Man versteht ihn ja und auch seine Wut. Das Ausrufezeichen ist nicht ganz zufällig in den Titel von Sigmund Gottliebs Streitschrift „Stoppt den Judenhass!“ geraten. Sigmund Gottlieb, der immerhin mehr als 20 Jahre lang Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens war, ist wütend. Immer mehr antisemitische Vorfälle werden bekannt. Der versuchte Anschlag auf die Synagoge in Halle vor einem Jahr hat Gottlieb endgültig auf die Palme gebracht.

Für ihn war das kein „Alarmzeichen“ oder dergleichen, wie es Politiker/-innen so gern nennen, wenn es wieder zu so einem Anschlag gekommen ist. Auch kein Beginn von etwas wie in dem Spruch „Wehret den Anfängen“. Dazu gab es vorher schon viel zu viele solcher Anschläge – meist auf jüdische Friedhöfe und Synagogen, aber auch auf bekannte Vertreter der jüdischen Gemeinschaft.

Und seit Facebook & Co. die Schleusen ihrer unmoderierten Portale geöffnet haben, ist der digital verbreitete Antisemitismus mit Hass, Morddrohungen und Holocaust-Bezügen allgegenwärtig, haben sich die Judenhasser aus aller Welt zusammengetan und werden auch von rechtsextremen Politikern unterstützt dabei, den Bereich des Sagbaren immer mehr zu verschieben. Motto: „Das muss man doch mal sagen dürfen.“

Eine feige Formel, mit der Hassverbreiter die Tatsache kaschieren, dass es nicht um Meinungen geht, sondern um das Zerstören einer demokratischen Gesellschaft. Eine Zerstörung mit System. Denn zu Recht stellt Gottlieb fest, dass dieser Unfrieden damit beginnt, dass eine fiktive Mehrheitsgesellschaft beginnt, gegen Minderheiten zu hetzen und ihnen Rechte und Würde abzuerkennen.

Bis hin zu offen geäußerten Mord- und Vernichtungsphantasien, denen die a-sozialen Netzwerke viel zu lange keinen Riegel vorgeschoben haben. Und eigentlich auch heute noch nicht vorschieben. Die meisten Hass- und Drohtiraden bleiben online und damit unwidersprochen. Und gerade junge Menschen tauchen da mit einem Klick unverhofft in eine Parallelwelt ab, in der Rechtsextremisten, Menschenfeinde und Antisemiten aller Farben den Ton angeben.

Wer nicht wirklich weiß um die Geschichte von Holocaust, Faschismus, Judentum und Antisemitismus, der kann sehr schnell den Eindruck bekommen, dass alle diese Erzählungen über jüdische Machenschaften stimmen.

Erzählungen, die mit Beginn der Corona-Pandemie erst recht befeuert wurden – was Gottlieb besonders entsetzt, weil augenscheinlich Staatsanwälte und Verfassungsschützer nicht sehen wollen, wie sehr Parolen, Sprüche und Erzählungen bei all den Hygiene-und Querdenken-Demos von antisemitischen Mustern geprägt sind, oft nicht einmal mehr leidlich kaschiert. Ganz so, als könne Antisemitismus in Deutschland heutzutage wieder ungestraft auf der Straße verbreitet werden.

Es gibt etliche Stellen in diesem Buch, an denen man merkt, wie sehr sich Sigmund Gottlieb bremsen muss, um nicht seine ganze Wut auf versagende Behörden und Ermittler in Worte zu fassen. Denn dass derart viel Judenhass in Deutschland wieder öffentlich verbreitet werden kann, hat mehrere Gründe.

Und einer davon ist die Unfähigkeit (oder der Unwille) der zuständigen Strafbehörden, öffentlich gewordenen Antisemitismus auch strafrechtlich zu belangen. Was eben auch die Zivilgesellschaft schwächt. Und Gottlieb benennt auch nicht ohne Grund den parallel immer öffentlicher gewordenen Hass auf Ausländer, Migranten, Muslime. Da tobt sich wieder etwas öffentlich aus, was man eigentlich nach 1945 gebändigt glaubte.

Obwohl es nie weg war. Das weiĂź Gottlieb nur zu gut. Umfragen ergeben immer wieder, dass antisemitische Vorurteile in der deutschen Gesellschaft nach wie vor weit verbreitet sind. Zuletzt belegte das auch wieder die Leipziger Autoritarismus-Studie 2020.

Die freilich noch einen Schritt weitergeht. Denn ihre Autor/-innen sind eben auch Sozialpsychologen und sehen in den Verschwörungsmythen einer marktradikalisierten Gesellschaft auch den ablenkenden Effekt. Denn wenn Menschen sich in so einer Gesellschaft selbst zähmen und disziplinieren müssen und ihre Triebe unterdrücken, entstehen fast zwangsläufig Bilder, die das Unterdrückte in etwas Verabscheutes verwandeln.

Dann werden alle negativen Verhaltensweisen einer kleinen, regelrecht gettoisierten Gruppe aufgeladen. Oder so formuliert: Hätte es keine Juden gegeben in Deutschland, hätte sich diese „Triebabfuhr“ einen anderen Sündenbock geschaffen. Mit den Worten aus der Autoritarismus-Studie: „Ursprung und Dynamik des modernen Antisemitismus sind nicht bei den Jüdinnen und Juden, sondern bei den Antisemitinnen und Antisemiten zu suchen.“

Und die findet man eben nicht nur an den rechten und linken Rändern der Gesellschaft. Der Antisemitismus ist mitten in der Mitte unserer Gesellschaft zu finden – auch bei denen, die überproportional gut verdienen und profitieren und selbst hohe akademische Grade oder Beamtenpositionen erlangen. Was freilich auch zum Teil erklärt, warum staatliche Behörden sich so schwertun damit, antisemitische Entgleisungen zu sanktionieren.

Die meisten Leute kennen gar keine Juden, sind ihnen in ihrem persönlichen Umfeld nie begegnet. Und teilen trotzdem die Ressentiments, die niemals wirklich weg waren. Und davon profitieren die rechtsradikalen Scharfmacher, denn das verschafft ihren Hassparolen einen riesigen Hallraum. Und ihren Drohungen erhebliche Akzeptanz. Bis hin zur systematischen Gleichgültigkeit, wenn es um den Schutz der bedrohten Minderheit geht. Etwas, was auch andere Minderheiten immer wieder erleben. Entsprechend halten gerade sie sich zurück, wenn es darum geht, Straftaten bei der Polizei zu melden.

Gottlieb hat natürlich recht: Es wird sehr ungemütlich in einem Land, in dem gerade die Schwächeren zunehmend das Gefühl bekommen, vom Staat nicht mehr beschützt zu werden. Und wo es nach einem Attentat immer wieder dieselben Betroffenheits-Sätze von Politikern gibt, die eigentlich dafür verantwortlich sind, dass solche Anschläge nicht mehr vorkommen und die Täter dingfest gemacht werden.

Doch jedes Mal stellen sich die Verantwortlichen ahnungslos, oft auch noch danach. Der Staat zeigt sich windelweich. Und so wird er auch von den Rechtsextremen wahrgenommen, die sich dadurch erst recht beflügelt sehen, die Schwächsten in unserer Gesellschaft anzugreifen und Angst und Schrecken zu verbreiten, bis sich manche Menschen kaum noch auf die Straße trauen.

Die ganzen Betroffenheitsreden könnten sich die Politiker sparen, stellt Gottlieb fest. Auch wenn er registriert, dass sich punktuell in den letzten Jahren einiges verbessert hat – bei der Registrierung antisemitischer Straftaten etwa oder ersten Ansätzen der Polizeibehörden, die Entwicklungen in den a-sozialen Netzen endlich genauer unter die Lupe zu nehmen.

Denn jedes einzelne Ereignis zeigt, dass die Täter sich eben dort vernetzt und oft auch radikalisiert haben. Und das in Foren, in denen das antisemitische Sprechen längst zur Normalität geworden ist, wo die meisten Nutzer gar nicht mehr merken, wer hier eigentlich ständig die Stimmung anheizt und wessen Posts sie da unterstützen, weil sie derlei Sprechen irgendwie wieder akzeptabel finden.

Da hat sich – auch befeuert durch die AfD – die Grenze des Sagbaren deutlich verschoben, das Geäußerte deutlich radikalisiert. Das, was der zivilisierte Bürger zuvor bestenfalls in seinen vier Wänden dachte und sagte, bekommt so ein öffentliches Forum und bereitet auch den Boden für die Täter, die sich mit dieser Begleitmusik beflügelt fühlen zu realen Gewalttaten.

Womit Gottliebs Analyse eigentlich einen deutlich größeren Bereich betrifft als nur den Antisemitismus. Aber der ist – als typisch „antimodernes Ressentiment“, wie es die Autoritarismus-Studie nennt – natürlich ein zentrales Muster, wenn es um die abgeleiteten Ängste des Bürgers geht, der sich in den Veränderungen einer rasend beschleunigten Gesellschaft zunehmend unwohl fühlt und sich ideale Zustände in der Vorzeit imaginiert, in denen es dann all die Störelemente nicht gibt, die er für sein Unbehagen verantwortlich macht.

Er steckt mittendrin in der Veränderung, profitiert am meisten davon – und wird dennoch seine Angst vor dem Kontrollverlust nicht los. Und er ist nur zu bereit, dann brüllend mitzumachen im Chor derer, die zur neuen Menschenjagd aufrufen.

Das geht jetzt ein Stück weit über Gottliebs Appell hinaus. Denn was kann man wirklich tun, als nur an die Politiker und die Strafbehörden zu appellieren, den Antisemitismus wirklich ernst zu nehmen und strafrechtlich aktiv zu werden? Denn permanente polizeiliche Bewachung von Kindergärten, Schulen und Synagogen kann nicht dauerhaft die Lösung sein. Eine Lösung wäre eine Gesellschaft, die ehrlicher über die diffusen menschenfeindlichen Ressentiments spricht und die selbst klar und deutlich reagiert, wenn wieder ein Akteur meint, dass antisemitische Töne sagbar wären.

Was aber eine aufgeklärte Gesellschaft voraussetzt. Und das geht in der Schule los, wo Gottlieb die Vermittlung elementarer Wissensgrundlagen zur Geschichte des Judentums, der Diskriminierung der Juden in Deutschland und zum Holocaust vermisst. Denn Umfragen ergeben immer wieder, dass gerade jüngere Deutsche darüber so gut wie gar nichts wissen.

Was dann meist auch das Wissen über Geschichte und Gegenwart des Staates Israel betrifft, der gerade in „akademischen“ Diskussionen dann immer wieder als Ersatz für den neu verkleideten Antisemitismus herhalten muss. Wozu – das setzt Gottlieb ganz bewusst als Kritikpunkt – eben auch die in der Regel einseitige Berichterstattung der Medien über Israel zu einem großen Teil beiträgt.

Da wird die Meldung der einen Nachrichtenagentur meist einfach immer wieder kopiert, obwohl in kaum einem kleinen Land der Welt so viele Korrespondenten akkreditiert sind wie in Israel. Hier verspielen die Medien ihre Möglichkeiten zu einer wirklich differenzierten Berichterstattung und plappern lieber einer dem anderen nach, was man glaubt, dass es die allgemein gültige Sichtweise auf Israel zu sein hat.

Ein Phänomen, das leider auch auf andere Themen zutrifft. Was aber auch zeigt, wie riesengroß das Bedürfnis vieler Medienmacher ist, sich einem gefühlten Mainstream anzupassen und ja nicht kritisch aus der Rolle zufallen. Auch sie kommen ja meistens aus dieser verdrucksten Mitte der Gesellschaft, die sich ihre Vorurteile so ungern eingesteht und lieber mit dem Finger auf andere zeigt.

Da versagen Medien eindeutig als Demonteure von Vorurteilen, betätigen sich lieber als Bestätiger des Raunens, das in manchen Kreisen schon regelrecht zum Umgang gehört, diesem raunenden Einverständnis, dass einer das doch genauso sehe, das mit den Juden, den Türken, den „Nafris“, den Muslimen usw. Nicht wahr?

Diese klebrige Atmosphäre schildert Gottlieb zwar nicht, aber sie ist eigentlich die ganze Zeit präsent. Und sie ist die Grundlage seiner Empörung, die sein Buch zu einer veritablen Streitschrift gemacht hat, in der er eigentlich auch betont, dass dieser wieder auflodernde Hass gegen Minderheiten auch die schweigende Mehrheitsgesellschaft angeht.

Denn wenn die Juden genannt werden, sind immer die Rechte und Freiheiten der ganzen demokratischen Gesellschaft gemeint. Es geht immer ums Ganze. Und eine solidarische Gesellschaft tut gut daran, ihre Minderheiten nicht nur zu schützen, sondern empört aufzustehen und die Hater – die lauten genauso wie die scheinheiligen – in die Schranken zu weisen. Und zwar deutlich.

Sigmund Gottlieb Stoppt den Judenhass!, Hirzel Verlag, Stuttgart 2020, 15 Euro.

Antisemitismus in der Sprache: Warum in einigen beliebten Worten noch immer die alte Judenverachtung steckt

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