Der Titel klingt natรผrlich so, als wรคre das ein Motivationsratgeber fรผr Start-up-Grรผnder. Man kann nur hoffen, dass die Buchhรคndler dieses 2018 erstmals auf spanisch erschienene Buch der Psychiaterin Marian Rojas nicht in das smarte Emoji-Regal stellen, sondern eher in das Regel, das meistens mit โ€žLebenshilfeโ€œ beschriftet ist. Obwohl eigentlich in eine gute Buchhandlung ein Regal mit dem Titel โ€žSinn des Lebensโ€œ gehรถrt.

Und es wรคre ganz bestimmt kein Fehler, wenn dort auch Montaigne, Lichtenberg und Epikur stรผnden. Denn Philosophie und Psychologie haben beide eine Wurzel: โ€žGnothi seautonโ€œ, den Spruch vom Apollotempel in Delphi: โ€žErkenne dich selbst!โ€œ

Denn an der Seele erkranken wir Menschen, wenn wir unsere eigenen Bedรผrfnisse, Stรคrken und Schwรคchen nicht kennen, uns von anderen fremdbestimmen lassen, Rollen spielen, die nicht zu unseren Gefรผhlen passen, oder gar die Gefรผhle jahrelang unterdrรผcken, weil wir glauben, wir mรผssten in dieser Welt immerfort perfekt funktionieren.

Nichts fรผhrt geradliniger in jene Zusammenbrรผche, die Psychotherapeuten dann mit viel Geduld wieder reparieren. So wie Marian Rojas, die in diesem Buch auch viele Beispiele aus ihrer eigenen Praxis erzรคhlt von Menschen โ€“ zumeist sehr erfolgreichen โ€“ die am Ende doch rat- oder gar sprachlos in ihrer Praxis landeten, weil sie nicht verstanden, warum ihr Kรถrper auf einmal schlapp gemacht hat und ihre Seele streikte.

Im Unterschied zu so vielen anderen durchaus erfolgreichen Lebensratgebern hat Rojas auch die biochemischen Zusammenhรคnge parat, mit denen unsere Gefรผhle und Reaktionen immer verbunden sind. Gefรผhle sind ja im Grunde pure Biochemie, genauso wie viele psychische Erkrankungen mit vรถllig aus dem Lot geratenen Hormonhaushalten zusammenhรคngen.

Wenn man diese Zusammenhรคnge kennt, ahnt man zumindest, dass Krankheiten meistens ganz und gar nicht zufรคllig รผber uns kommen und dass ein glรผckliches Leben auch jede Menge mit Selbsterkenntnis zu tun hat. Genau das, was Philosophen wie Heraklit und Aristoteles schon vor 2.500 Jahren bewusst war.

Philosophen stellen eben nicht nur sinnreiche Fragen โ€“ sie suchen (wenn sie wirklich Philosophen sind), tatsรคchlich das Glรผck. Und deshalb stellt auch Marian Rojas die Frage noch dem Glรผck โ€“ und gerade weil sie das tut, wird ihr Buch zu einer sehr einfรผhlsamen Generalkritik an unserer Zeit, unserer Art zu leben und zu wirtschaften. Und natรผrlich zu unserem vรถllig verkorksten Verstรคndnis von Glรผck.

Denn jahrzehntelanges Marketinggeklingel mit all seinen bunten Botschaften hat Folgen. Es hat in die Kรถpfe der meisten Menschen eine vรถllig falsche Vorstellung von Glรผck gehรคmmert โ€“ das Konsumenten-โ€žGlรผckโ€œ, das โ€žGlรผck lightโ€œ, wie es Rojas nennt. Das eigentlich nicht mehr ist als die kurze Befriedigung, wenn wir unsere schnellen Wรผnsche erfรผllt bekommen und dann doch wieder abstรผrzen, weil uns das nicht trรคgt und die Leere in unserem Leben nicht fรผllt.

โ€žGlรผck lรคsst sich nicht definierenโ€œ, schreibt Rojas. Nur empfinden wir das meist sogar erst im Nachhinein. Es ist ein Empfinden, in dem wir eins sind mit unseren Wรผnschen und Zielen. Und damit auch mit uns selbst. Eigentlich ist es auch kein Zustand, wie Rojas feststellt, sondern ein Prozess: das tiefe Gefรผhl, sich selbst nรคhergekommen zu sein und dem eigenen Leben einen Sinn gegeben zu haben. Und letztlich auf das hingewirkt zu haben, was Rojas โ€žMein bestes Ichโ€œ nennt, also jenes Ich, das jeder selbst formt, indem er sich selbst und seine eigenen Gefรผhle besser kennenlernt.

Natรผrlich kommt sie auch aufs Leiden zu sprechen. Denn: โ€žLeiden hat einen Sinn.โ€œ Mit dem Leid zeigt uns unser Kรถrper, dass etwas falschlรคuft und meistens sogar, was da falschlรคuft, wo wir gegen unsere eigenen Bedรผrfnisse und innersten Wรผnsche agieren. Das hรคlt niemand ewig aus. Doch wer sich dem nicht stellt, der wird ziemlich oft wirklich richtig krank.

Denn die chemischen Prozesse, die unsere Psyche beeinflussen, sind gleichzeitig auch immer Abwehrreaktionen unseres Kรถrpers, um sich gegen die Falschbelastung zu wehren. Viele seelische Krankheitsbilder der Gegenwart haben damit zu tun. Etwa mit der Unfรคhigkeit zum Gelassensein, zu echter Nรคhe, zu Entspannung und Besinnung. โ€žSelbstachtung und Glรผck sind eng miteinander verbundenโ€œ, schreibt Rojas.

Aber: Wie kommt man da hin? Wie wird man die Schuldgefรผhle, die Zukunftsรคngste, den inneren Zwang zu stรคndiger Bereitschaft, zu Perfektion und Leistung los? Muss man sie รผberhaupt loswerden?

Wenn man genau liest, merkt man, wie sehr der psychische Leidensdruck, unter dem heute viele Menschen stehen, Wesenskern unserer radikal beschleunigten Gesellschaft ist. Nur wer perfekt funktioniert und rund um die Uhr โ€žalles im Griffโ€œ hat, hat Erfolg. Wenn sich Erfolg denn in Karriere und Geld ausdrรผcken. Aber das ist kein Glรผck. Dazu tauchen viel zu viele Erfolgreiche in den Beratungspraxen der Psychotherapeuten auf. Rojas bietet durchaus verschiedene Angebote, wie man Glรผck definieren kann.

Aber sie zeigt auch, dass das nichts ist, was es irgendwo zu kaufen gibt. Denn es hat mit uns selbst zu tun. Und damit, dass jeder selbst seinem Leben einen Sinn geben muss โ€“ und das wieder funktioniert nur, wenn man seine eigenen Bedรผrfnisse und Wรผnsche tatsรคchlich kennt. Und die wieder lernt man nur kennen, wenn man sich herausnimmt aus dem Trott, wenn man auf โ€žseinen Bauchโ€œ hรถrt (oder die Kopfschmerzen, den Sprachverlust, die Verspannungen, die plรถtzlich aufkommende Panik โ€ฆ).

Was vielen nicht gelingt, weil sie dafรผr keine โ€žfreie Zeitโ€œ mehr in ihrem Kalender haben, weil sie so zum Funktionieren erzogen sind, dass sie vor einer โ€žverschwendetenโ€œ Stunde regelrecht Angst haben. โ€žVerschenkte Zeitโ€œ โ€“ ein absolutes Verbot in unserer Zeit, in der auch noch die โ€žsocial mediaโ€œ so programmiert sind, dass sie uns regelrecht sรผchtig machen nach dem permanenten Informiertsein. Was dann in der Regel den Cortisol-Spiegel nach oben jazzt und dafรผr sorgt, dass wie immer in Anspannung sind und auch nicht mehr richtig schlafen kรถnnen.

Mit fatalen Folgen, gerade fรผr die nachwachsenden Generationen, die in diese sรผchtig machende Welt der Info-Junkies hineinwachsen. โ€žAlles ist durch einen Klick problemlos zu erreichen. Wenn man das, was man mรถchte, nicht zum gewรผnschten Zeitpunkt erreicht, werden Frustrationsschleifen aktiviert, welche die Ursache fรผr die Charakterschwรคche vieler junger Menschen sind, denen es an der Fรคhigkeit fehlt, sich einmal wirklich anzustrengen. Was schwerfรคllt, braucht Zeit, um befriedigende Ergebnisse zu erzielen!โ€œ

Was รผbrigens auch wieder mit dem Glรผck zu tun hat. Denn Glรผck empfinden wir erst dann intensiv, wenn wir uns fรผr Dinge, die uns wirklich wichtig sind, richtig angestrengt haben. Dann sind wir nicht nur eins mit dem, was wir tun, wir werden auch vom eigenen Gehirn mit Glรผckshormonen belohnt. Erst recht, wenn wir auch noch gelernt haben, aufmerksam zu sein und auch kleine Erfolge anzunehmen.

Nur: Unsere ganze Gesellschaft arbeitet dagegen an und versucht mit einem martialischen Trommelfeuer, niemandem mehr ein Quรคntchen Zeit zu lassen zur Besinnung, zur Konzentration. Und das geht schon in der Schule los. Die deutsche Schule ist da kein bisschen besser als die in Spanien. รœberall haben Controller und Optimierer dafรผr gesorgt, dass die jungen Menschen nicht mehr lernen, sich zur Erarbeitung von Wissen und Fertigkeiten wirklich รผber lรคngere Zeitrรคume zu konzentrieren.

In diesem Teil ihres Buches (in dem es eigentlich die ganze Zeit um den erhรถhten Cortisolspiegel geht) wird die Psychologin sehr deutlich. โ€žErst bringen wir den Jugendlichen also bei, wie sie sich nicht konzentrieren, und dann kรคmpfen wir als Erwachsene darum, die Fรคhigkeit zur Selbstregulation รผber unseren Geist und unsere Aufmerksamkeit zurรผckzugewinnen. Irgendwas lรคuft da wirklich schief.โ€œ

Was โ€“ das hat sie ja eigentlich geschrieben. Denn hinter dem ganzen Getrommel fรผr die Digitalisierung steckt ja im Grunde die Strategie von Konzernen, die ihre Programme von Anfang an so gebaut haben, dass sie Sรผchte erzeugen โ€“ das permanente Bedรผrfnis nach Likes und Anerkennung. Aber wer so an seinem โ€žStoffโ€œ hรคngt und trotzdem nie das Gefรผhl wirklicher innerer Erfรผllung erlebt, der wird ziemlich bald reizbar, unausgeglichen, mรผrrisch, unzufrieden. Und verliert das wirklich wichtige Projekt seines Lebens aus dem Blick: ihm nรคmlich durch konzentrierte Arbeit einen eigenen Sinn zu geben. Den eigenen Sinn.

Das kostet Zeit (MuรŸe, Besinnung, Abschalten), Konzentration und Arbeit. Anders verwirklicht man nicht sich selbst, nicht seine Trรคume und schon gar nicht sein Glรผck. Am Anfang steht, so stellt Rojas fest, der Wille. Und dann braucht es Konzentration: โ€žErfolg hat aber nur, wer in der Lage ist, sich zu konzentrierten und auf das zu fokussieren, was er wirklich will. Denn nur wer fokussiert ist, zieht sein Vorhaben auch durch.โ€œ

Aber: Das ist einem nicht in die Wiege gelegt. Das lernt man erst in der Kindheit und der Jugend. Und zwar nicht vorm Bildschirm, der einem das Gefรผhl schneller Befriedigung der inneren Unruhe gibt. Sondern ohne ihn.

Aber wir leben in einer Welt, in der genau das mit einem enormen Einsatz verhindert wird. In der die permanente Unterhaltung und Ablenkung die Aufmerksamkeit nicht nur der jungen Menschen in Stรผcke hackt. Wer aber nicht mehr konzentriert und aufmerksam ist, der wird manipulierbar. Der vertieft sich in kein Thema und begreift es auch nicht mehr, sondern lรคuft jedem Guru hinterher, der mit der Rattenpfeife vorneweglรคuft.

Was so ganz neu nicht ist. Aber auch Rojas staunt, dass wir in Europa immer wieder Politiker vor die Nase gesetzt bekommen, die gut pfeifen kรถnnen โ€“ aber selbst keine Agenda, keine Vision, kein Ziel und kein Rรผckgrat haben. Auch das ist in Spanien nicht anders als in Deutschland: Politiker, die das Zeug haben, Menschen zu inspirieren, kommen eigentlich nicht mehr vor.

โ€žPolitiker, welche die Medien beherrschen, kรถnnen beispielsweise hรคufig nicht kommunizieren, und ihre Botschaften sind normalerweise mehrdeutig, berechnend und รคndern sich je nach โ€“ tatsรคchlichem oder angestrebtem โ€“ Publikum. Solche ,Anfรผhrerโ€˜ bringen uns nicht weiter.โ€œ

Das heiรŸt eben auch: die โ€žPopulistenโ€œ sind kein Zufall, sondern das erwartbare Ergebnis einer radikalisierten Medienwelt und einer zertrรผmmerten Aufmerksamkeitsspanne bei den Menschen, die weder einen Willen zum eigenen Glรผck haben noch ein Ziel, fรผr das sie ihre besten Energien einsetzen. โ€žWer kein Ziel hat, ist ein Sklave des Augenblicks. Er reagiert auf Impulse, Emotionen oder Gefรผhle und ist daher โ€“ insbesondere in unserer Gesellschaft โ€“ รคuรŸerst manipulierbarโ€œ, schreibt Rojas.

Was ja auch heiรŸt: All das Mรผrrische, Unzufriedene in unserer Gesellschaft erzรคhlt von Menschen, die weder ihr Lebensziel gefunden haben noch den Willen, ihr Leben selbst zu gestalten. โ€žGlรผck ist nicht das, was uns geschieht, sondern wie wir interpretieren, was uns geschiehtโ€œ, schreibt die Autorin.

Kurze Sentenzen bringen in den Kapiteln immer wieder auf den Punkt, worรผber sie schreibt. Manchmal sind es echte Sinnsprรผche, die man sich ins Tagebuch schreiben kann. So wir dieser: โ€žEin gut ausgebildeter Wille fรผhrt Sie zur besten Version Ihres Lebensprogramms.โ€œ

Denn um nichts anderes geht es im Leben als die Verwirklichung des eigenen โ€žbesten Ichโ€œ.

Das sie dann auch wieder auf eine knackige Formel bringt: โ€žMBI = (Wissen + Wille + Lebensprojekt) x Leidenschaft.โ€œ

Was nun einmal heiรŸt: Glรผcklich wird nur, wer seinem Leben ein Ziel setzt und mit Ausdauer und Konzentration darauf hinarbeitet und dabei nicht vergisst, sich Ruhe zum Nachdenken und zur inneren Einkehr zu lassen und die Gelassenheit, sich den Menschen auf dem Weg zu รถffnen und den (antrainierten) Zwang zur permanenten Kontrolle und Perfektion abzulegen.

Hรคtte alles in eine Formel gepasst, wรคre das Buch natรผrlich viel schmaler geworden. Aber es ist wichtig, dass Marian Rojas die Sache von allen Seiten beleuchtet. Denn wenn die Menschen in ihrer Praxis landen, sind sie in der Regel schon ihr ganzes Leben lang auf der falschen Spur und mรผssen zuallererst lernen, sich selbst und die Botschaften ihres Kรถrpers zu verstehen und das trรผgerische Glรผck zu hinterfragen, um den Schlรผssel zum eigenen Glรผck zu finden.

Der liegt in uns selbst. Nirgendwo sonst. Und natรผrlich im Jetzt, wie Rojas aus langjรคhriger Erfahrung weiรŸ, die Glรผck eben auch definiert โ€žals die Fรคhigkeit, ein gesundes Leben in der Gegenwart leben zu kรถnnenโ€œ. Nicht in den Verletzungen der Vergangenheit und nicht in den ร„ngsten vor der Zukunft, sondern im aufmerksamen Erleben des Augenblicks. Kinder kรถnnen das noch, bevor sie von vรถllig verwirrten Erwachsenen dazu gebracht werden, sich vor der Zukunft zu fรผrchten.

Marian Rojas Estapรฉ โ€œWie du bewirkst, dass dir Gutes geschiehtโ€, Yes Publishing, Mรผnchen 2020, 17,99 Euro

Frohe Weihnacht mit der neuen โ€žLeipziger Zeitungโ€œ oder: Trรคume sind dazu da, sie mit Leben zu erfรผllen

Frohe Weihnacht mit der neuen โ€žLeipziger Zeitungโ€œ oder: Trรคume sind dazu da, sie mit Leben zu erfรผllen

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