langsam kommt diese Erkenntnis ja auch in Leipzig an. Vieles, was in der Leipziger Verkehrspolitik so vorgestrig und langsam wirkt, hat genau damit zu tun: dass spätestens bei Planung und Förderantragstellung die Vorgaben der Bundesgesetzgebung durchschlagen, die den flüssigen Verkehrsfluss erzwingt. Und damit ist nicht der flüssige Fluss von Straßenbahnen und Fahrrädern gemeint, sondern der von Kraftfahrzeugen.
Man ahnt beim Durchblättern dieses Buches so langsam, dass das Problem in den Köpfen von Ministern steckt, die nicht einmal ahnen, wie ihr Handeln von altem Denken und verfestigten Vorstellungen besetzt ist. Und wie das selbst Menschen, die eigentlich gar kein Auto wollen, dazu zwingt, eine Menge Geld für den fahrbaren Untersatz auszugeben. Wohnen und Arbeiten wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr getrennt.
Für gut bezahlte Jobs nahmen die Menschen immer längere Anfahrten und Arbeitszeiten in Kauf. Und dann begannen auch noch die Zentralisierungen, mit denen linienschlanke Politiker die Kosten der öffentlichen Angebote „optimieren“ wollten. Ergebnis: Selbst Menschen in „systemrelevanten Berufen“ mussten auf einmal weite Anfahrtswege in Kauf nehmen, auf denen der ÖPNV entweder gar keine Angebote vorhielt oder so umständlich war, dass ohne Auto ein Alltag nicht mehr zu meistern war. Und ist.
Durch Corona hat sich ja dadurch nicht viel geändert, außer dass einige privilegierte Angestellte merkten, dass ihre Arbeit auch im Homeoffice zu erledigen ist, wenn es drauf ankommt. Und dass viele Dienstberatungen und Dienstreisen nicht nur Luxus waren, sondern in der Regel völlig überflüssig, Geld- und Zeitverschwendung. Eine gut geplante Videokonferenz hätte das schon längst ersetzen können. Und wird es künftig auch ersetzen.
In „Die Citymaut“ erläutern Canzler und Knie, wie eine Citymaut in Berlin strukturiert sein könnte, damit auch jene Menschen, die bislang ihre Tagesroutinen nur mit dem Auto hinbekommen, dazu animiert werden, einfach auch mal über Alternativen nachzudenken. Und ein wichtiger Schritt dazu ist natürlich, dass jeder, der die Citymaut zahlt, damit auch gleichzeitig ein Anrecht auf die kostenlose Nutzung des ÖPNV bekommt.
Denn das eingenommene Geld für das Recht auf das Nutzen von Parkplätzen und die zurückgelegten Strecken im Mautgebiet sollte natürlich in den Ausbau des ÖPNV-Angebots fließen. Was in Berlin heißen könnte, dass aus 10-Minuten-Takten der S-Bahn dann 5-Minuten-Takte werden. Und die Bahnen auch länger in dichten Takten fahren.
Dazu müssten natürlich auch gestaffelte Mautgebühren nach der Schadstoffklasse der Autos kommen. Die niedrigsten würden E-Autos bekommen, die zwar die Luft nicht belasten, aber trotzdem Stellplätze in Anspruch nehmen.
Eine durchaus soziale Frage: Was ist das eigentlich für ein Recht, das Autobesitzer so ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen, wenn sie einen Großteil des öffentlichen Raumes einfach mit ihren privaten Autos zuparken? Was ja mittlerweile in allen deutschen Großstädten dazu geführt hat, dass die viel zu vielen Autos zum massiven Verkehrs(behinderungs)problem geworden sind. Der Wunsch vieler Stadtbürger ist groß, die Zahl der Autos drastisch zu senken.
Aber das geht nur mit einer Verkehrspolitik, die alle Alternativen auch wirklich ausbaut und bezahlbar macht. Und eine Citymaut kann genau diese Gelder erbringen. Wenn dann auch noch die Bundespolitik endlich aufwacht und tatsächlich Gesetze schreibt, die E-Mobilität (wozu auch E-Lkw, Pedelecs und E-Roller gehören) samt dem Ausbau der Photovoltaik bevorteilt, könnte das eine wirkliche Änderung unseres Denkens über Mobilität bringen.
Eigentlich gehört auch die Boden- und Immobilienpolitik dazu, denn die meisten Menschen pendeln ja jeden Tag nur so irrwitzige Strecken, weil sie über steigende Mieten regelrecht aus den Innenstädten verdrängt wurden.
Innerhalb der möglichen Mautgebiete wohnen oft jetzt schon nur noch Menschen, die sich eine Citymaut locker leisten können und auch gern so tun, als würden sie ein ökologisches Leben führen, auch wenn sie nur zu gern mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen und das Auto trotzdem vorm Haus stehen haben (oder in der Tiefgarage), obwohl alle Wege mit Rad oder zu Fuß zurückgelegt werden könnten.
Eine Mautdiskussion hat also auch immer eine soziale Dimension. Allerspätestens, wenn es um die betroffenen Pendler auf dem Land geht, die nicht einmal ansatzweise ein so eng gebautes ÖPNV-Netz haben wie die Innenstadtbewohner.
Natürlich denkt man beim Lesen dieser Erörterung zu einer „Verkehrspolitik in Zeiten des Wandels“ immer auch an Städte wie Leipzig, wo dieser Wechsel hin zu einem völlig anderen Mobilitäts-Mix ebenso überfällig ist wie in Berlin. Wir könnte das hier aussehen? Wäre auch hier eine Citymaut eine gute Idee?
Darum, die Stellplätze in der Stadt überall kostenpflichtig zu machen, kommt die Stadt gar nicht herum. Allein schon, um die Flut der Autos irgendwie zu regulieren und die Bewohner wenigstens zum Nachdenken zu bringen, ob es da nicht wirklich klüger wäre, auf Tram oder Rad umzusteigen. Wo sich ja bekanntlich der Hase in den Schwanz beißt, weil sowohl das Radwegenetz als auch der ÖPNV überall im Stadtgebiet Löcher und Lücken haben.
Es geht nur in der Kopplung, wie die beiden Autoren zu Recht feststellen. Wenn man eine Citymaut erhebt, muss das Geld , das so eingesammelt wird, zweckgebunden in den Ausbau der umweltfreundlichen Verkehrsarten fließen. Dann muss es sofort das mit der Maut bezahlte ÖPNV-Ticket geben. Und natürlich müsste in diesem Fall auch in Berlin mit eine Art Modellversuch begonnen werden, bei dem auch genau untersucht wird, wie sich das Mobilitätsverhalten ändert, was aus den Verkehrsunfallzahlen wird, der Luftqualität, den Umsätzen der Innenstadthändler usw. Und wo es zusätzliche Angebote geben muss – etwa für Handwerker.
Die beiden Autoren sprechen auch ganz bewusst vom „Paradox des Übergangs“. Denn unsere Städte und Landschaften sind in den vergangenen 60 Jahren allesamt auf die Förderung des Automobils angelegt worden, wir leben in Strukturen (nicht nur Verkehrsstrukturen), die allesamt den Besitz des privaten Automobils als Grundvoraussetzung definieren. Was jeder weiß, der auch nur auf die Suche gegangen ist nach einem gut bezahlten Arbeitsplatz, der seiner Qualifikation und seinen Ansprüchen genügt.
Aus dem näheren Wohnumfeld sind diese Arbeitsplätze in der Regel komplett verschwunden. Und wo es diese Arbeitsplätze gibt, findet man in der Regel keine bezahlbare Wohnung. Und Ärzte, Krankenhäuser, Sparkassen und Supermärkte stehen – wenn man nicht gerade in der City wohnt – auch nicht da, wo man „schnell mal mit dem Bus“ hinkommt.
Die Politik der „freien Fahrt für freie Bürger“ hat dazu geführt, dass die ach so freien Bürger leider nicht so frei sind, ein gut versorgtes Leben ohne Auto führen zu können. Die meisten sind regelrecht gezwungen, einen gut Teil ihres Lebens im Auto (und im Stau) zuzubringen. Wovon die meisten – wie Umfragen immer wieder zeigen – eigentlich die Nase voll haben.
Was dann zu Wahlergebnissen wie in Madrid, Paris oder auch Leipzigs Partnerstadt Lyon führt, wo die Stadtbewohner ganz bewusst Bürgermeister/-innen gewählt haben, die ihre Stadt von Autofluten befreien wollen. Denn mittlerweile wissen sie, wie lebenswert Quartiere wieder werden, wenn die Straßen nicht mehr dem „rauschenden Verkehr“ gehören, sondern Fußgängern, Radfahrern, spielenden Kindern und Menschen in Freisitzen, die das Leben an der frischen Luft genießen.
Die Zeit ist reif. Und der Vorschlag einer Citymaut könnte in Berlin durchaus der erste Schritt in eine anders erlebte Stadt und eine Verkehrswende werden, die ihren Namen verdient. Wobei Berlin den Vorteil hat, als Stadtstaat vieles selbst bestimmen zu können, wo Leipzig etwa auf den unberechenbaren guten Willen der Staatsregierung in Dresden angewiesen wäre. Eine Kenia-Koalition, die das Recht auf eine Citymaut in den drei Großstädten beschließt? Das wäre mal echt eine Überraschung. Von den Bremsklötzen in der Bundesregierung muss man da gar nicht reden.
Im Vergleich mit immer mehr Nachbarländern (längst auch Dänemark, Österreich, die Niederlande, Belgien) sieht die deutsche Verkehrspolitik noch immer so altbacken und runzelig aus wie Autokanzler Konrad Adenauer. Deutschland ist gerade dabei, den Anschluss an die Moderne zu verlieren. Und zwar gründlich. Vom Verpeilen der viel besungenen Klimaziele muss man gar nicht erst reden.
Das Buch erläutert, wie man in einer Großstadt den ersten Schritt tun könnte. Für jeden, der mitreden will, ist es eine gute Diskussionsgrundlage, die auch die Schwierigkeiten und die möglichen sozialen Konflikte nicht ausblendet.
Weert Canzler; Andreas Knie Die Citymaut, Oekom Verlag, München 2020, 14 Euro.
Die Bodenfrage: Das hochaktuelle Buch zu einer Frage, die nie so brennend war wie heute
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