Bei diesem Buch merkt man, was für eine Arbeit darin steckt. Das Original steht im Stadtarchiv. So wie die beiden Vorgänger-Bände, die ebenfalls schon in einer aufwendigen Edition im Universitätsverlag erschienen sind. Das Digitalisieren war dabei noch der einfachere Teil, zumindest der schnellere. Denn dann mussten die 1.241 Einträge ja auch noch transkribiert werden. Wer kann schon die Handschrift von Ratsschreibern aus dem 16. Jahrhundert lesen?
Und dabei schrieben sie sogar schön und leserlich. Für ihre Zeit natürlich. Ratsschreiber war eine anspruchsvolle Tätigkeit. Besetzt wurde die Stelle in der Regel mit ausgebildeten Juristen, die dann oft in der Ratshierarchie noch weiter Karriere machten. Denn es ging fast immer auch um juristische Fälle. Die Ratsbücher waren wichtige Dokumente. Hier wurden Erbstreitigkeiten niedergeschrieben, Schuldverhältnisse und die Entscheidungen des Rates zu Streitfällen zwischen Bürgern und Zünften.
Aber die Transkribierung macht auch deutlich, wie fremd uns das verwendete Deutsch heute ist. Und dabei war es das Deutsch der Lutherzeit, im Grunde Meißner Amtsdeutsch, überall da, wo es juristisch wurde, auch mit lateinischen Formeln durchsetzt. Von den vielen angehängten Konsonanten ganz zu schweigen. Man schrieb tatsächlich so wie man sprach.
Je länger man sich durch diese ganzen Schiedssprüche arbeitet, umso dankbarer ist man Leuten wie Gottsched und Duden, die sich für ein einheitliches, klar definiertes Schreibdeutsch einsetzten. Schon so ist diese Veröffentlichung eine Freude für Linguisten und Onomastiker. Denn wir landen ja mit der Zeit, in der dieses Ratsbuch im Dienst war – 1501 bis 1512 –, in jener Zeit, in der sich auch erst die Schreibformen der Vor- und Familiennamen zu stabilisieren begannen.
Da staunt man schon, dass sich die Ratsschreiber in dem Buch trotzdem zurechtfanden, denn manche Fälle tauchten ja Jahre später wieder auf – und damit auch die handelnden Personen. Die oft selbst nicht buchstabieren konnten, wie ihr Name eigentlich zu lesen wäre. Hauptsache, die Familienverhältnisse waren klar und es war eindeutig, wer wem nun wann welche Schulden abzubezahlen hatte. Oder ob man nun den Thommel, Thumel, Thümmel, Thomel als Maurermeister vor sich hatte.
Wobei es da noch einen Tommel gibt, der ebenfalls Hans hieß. Dieser Maurermeister wurde ganz bestimmt auf der Baustelle nicht als Herr Thommel angesprochen, sondern als Meister Hans. Da wussten in der 8.000-Einwohner-Stadt alle, wer gemeint war und ob es eine gute Idee war, dem Stadtmaurer eine Reparatur am eigenen Haus zu übertragen.
Wobei: Die Maurer müssen eine Menge zu tun gehabt haben. Leipzig erlebte gerade seine nächste Häutung, nachdem der Kaiser die drei Leipziger Jahrmärkte zu Reichsmessen erhoben hatte. Denn gebaut wurde eine Menge. Selbst halbfertige Häuser wechselten den Besitzer oder wurden zum Pfand gegeben. Und in der Reichsstraße sorgte ein einsturzgefährdetes Haus für Ärger. Wobei dieser Meister Hans einen guten Ruf gehabt haben muss. So wurde er auch 1507 wieder „zu des rats meurer uffgenimmen und voreydt“.
Man staunt immer wieder, wen der Rat der Stadt so alles beschäftigte. Nicht nur Ratsschreiber und Waagmeister, auch Harnischmeister, Marktmeister, Ziegelstreicher, Kellerschreiber. Und dann dieses schöne Wort für die damalige Stadtpolizei: Zirkler. Zehn Zirkler wurden jedes Jahr neu vereidigt, auf dass sie der Stadt treu dienen und auf den Straßen für Ruhe sorgen.
Das baufällige Haus in der Reichsstraße findet man übrigens im Eintrag Nr. 1174 vom 6. März und 7. Mai 1511. Man findet aber auch die Verträge mit den verschiedenen Müllern, die in den städtischen Mühlen tätig waren. Die übernahmen sie für eine geringe Pacht. Gerade bei den Getreidemühlen ging es dem Rat vor allem darum, den Mehlnachschub für die Stadt zu sichern.
Man begegnet aber sogar einem alten Bekannten, den man hier gar nicht erwartet hätte: Johann Tetzel, jenen berühmten Ablassprediger, der 1517 Luther so verärgern sollte, dass der seine 95 Thesen wider den Ablasshandel an die Wittenberger Schlosskirchentür pinnen ließ. 1506 ist Tetzel dann der logische Adressat von 120 Gulden aus dem „livländischen Jubiläumsablass“.
Und ganz sicher hat Jens Kunze recht, wenn er sich wünscht, man könnte all die Namen, die in den Ratsbüchern auftauchen, einfach mal in ein Computerprogramm packen und miteinander verknüpfen – wer hat mit wem eigentlich Handelsbeziehungen und Schuldverhältnisse, wer bekleidet wann welches Amt im Leipziger Rat, wer besitzt Cuxe im Erzgebirge, wo ja kurz zuvor das neueste Berggeschrey ausgebrochen war, wer ist mit wem verwandt, verschwägert, verheiratet? Einiges deutet er in seinem Vorwort an. Denn etliche der Namen spielen in der Leipziger Stadtgeschichte immer wieder eine Rolle, weil Vertreter aus diesen reichen Kaufmannsfamilien auch immer wieder Bürgermeister waren. So taucht natürlich auch Georg Wiedebach auf, Amtmann zu Leipzig und Ehemann jener Apollonia, nach der heute noch ein Platz und eine Schule in Connewitz benannt sind. Und natürlich taucht auch Herzog Georg immer wieder auf, meist indirekt wie bei dem Rezess zum Bocksdorf-Stipendium. Hier richtig schön als „Herzog Jorgen von Sachsen etc.“ Da war dem Ratsschreiber die ganze Titulatur des Landesherren doch etwas zu lang.
Und mittendrin taucht dann immer wieder eine Liste von Bekleidung auf, die an die von der Stadt beschäftigten Knechte, Tormeister, Pfeiffer, Nachtzirkler ausgegeben wurde. Und auch an die Hausmänner „zu St. Niclas, zu St. Thomas, hengersztorm“. Also die Turmwächter, die da oben wohnten und die Stadt vor Brandausbrüchen warnen sollten. Und dass man es beim gemeinen Volk mit den vollständigen Namen nicht so genau nahm, zeigt die Auflistung der vereidigten Nachtzirkler vom 29. April 1507: „Pretyn, Jordan, Valten, Jorge Webe, Keysser, Hansz Frank, Jost Steffen“.
Und auch die nähere Topografie taucht in Ausschnitten immer wieder auf – das Naundörfchen etwa, Eutritzsch oder die Grimmaische und die Petersvorstadt. Und Eintrag Nr. 25 vom 13. Mai 1501 erhellt noch einmal, wie damals die Trinkwasserversorgung von Leipzig funktionierte. Denn das sicherte man sich mit einem Vertrag mit Wilhelm Crahn, dem die Quellen bei der Funkenburg gehörten, einem Vorwerk im heutigen Thonberg. Nicht zu verwechseln mit der später entstandenen Funkenburg im heutigen Waldstraßenviertel, wo man unter Garantie keine sprudelnde Quelle gefunden hätte.
Das Ratsbuch mit seinen 2.500 darin erwähnten Personen gibt einen erstaunlich breiten Einblick in das Leben der Stadt, die noch nichts ahnt von Luther, Reformation und Schmalkaldischem Krieg. Und eigentlich existiert auch noch nicht das unter Hieronymus Lotter (um-)gebaute Rathaus, das wir heute das Alte Rathaus nennen. Aber zwei Belege in diesem Ratsbuch zeigen, dass es auch damals schon ein ganz offizielles auch als solches bezeichnetes Rathaus gegeben haben muss.
Höchstwahrscheinlich identisch mit einem Bau, der später von Lotter in sein Rathaus mit eingefügt wurde, denn es funktionierte auch schon genauso mit Ratsstube und den berühmten Gewölben „under dem rathaus“, die von Händlern gepachtet wurden, um darin ihre Waren zur Messe zu lagern. Diese Gewölbe oder auch Gewandkammern wurden auch in anderen Vereinbarungen erwähnt.
Und in Nummer 4 erfahren wir schon sehr früh, dass nicht alle Schuldner auch zeitnah in der Lage waren, ihre Schulden zu tilgen. Da kam dann wohl auch Mancher zur Erzwingungshaft ins Ratsgefängnis, in „ratsgehorsam“, und zwar „uff sein eygen kost“. Bis er „die schulde vergnugt hatt“. Was mit Vergnügen nichts zu tun hatte, sondern mit Genügen. Man ahnt nur die Dramen, die sich abseits der Ratsstube dabei abspielten.
Und das sind ja nicht die wirklichen Gerichtsfälle, sondern nur die einfachen Zivilfälle, die das Kollegium der drei sitzenden (also: amtierenden) Räte entschied, manchmal wohl auch nur der gerade für ein Jahr amtierende Bürgermeister. Die anderen Fälle findet man dann eher im Schöffenbuch. Auch so eines hat der Universitätsverlag schon ediert.
Man spürt im Vorwort von Jens Kunze, wie es ihn bei all den scheinbar so beiläufigen Niederschriften juckt, die ganzen Daten wirklich mal in den Computer zu füttern und alle miteinander zu verknüpfen, sodass zumindest die Welt der Kaufleute, Handwerksmeister und ihrer Familien sichtbar wird. Unsichtbar bleiben nur all die „gemeinen“ Leute, die keine Verträge eingingen, nichts zu vererben hatten und sich auch bei Schlägereien, Beleidigungen oder gar Totschlag nicht einfach mit einer Summe Geldes loskaufen konnten.
Die damit eben auch nicht in den Ratsakten auftauchten, nicht mal als verwaistes Mündel, dessen Vormünder oft nicht nur den Nachlass der verstorbenen Eltern regeln mussten, sondern manchmal auch deren Schulden.
Für Interessierte an ganz realer Stadtgeschichte wieder ein schwergewichtiger Band voller Entdeckungen, dem auch das Leipziger Jubiläum der Ersterwähnung von 2015 zugute kam, denn dadurch gab es wieder kräftige Unterstützung durch die Stadt. Und ein ordentliches Personen- und ein Ortsregister erleichtern das Finden markanter Einträge, wenn man direkt danach suchen möchte.
Auch das Finden der Orte, die heute aus dem Straßenbild verschwunden sind – leider, muss man sagen. Denn sie waren allesamt viel bildhafter und sprechender als unsere heutigen Benennungen nach lauter „bedeutenden“ Persönlichkeiten: Kautz, Klitzschergasse, Sack, Eselsmarkt.
Am Ende steht dann als Eintrag Nr. 1241 noch der damalige Ratsherreneid, den Jens Kunze auch heute noch sehr sinnvoll findet. Zumindest sehr bedenkenswert, wenn sich Ratsherren (die ja damals alle aus den reichen Bürgerfamilien kamen) verpflichteten, für Reiche wie Arme gleichermaßen zu sitzen – also ihres Amtes zu walten, und sich dabei nicht durch Liebe, Leid, Geschenke, Freundschaft und Feindschaft noch andere Sachsen abbringen zu lassen von einer „trewlichen“ Verwaltung des Amtes.
Jens Kunze (Bearb.) Das dritte Leipziger Ratsbuch 1501-1512, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2020, 49 Euro.
Das neue Jahrbuch zur Stadtgeschichte: In den vier Bänden zur Stadtgeschichte steht noch längst nicht alles
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