Die Weltreise über die Feiertage ist nicht möglich? Das muss nicht sein. Denn Verreisen kann man auch im Lesesessel. Und dieses Buch verspricht auf jeden Fall jede Menge Entdeckungen. Fast so, als wäre man mit den großen Entdeckern der Geschichte unterwegs in Gegenden, wo nie zuvor ein Linguist gewesen. Oder ein Missionar. Oder ein emsiger Professor aus New York, den nichts so sehr fasziniert wie die Entdeckung einer neuen Sprache.
Denn wirklich bewusst ist einem als von deutschen, englischen, vielleicht französischen, spanischen und arabischen Sprachbrocken umgebener Europäer gar nicht, wie reich und vielfältig die Welt der menschlichen Sprachen tatsächlich ist. Gewesen ist. Gewesen sein wird. Von rund 7.000 verschiedenen Sprachen wissen die Forscher. Dazu kommen noch – geschätzt – rund 5.000, die wahrscheinlich im Lauf der Geschichte ausgestorben sind.
Mal sind es die Völker, die sie einst sprachen, die im Dunkel der Geschichte verschwunden sind, mal die schützenden Lebensbedingungen. Denn dass so viele verschiedene Sprachen entstanden sind, hat auch damit zu tun, dass menschliche Gemeinschaften in der Vergangenheit oft ihre Nischen hatten, deutlich weniger mit anderen Völkern in Kontakt kamen, oft sogar regelrecht isoliert in Urwäldern, abgelegenen Tälern oder auf Inseln lebten.
Wo sie in intensiven Kontakt traten, haben sich schnell diverse Verkehrssprachen entwickelt oder jene Mischmasch-Sprachen, die als Lingua Franca, Pidgin oder Kreol-Sprachen ihr eigenes Leben entfalteten. Selbst die modernen Großsprachen sind aus solchen Verschmelzungsprozessen entstanden.
Aber darum geht es in dem Buch nicht, das die Literaturwissenschaftlerin Rita Mielke geschrieben und Hanna Zeckau phantasiereich illustriert hat – alles angereichert mit großen Karten, die einem helfen, die jeweils vorgestellten Sprachinseln zu finden. Oder wenigstens eine Ahnung davon zu bekommen, wo deren Sprecher einst gelebt haben. Denn einige der in diesem Buch vorgestellten Sprachen sind ausgestorben. Was Rita Mielke nicht davon abhält, trotzdem ihre Geschichte und ihre Besonderheiten zu erzählen.
Denn Sprachen sind mehr als nur Kommunikation. Sie erzählen auch von der Gesellschaft, in der sie entstanden, von der Welt ihrer Sprecher und selbst von kompliziertesten Verwandtschaftsverhältnissen. Ein halbes Hundert solcher Sprachen porträtiert Mielke, auf jedem Kontinent im Schnitt zehn. Das macht auch etwas sichtbar, was einem für gewöhnlich nicht wahrnehmbar ist, weil man die meisten Kontinente nur mit ihren Hauptsprachen in Verbindung bringt – Nordamerika mit Englisch, Südamerika mit Spanisch und Portugiesisch zum Beispiel.
Man vergisst ja regelrecht, dass auch auf diesen Kontinenten einst verschiedenste Sprachen gesprochen wurden und die Ureinwohner ganz und gar nicht die homogene (sprachlose) Menge waren, die uns in der Geschichtsschreibung oft begegnet. Auch wenn wir heute oft nur noch klägliche Reste dieser einstigen Sprachen vorfinden, reduziert auf wenige Sprecher, jahrzehnte- oft jahrhundertelang von den jeweiligen Regierungen auch mit massiver Gewalt unterdrückt.
Dass viele dieser Sprachen ausstarben, hat auch damit zu tun, dass sie meist nie verschriftlicht wurden. Wenn die letzten Sprecher starben, starben damit auch die Sprache, oft sogar „eine ganze Bibliothek“, denn alle Völker kannten auch ihre Barden, Sänger und Legendenbewahrer, die die eigene Geschichte mündlich überlieferten.
Exemplarisch dafür stehen in diesem Buch die Bewohner Australiens, die wir uns landläufig ebenfalls gern als homogene Gruppe vorstellen, obwohl auch die Aborigini in völlig verschiedenen Sprachgruppen lebten. Und nur eine davon hatte das Känguru als Begriff für das bekannte Beuteltier in ihrem Sprachschatz. Wie klein diese Sprachinsel ist, sieht man im Kapitel zu den Guugu-Yimithirr, denen Captain Cook einst auf seiner legendären Weltumseglung begegnete.
Das Glück dabei: Er hatte auch einen Mann an Bord, der sich während des kurzen Aufenthalts auch intensiv mit der Sprache der Eingeborenen beschäftigte. Und es waren immer wieder solche Einzelkämpfer, die viele kleine Sprachen überhaupt erst entdeckt, oft auch vor dem Vergessen bewahrt haben. Oft waren es Missionare, die unbedingt das Wort Gottes in den letzten Winkel der Erde bringen wollten – was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist, wenn es in den Sprachen der missionierten Menschen nicht einmal Begriffe für das gibt, was sich Christen unter Gott und Jenseits vorstellen.
Aber lange Zeit herrschte auch unter den Missionaren der feste Glauben, man müsste die Bibel nur in die jeweilige Sprache übersetzen, schon würde die Christianisierung funktionieren. Was meist aber wohl eher ein frommer Glaube war, wovon auch diverse dieser Bibeln erzählen. Denn oft blieb den lernwilligen Missionaren nichts anderes übrig, als die Begriffe der Einheimischen aus ihren eigenen Mythen und Weltvorstellungen einzusetzen für die in der Bibel enthaltenen metaphysischen Begriffe. Womit aber sichtlich die mythische Welt der „Bekehrten“ auf einmal in ihrer Bibel stand.
Aber dieses Aufspüren noch unentdeckter Sprachen war auch ein Wettlauf gegen die Zeit – oder besser: die um sich greifende Globalisierung, die auch schon im 18. und 19. Jahrhundert eine Nivellierung war. Die Kolonialherren brachten ihre eigene Sprache mit und zwangen den eroberten Völkern auch eben diese als Monokultur auf.
Das war in Australien nicht anders als in Nordamerika, Russland oder Afrika. Dort begegnen wir den Khoisan, die in Deutschland lange Zeit als Hottentotten verunglimpft wurden – und werden. Denn so schnell sterben ja die Bosheiten kolonialer Arroganz nicht aus. Dafür sind von den einst 35 verschiedenen Sprachen der im heutigen Namibia und in Botswana heimischen Khoisan die meisten ausgestorben.
Und was dieses Aussterben bedeutet, macht Mielke sehr anschaulich, wenn sie über die Besonderheiten der von ihr vorgestellten Sprachen spricht – die oft abenteuerlich anmutenden Satzkonstruktionen, die eigenartigen Weltvorstellungen, die sich zum Beispiel bei den Supyire in Mali in fünf Geschlechtern ausdrücken. Manche Sprachen sind ja schon deshalb legendär, weil sie so alt sind – so wie das Koptische, das einst den Schlüssel zu den ägyptischen Hieroglyphen bot.
Oder das Etruskische, von dem wir zwar ein paar Inschriften haben – aber nicht einmal wissen, wie es geklungen haben könnte. Auch Kunstsprachen wie das Solresol porträtiert die Autorin. Oder jene „Geheimsprachen“ der Unterdrückten und Ausgesonderten, die sich mit so einer Sprache von der herrschenden Gesellschaft abschotteten – wie das Javanais in Paris.
Wobei es zu solchen Sondersprachen auch ein kleines Extra-Kapitel gibt: Kauderwelsch.
Andere Sprachen hätten die heutigen Linguisten nur zu gern wieder zum Leben erweckt – wenn das nur möglich wäre. Das Piktische zum Beispiel. Mitten in Europa gibt es ja genauso all diese kleinen und versteckten Sprachen. Auf einmal wird die Welt als ein großer Globus voller unterschiedlichster Sprachen sichtbar.
Verständlich, dass sich da gerade die großen Globalisierungsmächte wünschen, dass sie bei einem Besuch im nächsten Königreich nicht gleich 150 Dolmetscher brauchen. Am liebsten ja bekanntlich gar keinen, weil sie ihre Sprache nur zu gern zur überall gültigen Handelssprache gemacht hätten. Das war schon bei den Römern so. Wo ist das Punische geblieben? Wie sprachen eigentlich die alten Gallier?
Sprachen sterben tatsächlich. Das wissen wir nach dem Lesen all dieser kleinen und großen Geschichten, in denen oft einzelne, emsige Forscher/-innen eine Rolle spielen, wie der New Yorker Professor Daniel Kaufman, der selbst in New York, der „Arche Noah für gefährdete Sprachen“ erfolgreich seltene und vom verschwinden bedrohte Sprachen findet. Denn nach New York kommen oft auch die Sprecher/-innen kleiner Sprachgruppen, die in der Heimat auch ökonomisch bedroht sind. Etwa das Garifuna, das im kolonialen Schmelztiegel der Karibik entstand.
Solche Sprachen verraten den Linguisten oft, wie sie entstanden sind, auch wer ihre ursprünglichen Sprecher waren. Sie bewahren alte gesellschaftliche Rollenmuster und überraschen die Forscher oft auch durch eine Weltsicht, die sich gründlich von der in den westlichen Nationen verbreiteten unterscheidet.
Manche Völker haben nicht einmal einen Begriff für das, was uns im Norden als Hektik und Zeitdruck derart treibt und jagt. Andere haben Sondersprachen für Frauen und Männer, wieder andere kennen keine Begriffe für die uns geläufige Farbpalette – was Linguisten und Enthnologen immer wieder fragen lässt: Kann es sein, dass Sprache bestimmt, wie wir die Welt sehen?
Und da sind die 200 Begriffe für Schnee, die die Sami haben, noch das leicht Begreifbare, ganz ähnlich wie die 500 Begriffe der Hawaiianer für Regen. Gerade wenn Menschengruppen sehr isoliert werden, prägt ihre natürliche Umgebung ganz augenscheinlich auch ihre Wahrnehmung von der Welt – in beiden Richtungen: Was nicht da ist, wird auch nicht in Begriffe gefasst. Und was wichtig ist, wird sehr genau benannt.
Es ist eine faszinierende Weltreise, zu der Rita Mielke hier einlädt. Eine, die den Reichtum der Welt einmal so zeigt, wie er in Geschichtsbüchern oft nicht zu sehen ist in seiner Vielfalt. Sogar die Frage taucht auf: Welche könnte eigentlich die älteste Sprachfamilie der Menschheit sein? Deuten darauf nicht einige afrikanische Sprachen hin?
Und vor allem widerspricht dieser Atlas einem bald 3.000 Jahre alten Vorurteil, das man ja in der Bibel findet: dass ein „Sprachgewirr“ eine Katastrophe ist, weil sich die Menschen dann nicht mehr verstehen. Der Einsturz des Turmes zu Babel wird dafür als Beleg angeführt. Aber erzählt er nicht in Wirklichkeit vom Gegenteil? Von der massiven Unterdrückung von Sprachvielfalt und dem anschließenden Hochmut, einen himmelragenden Turm bauen zu wollen, bei dem die versklavten Völker zum Baudienst eingesetzt werden?
Vorurteile können manchmal ganz schön langlebig sein. Und in vielen der von Mielke erzählten Geschichten wird deutlich, wie sehr die „Heilsbringer“ aus dem Norden meist überzeugt waren, den „primitiven“ Völkern der Welt die einzig selig machende Zivilisation zu bringen. Was die direkte Unterdrückung von Sprache, Überlieferung, Legende zur Folge hatte. Völker aber, die ihre Sprache verlieren, verlieren auch ihre Geschichte und ihre Seele.
Das wird eigentlich in fast jedem Artikel in diesem Atlas deutlich, der für manche Leser natürlich wie eine Entdeckungsreise in eine bislang unbekannte Welt wirken wird. Ganz zu schweigen davon, dass die oft langweiligen Landkarten auf einmal Struktur gewinnen und zeigen, dass überall ganz besondere Menschen leben. Und einige davon mit einer einzigartigen Sprache, deren Schönheit sich erst entfaltet, wenn fleißige Forscher/-innen losziehen und sammeln, was noch zu retten ist.
Rita Mielke Atlas der verlorenen Sprachen, Dudenverlag, Berlin 2020, 28 Euro.
Darwins Notizbuch: Das Leben und Forschen von Charles Darwin in Bildern, Zitaten und kurzweiligen Texten
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