Das Jahr 2020 ist nicht nur das von 30 Jahren Deutscher Einheit. Es feierte auch so mancher den 30. Geburtstag â so wie die Connewitzer Verlagsbuchhandlung, die sich und ihren Leser/-innen aus diesem Anlass sogar ein besonderes Geburtstagsgeschenk herausgebracht hat: den fast vergessenen Leipzig-Roman âMaurice Guestâ der australischen Schriftstellerin Henry Handel Richardson.
Eigentlich hieà sie Ethel Florence Lindesay Richardson, geboren 1870 in Melbourne. Und eigentlich war fßr sie eher eine Karriere als Pianistin vorgesehen, weshalb sie mit ihrer verwitweten Mutter und ihrer Schwester 1888 nach Europa kam. Und auf Leipzig fiel nicht ganz zufällig die Wahl als Studienort, denn Leipzig hatte damals schon einen Ruf als Musikstadt und das Musikkonservatorium, dessen neues Gebäude im Musikviertel gerade erst fertig geworden war, galt als exzellente Ausbildungsstätte.
Bis 1892 lebte die kleine Familie in Leipzig, anfangs in der GottschedstraĂe 4, wie man im Nachwort von Stefan Welz erfährt, später in der MozartstraĂe 13, also mittendrin im Musikviertel, keine zwei Minuten vom Konservatorium entfernt, quasi gleich hinterm Neuen Gewandhaus, das ebenfalls noch fast neu war und wo auch die erste Szene beginnt, denn der junge Engländer Maurice Guest hat an seinem ersten Tag in Leipzig nichts Eiligeres zu tun, als eine Ăśffentliche Probe im Gewandhaus zu besuchen.
Man ist sofort mittendrin in der Atmosphäre des Leipzigs von 1890, das mit seinen 295.000 Einwohnern noch weit entfernt ist vom Brodeln der GroĂstadt, die Ethel Richardson 1907 erlebte, als sie fĂźr die Arbeit an ihrem Roman noch einmal nach Leipzig zurĂźckkehrte. Denn in dieser Zeit hatte Leipzigs BevĂślkerung sich fast verdoppelt.
1890 â da rumpelte noch die PferdestraĂenbahn durch Leipzig, die Maurice Guest nur einmal benutzt, weil man zu FuĂ eigentlich genauso schnell unterwegs war. Elektrifiziert wurde die StraĂenbahn erst 1896. Und die Welt des Maurice Guest findet man fast komplett rund um das Musikviertel. Und die Adressen sind real, was man spätestens merkt, wenn man die kleine Familie Richardson tatsächlich im Adressbuch von 1892 findet: Richardson, Marie, MozartstraĂe 13 III.
Marie Richardson ist Ethels Mutter Mary. Die Adresse gibt es noch â doch das Haus ist Opfer der Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg geworden, denen auch das Neue Gewandhaus und die Universitätsbibliothek (die 1890 gerade im Bau war) zum Opfer fielen. Heute trägt ein Plattenbau die Nr. 13. Keine Chance, beim Blick in den dritten Stock hinauf vielleicht eins der Mädchen am Fenster zu erblicken.
Obwohl: Maurice Guest schaute nicht hier sehnsĂźchtig in die HĂśhe, sondern in die BrĂźderstraĂe, die heute natĂźrlich auch nicht mehr so aussieht wie 1890. Auch hier haben die Bomben ganze Häuserzeilen ausradiert. In welchem Haus freilich die von Guest angebetete Louise wohnte, verrät zumindest der erste Band nicht.
Und ich bespreche hier auch nur den ersten. Der zweite muss erst einmal gelesen werden. Und ich befĂźrchte Schlimmes. NatĂźrlich fĂźr Maurice, der sich â unsterblich, wie das damals hieĂ â in die rätselhafte Louise Dufayer verliebt hat und das wohl auf die schlimmste Art, die einem Mann passieren kann: einfach schon durch ihren Anblick.
In der MozartstraĂe 13 lässt Henry Handel Richardson (die mit ihrem männlichen Pseudonym auch die Kritiker durcheinanderbrachte) Madeleine Wade wohnen, so wie Maurice und Louise (und fast alle anderen Heldinnen und Helden in ihrem Buch) ebenfalls Studentin am Konservatorium, aber im Gegenteil zu Louise eine pragmatische, kluge und hilfsbereite Person, im ersten Leipzig-Jahr von Maurice auch seine schwesterliche Freundin, die ihm immer da mit Rat und Tat zur Seite steht, wo er sich von seinen romantischen GefĂźhlen hinreiĂen lässt. Wobei man nach dem ersten Band das berechtigte GefĂźhl haben darf, dass da mehr ist, was Madeleine fĂźr diesen romantischen Burschen aus der englischen Provinz empfindet.
Aber der Band endet nun einmal auch damit, dass Maurice es doch irgendwie endlich schafft, diese Louise auf sich aufmerksam zu machen und mit ihr ein bitterkaltes Weihnachtsfest auf der zugefrorenen PleiĂe zu erleben. Das stelle man sich heutzutage einmal vor: Schon im November frieren die Teiche im Johannapark zu und wochenlang kĂśnnen sich die Leipziger auf dem Eis vergnĂźgen. Und im Dezember ist das Eis auf PleiĂe und PleiĂeflutbett schon sechs Zoll dick und man kann darauf problemlos Schlittschuh laufen bis zur Waldgaststätte in Connewitz.
Unvorstellbar. Und weil Richardson dieses Weihnachten so unvergleichlich frostig schildert (und auch die entsprechenden ĂuĂerungen der Leipziger, die ihre Ăfen ordentlich befeuern, zitiert), noch ein Blick ins 2014 erschienene Buch âLeipzig. Alle Wetter!â. Aber ein Rekordwinter war das nicht. Die Jahre 1890 bis 1892 fielen zumindest nicht mit Rekorden auf. Und dass die FlĂźsse zufrieren im Winter, war damals normal.
Und bestimmt geht man auch nicht fehl in der Annahme, dass die Autorin sich in dieser nĂźchternen, klug planenden Madeleine Wade ein wenig selbst gesehen hat. Aber es gibt ja noch eine Familie, die erstaunlich der kleinen Richardson-Familie von 1890 gleicht: das sind die Cayhills, die aus den USA nach Leipzig gekommen sind, die Richardson aber in der LessingstraĂe logieren lässt.
Hier ist es die ältere Schwester Johanna, die ganz wesentliche ZĂźge der Autorin trägt â nach MaĂstäben der damaligen Zeit zwar eine âalte Jungferâ, aber eigentlich typische Vertreterin der jungen Emanzipationsbewegung, die einfach nicht in die Ăźblichen Mädchenrollen gedrängt werden will und nur deshalb noch bei der Familie ist, weil sie sich als HĂźterin ihrer Schwester Ephie versteht, die in Leipzig das Geigespielen studieren soll. Am Ende, als Ephie das groĂe Drama ihres Lebens passiert ist, wird Johanna die Chance ergreifen und tatsächlich eine akademische Laufbahn einschlagen.
Aber das ist es gar nicht, was einem klarmacht, dass gerade in ihr jede Menge Ethel Richardson steckt. Das verrät nämlich ihre exzessive Lektßre deutscher Schriftsteller aus dieser Zeit.
Denn dass Richardson ihren âMaurice Guestâ so geschrieben hat, hat mit ihrer eigenen Rezeption der damals als modern geltenden Literatur zu tun â und das waren nicht die englischen oder franzĂśsischen Schriftsteller, sondern die deutschen, dänischen und schwedischen. Man darf sich durchaus zu Recht an Strindberg und LagerlĂśf erinnert fĂźhlen.
Aber um Autoren wie Friedrich Spielhagen, Paul Heyse (Nobelpreisträger!), Richard Dehmel oder den Belgier Maurice Maeterlinck zu finden, muss man eigentlich schon ins Antiquariat gehen. Aber all das liest die vom vielen Lesen schon kurzsichtig gewordene Johanna. Und einen richtig fetten Roman teilt sie regelrecht mit Maurice: den sechsbändigen Romanzyklus âDie Ahnenâ von Gustav Freytag.
Ethel Richardson muss all das ja ebenfalls auf deutsch gelesen haben. Was eine Menge aussagt Ăźber die Geschwindigkeit, mit der sie in Leipzig Deutsch gelernt haben muss. Johannas Mutter lässt sie Ăźbrigens ebenso eifrig lesen â aber lieber BĂźcher aus der gut bestĂźckten LeihbĂźcherei, wo es die ganzen Tauchnitz-Bände mit englischen Autoren gibt.
Und noch eine dritte Frauengestalt trägt ZĂźge der Autorin in sich â eben jene Louise Dufrayer, die â so mutmaĂt Stefan Welz im Nachwort â wohl der berĂźhmten Schauspielerin Eleonora Duse nachempfunden ist, die Richardson aber in diesem Fall aus Australien stammen lässt. Und so wie sich Maurice schon vom reinen Anblick unsterblich in diese Louise verliebt, hat sich Louise ebenso bedingungslos in den Geiger Schilsky verliebt, der am Ende dieses Bandes Leipzig geradezu fluchtartig verlässt â einerseits, weil er Schulden hat, die er nicht begleichen kann, und andererseits, weil er augenscheinlich Ăźberfordert ist damit, dass die Frauen, die sich in ihn verliebt haben, natĂźrlich auch AnsprĂźche stellen.
Denn auch die kleine Ephie hat sich in diesen Man verliebt, der augenscheinlich das Talent hat, wirklich jede Frau kirre zu machen, die er mit seinen Blicken bannt. Und das ist auch in gewisser Weise der Kern dieses Romans, den Richardson fast ausschlieĂlich in jener kleinen Gesellschaft von Engländern, Amerikanern und Australiern spielen lässt, die in diesem noch halb provinziellen Leipzig eine eigene, von regen gegenseitigen Besuchen geprägte Gemeinschaft bilden. Und die sich verlieben und nĂźtzliche Verbindungen knĂźpfen fĂźr die Zeit nach dem Studium.
Ihren Maurice Guest lässt Richardson Ăźbrigens in der BraustraĂe wohnen und den Geiger Schilsky in der TalstraĂe, wo man ihn eigentlich unter TalstraĂe 12/III nur zu gern suchen wĂźrde. Aber da weist das Adressbuch nur eine Frau Gruner aus, âVermietherinâ. Gut mĂśglich, dass Schilsky hier genauso wie Guest oder dessen Freund Krafft zur Untermiete wohnte. Unter sehr ärmlichen Verhältnissen, wie Richardson immer wieder zeigt.
Man merkt, dass sie dieses Leipzig der Kerzen- und Gaslampenzeit (mit echten LaternenanzĂźndern und echten Droschkenkutschern) tief verinnerlicht hat, regelrecht aufgesogen wie die Sprache und die Literatur dieses Landes, das frappierende ZĂźge der Moderne genauso trägt wie die alten Lederhäute einer stickigen Vergangenheit, die beide ja in den markantesten Männern sichtbar wurden, die fĂźr dieses Deutschland bis heute stehen â nein, nicht Bismarck (auch wenn Guest auch manchen Gang durch die BismarckstraĂe tut), sondern Wagner und Nietzsche.
Wagner wird an einer zentralen Stelle geradezu zum musikalischen HĂśhepunkt mit einer WalkĂźre-AuffĂźhrung im Neuen Theater (das man mit Richardson wirklich von innen erleben kann mitsamt dem Blick von den ganz billigen Plätzen hoch droben hinunter in den Theatersaal). Und nicht ganz grundlos wird Wagners bombastisch-romantische Inszenierung von dem, was er (und mit ihm die komplette deutsche Spätromantik) unter Liebe verstand, zum MaĂstab fĂźr das, was daraufhin den Liebenden in dieser Geschichte passiert.
Und dass Richardson (nach Welz eigentlich eine Wagner-Verehrerin) mit Wagners Frauenbild ganz bestimmt nichts am Hut hat, wird deutlich, wenn sie die von sich und ihrer dominanten Rolle Ăźberzeugten Männchen in dieser Geschichte immer wieder die deftigen Zitate aus Nietzsches âAlso sprach Zarathustraâ vorbringen lässt.
Und da wird ihr Roman endgĂźltig modern, denn genau diese patriarchalische Denkweise lebt heute immer noch. Und das kann nur gehen, weil auch Frauen diese RĂźcksichtlosigkeit akzeptieren und teilweise regelrecht unterstĂźtzen. Kurz vorm Schluss dieses ersten Bandes liest Madeleine Maurice ja regelrecht die Leviten, um ihm klarzumachen, in was fĂźr eine Bredouille er sich begibt, wenn er von Louise nicht lassen kann. Denn richtig begreifen, dass ihn auch die kleine Ephie nur als Blitzableiter benutzt hat, mag er nicht.
âDenken Sie nur mal, wie Sie in diesem Fall behandelt wurden â und zwar von beiden! Man war Ihnen kein bisschen dankbar fĂźr das, was Sie getan haben â so ist es mit allen Frauen. Sie schauen lediglich auf Sie herab, wenn Sie ihnen Ihren Willen lassen. Sie wollen lieber einen Grobian, der sie in die Schranken weist. Freundlichkeit und Entgegenkommen lassen sie kalt. Ein strammer Bizeps und ein ruppiger Ton â das wollen sie und mehr nicht.â
Nur ist Maurice ganz und gar nicht dieser Typ (anders als Schilsky, der sich keine Gelegenheit entgehen lässt, seine Macht Ăźber die Frauen zu zeigen und damit auch noch in besoffener Männerrunde zu prahlen). Was auch zum Problem wird, weil er sich auch dann nicht verweigern kann, wenn er weiĂ, dass er damit auch wieder andere verletzen wird. So wie in der Szene, als er Ephie zu Louise schleppt, ohne selbst den Mut zu klaren Worten zu finden. Da mĂśchte man wirklich nicht in seiner Haut stecken.
Dass der Roman jetzt in neuer Ăbersetzung in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung erscheinen konnte, ist der Team-Arbeit von Fabian Dellemann und Stefan Welz zu verdanken. Stefan Welz ist Anglist an der Uni Leipzig und hat 2015 sein groĂes Buch Ăźber Rudyard Kipling verĂśffentlicht.
Und Fabian Dellemann als Ăbersetzer hat sich auch intensiv mit der Publikationsgeschichte beschäftigt und sich MĂźhe gegeben, den Ton der Zeit auch in der NeuĂźbersetzung anklingen zu lassen, sodass man wirklich das GefĂźhl haben darf, einen Roman aus dem Jahr 1908 zu lesen, als âMaurice Guestâ erstmals erschien (wenn auch um einige anzĂźgliche Stellen bereinigt).
1912 erschien der Roman erstmals in einer deutschen Ăbersetzung bei S. Fischer. Und seitdem augenscheinlich im deutschen Sprachraum nicht wieder. Sodass man jetzt mit diesem Doppelband einen wirklich echten Leipzig-Roman wieder lesen kann, der noch dazu das Leipzig des Jahres 1890 sehr plastisch, atmosphärisch und sehr lebendig erleben lässt.
Man kann es regelrecht riechen und fĂźhlen und sich vorstellen, wie man mit Maurice am ersten Tag durch diese neue, vĂśllig unbekannte Stadt spaziert und einfach nicht zur Ruhe kommen mag. Oder wie er später dann immer wieder ruhelos durch die StraĂen streift oder durch die Nonne bis nach Connewitz wandert, was man damals noch konnte.
Der SchleuĂiger Weg war wirklich nur ein schlammiger Ackerweg und die WaldstĂźcke noch nicht so grĂźndlich in Park verwandelt wie heute. Man bekommt tatsächlich ein ganzes Leipzig anno 1890 im Doppelpack, Ăźber 800 Seiten voller intensiver Beschreibungen, aber auch vielen Gesprächen und Szenen, in denen Richardson dieses ganze komplizierte Ding mit der Liebe im ausgehenden 19. Jahrhundert schildert â mit all den einengenden Konventionen, unterdrĂźckten GefĂźhlen und der (spät-)romantischen Begleitmusik, die damals ja nun einmal auch die Musik der Zeit war. Von Beethoven bis Liszt und Chopin.
WĂźrde sich noch ein Musikwissenschaftler finden, kĂśnnte der auch noch eine kongeniale Musik-CD dazu zusammenstellen, die dieses Leipzig des Maurice Guest auch noch hĂśrbar macht. Aber vielleicht wird’s im zweiten Band ja noch dramatischer, da wir nun wissen, dass Maurice das Abenteuer Louise unbedingt wagen will. Wie es ausgeht, werden wir dann an dieser Stelle verraten.
Henry Handel Richardson Maurice Guest, Roman in zwei Bänden, Connewitzer Verlagsbuchhandlung 2020, 50 Euro.
Der Leipziger Anglist Stefan Welz versucht die Faszination des Dschungelbuch-Autors Rudyard Kipling zu begreifen
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