Von Zeit zu Zeit muss es so etwas einfach geben wie diesen Sammelband mit 100 vorgestellten Autor/-innen, ihren Büchern und den von ihnen erschaffenen Welten. Als Markstein, Bilanz und Orientierung. Denn Literatur ist immer auch das Erschaffen neuer Welten. Manche sind so berühmt, dass sich Leser/-innen darin so zu Hause fühlen wie in der realen Welt. Manche sind auch so schrecklich wie die Wirklichkeit. Schöne neue Welten eben, die unsere alltägliche Welt gnadenlos infrage stellen.
Natürlich denkt man beim Titel „Wonderlands“ erst einmal nur an die phantastischen Welten, die auch außerhalb der gedruckten Bücher für Furore sorgen – an Mittelerde von Tolkien zum Beispiel, der natürlich in diesem Sammelband genauso vorkommt wie das Wunderland von Alice, die Zauberwelt von Oz oder die von Gulliver bereisten Reiche der Riesen, Liliputaner und klugen Pferde.
Wer emsig liest weiß, dass man um alle diese ausgedachten Welten nicht herumkommt, denn sie entführen ihre Leser/-innen natürlich in Als-ob-Welten, Welten, in denen die Dinge so anders sind, dass darin das scheinbar Gewöhnliche aus der realen Welt seltsam anmutet. Es sind immer Gegen-Welten, die vom Möglichen erzählen. Im positiven wie negativen Sinn. Niemand sonst zeigt so regelmäßig und eindrucksvoll, dass der Mensch fähig ist, über den nur scheinbar alternativlosen Alltag hinauszudenken, wie die besten Schriftsteller/-innen aller Zeiten.
Nie war ein Spruch so dumm und platt wie der von Englands einstiger Premierministerin Margaret Thatcher: „There is no alternative.“
Der simple Gang in den nächsten Buchladen hätte genügt, um ihn zu widerlegen. Aber die verbitterten Konservativen aller Grauschattierungen sind wie besessen davon, die Welt als alternativlos zu denken. Wer aber nicht (mehr) in Alternativen denken kann, verliert die Fähigkeit zur Korrektur. Der verbietet sich geradezu, sich die Dinge anders vorzustellen, als sie gerade sind. Im guten wie im schlechten Sinn.
Deswegen sind auch einige der berühmtesten Dystopien in diesem Band berücksichtigt, die auch deshalb berühmt wurden und blieben, weil sie uns warnen vor einem Weiterso. Weil sie plastisch in Geschichten umsetzen, was droht, wenn wir fatalen Entwicklungen nicht gegensteuern. So findet man eben auch Orwells „1984“, Wells’ „Die Zeitmaschine“, Huxleys „Schöne neue Welt“, aber auch Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ und Burgess’ „Clockwork Orange“.
Alles Bücher, die schon deshalb nicht vergessen werden, weil die ihnen zugrunde liegenden Tendenzen allesamt virulent sind. Mit feinem Gespür malen die Autor/-innen aus, was passieren würde, wenn wir den finsteren Seiten unserer Gesellschaft die Oberhand geben. Da dürfen auch Vonneguts „Schlachthof Nr. 5“ und Bradburys „Fahrenheit 451“ nicht fehlen.
Und natürlich darf auch ein William Gibson nicht fehlen, der mit seiner „Neuromancer“-Trilogie ab 1984 vorwegnahm, was die schöne neue Welt der Digitalisierung und der a-sozialen Netzwerke mit unserer Zukunft anrichten würden. Mancher fühlt sich heute genau in diesem irre gewordenen technischen Kosmos verloren, den Gibson beschrieb und bis heute immer genauer und feinsinniger in immer neuen Büchern beschreibt.
Und auch die vielen Fantasy-Reiche, die heute vor allem durch Verfilmungen ein neues Millionenpublikum erreichen, spiegeln – bei allem Rückgriff auf alte Sagengestalten und Mythen – die Probleme und Ärgernisse unserer realen Welt. Und die besten Fantasy-Autor/-innen vermögen es mit einer klug gewählten Besetzung, die ganz irdischen moralischen Zwickmühlen in märchenhafte Geschichten zu verwandeln, die Bücher wie die Joan K. Rowlings Harry-Potter-Reihe, George R. Martins „Game of Thrones“ oder auch die Tolkien-Verfilmungen zu Straßenräumern machen.
Die Geschichten sind auf einmal Teil einer weltumspannenden Kultur. Milliarden Menschen kennen die Helden und Motive und fühlen sich auch gemeint. Und sie sehen auch all das, was in ihrem irdischen Leben konfliktreich verläuft, aufgenommen, verwandelt. Die ganze meist sehr gewalttätige Sword-and-Sorcery-Fantasy haben die Autorinnen und Autoren, die Laura Miller zum Mitschreiben eingeladen hat, lieber weggelassen. Das ist sozusagen dumme Fantasy – genauso wie die von Weltraumkriegen dominierte Science Fiction dumme SF für Schafsköpfe ist.
Die besten Fantasy- und SF-Autor/-innen haben die Grenzen des Genres immer gesprengt und selbst auf stilistisch höchstem Niveau ihren Leser/-innen gezeigt, dass platte Schwarz-Weiß-Geschichten weder spannend noch aufregend sind. Aufregend wird es, wenn die Helden so schräg und zerrissen sind, wie echte Menschen nun einmal schräg und zerrissen sind. Und die dann trotzdem in irren Phantasielandschaften agieren – exemplarisch zu erleben in Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“ genauso wie in Terry Pratchetts Scheibenwelt-Zyklus oder in Stanislaw Lems Geschichten (von denen „Solaris“ in diesem Band gewürdigt wird).
Natürlich versuchen die versammelten Autor/-innen die ganze große Geschichte der literarischen Phantasiewelten einigermaßen abzubilden. Denn Menschen haben sich, seit sie erzählen können, immer wieder erfundene Geschichten erzählt, sie mit phantastischen Gestalten bevölkert, die faszinierende Abenteuer erleben.
Das beginnt beim Gilgamesch-Epos, geht über Homers „Odyssee“ und den „Beowulf“ weiter bis zu den Artus-Geschichten, die von Schriftstellern immer wieder neu erzählt wurden, weil hier elementare menschliche Probleme in unvergessliche Konstellationen gepackt wurden – immerhin geht es um Liebe, Treue, Verrat, Mut und Versagen. Also ganz menschliche Themen, die auch jeder erlebt, der sich auch ohne Ritterrüstung im Leben behaupten muss.
Die Phantasie-Landschaften änderten sich logischerweise im Lauf der Jahrhunderte. Das Bedürfnis der Autoren, die Fehlentwicklungen ihrer Gegenwart in phantastischen Gegen-Welten zu kritisieren, wurde spürbar größer. Schon in Ovids „Metamorphosen“ wird es sichtbar, in Dantes „Göttlicher Komödie“ noch stärker, und an Morus’ „Utopia“ und Butlers „Erewhon“ kommt man dann eigentlich nicht mehr vorbei. Ganz zu schweigen von den Dystopien des frühen 20. Jahrhunderts in Samjatins „Wir“ und Kafkas „Schloss“.
Wer das alles noch nicht kennt, der dürfte verblüfft sein, wie reich die Welt der Wonderlands in den Regalen der Bibliotheken inzwischen ist. Aber auch darüber, wie sie die eigene Phantasie bereichert. Denn wer wirklich liest, der merkt bei dieser Reise durch die Geschichten der Weltliteratur natürlich bald, wie platt und einfältig das Meiste ist, was einem unbelesene Menschen tagtäglich als Geschwätz und Politik anbieten. Als wären sie nicht in der Lage, auch nur eine Minute in die Zukunft zu denken und sich das Mögliche vorzustellen. Nichts ist frustrierender als Menschen ohne Vorstellungsvermögen.
Man kann sich mit ihnen weder über Garcia Marquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“ unterhalten noch über Murakamis „1Q84“, nicht über Calvinos „Unsichtbare Städte“ und auch nicht über Asimovs Roboter-Gesetze. Was die kleinen Essays zu den ausgewählten Büchern zeigen, sind natürlich auch die vielen direkten und indirekten Beziehungen innerhalb all dieser Welten. Denn natürlich parodieren Schriftsteller auch gern, übernehmen geniale Erfindungen und schreiben sie weiter.
Manchmal schnappen sie sich die berühmten Legenden und bürsten sie auf geniale Weise gegen den Strich – so wie es Cervantes in „Don Quijote“ getan hat oder Mark Twain in „Ein Yankee an König Artus’ Hof“. Nirgendwo wird so intensiv und phantasievoll das Allermenschlichste diskutiert wie in den großen Phantasie-Welten der Weltliteratur.
Allein diese Auswahl zeigt schon, wie reich diese Welt der erfundenen Welten schon ist. Niemand darf darüber klagen, das sei ihm oder ihr fremd. Denn am Lesen wird niemand gehindert. Die Bücher erschienen oft genug in Millionenauflagen und werden oft auch immer wieder aufgelegt. Sie gehören in weiten Teilen längst zum wirklichen Gedächtnis der Menschheit und wenn von Odysseus, Don Quijote oder Gulliver die Rede ist, wissen alle, von wem die Rede ist.
Und natürlich darf man Titel vermissen in dieser Auswahl. Man merkt schon, dass die Autor/-innen um Laura Miller eine doch sehr amerikanische Sicht auf die Literatur haben, auch wenn sie diese zu durchbrechen versuchen, denn Calvino, Boulle oder Lem erwartet man ja nicht wirklich, wenn Amerikaner über phantastische Welten schreiben.
Dass es da tatsächlich blinde Flecken geben könnte, ahnt man zumindest. Vielleicht liegt es wirklich daran, dass Voltaire („Candide“), Rabelais („Gargantua und Pantagruel“), Merle („Ein vernunftbegabtes Tier“) oder Michael Ende („Die unendliche Geschichte“) von diesem speziellen Autorenkreis nicht wahrgenommen wurden, obwohl ihre Werke in einigen der rezipierten Wonderlands ihre würdigen Nachfolger gefunden haben. Andere Autor/-innen, die man vermisst, werden zumindest in Nebensätzen erwähnt – so wie Mary Shelleys „Frankenstein“. Was natürlich auch zeigt, dass eine wirklich umfassende Darstellung aller wichtigen phantastischen Welten so einen immerhin reich bebilderten Band einfach gesprengt hätte.
So betrachtet ist das Buch eine einzige große Einladung an alle Lesenden, diese Bücher der Weltliteratur nach und nach zu erobern und zu entdecken und ihrem eigenen Lesekosmos einzufügen. Wer einmal drin ist in diesen Welten, der kommt von ganz allein auf den Appetit und will immer mehr wissen und lesen und entdecken.
Der lässt sich irgendwann mit Denkverboten á la Margaret Thatcher nicht abspeisen, der schaltet auch die ganzen elektronischen Bespaßer aus und nimmt sich wieder das Menschenrecht auf Ruhe, Zeit und eigene Phantasie. Diese Bücher befeuern die Vorstellungskraft. Und die besten zeigen, dass wir uns den schäbigen Umgang der Phantasielosen mit unserer Welt nicht gefallen lassen müssen, all dieser Da-ist-keine-Alternative-Typen, die in ihrer betonierten Selbstgerechtigkeit versuchen, allen anderen die Phantasie und die Neugier auszutreiben samt der Fähigkeit, das Mögliche und auch das Unmögliche zu denken.
Man muss nicht erst in der Big-Brother-Welt Orwells landen um zu merken, dass die Typen, die das Denken der Menschen nur zu gern zensieren und kanalisieren würden, immer schon da sind und mit unheimlicher Sturheit versuchen, alle Hebel der Macht in die Hände zu bekommen. Im Westen genauso wie im Osten. Denn immer wieder schaffen sie es, den Menschen auszureden, es könnte auch eine andere Zukunft geben als das visionslose Jetzt mit seiner riesigen Produktion an Bespaßung, Ruhigstellung, Fakenews und Beruhigungspillen (wie in „Schöne neue Welt“).
Das Buch ist tatsächlich eine einzige Einladung: Lest, Leute! Gebt eurer Phantasie Futter! Lasst euch die grassierende Phantasielosigkeit nicht gefallen! Tut eurem hungrigen Gehirn etwas Gutes.
Die Texte versuchen die Bedeutung des jeweilig besprochenen Buches ein wenig einzuordnen und die geschilderte Welt in kurzen Strichen zu skizzieren, sodass man wenigstens schon so ein Gefühl dafür bekommt, warum der Titel derart große Wirkung entfalten konnte. Man kann den Band also auch als einen gewissen Fahrplan benutzen, um sich diese Welten zu erschließen.
Für manche wird das schon Lesestoff fürs Leben sein, für manche aber auch Anregung, ganz neue Welten zu entdecken und dem eigenen Gehirn das schöne Gefühl zu geben, dass es bei der täglichen Magerkost nicht verhungern muss: Da stehen ganze Büchereien voller phantastischer Inseln, Täler, Städte und verborgener Reiche, zu denen es einen einzigen Schlüssel gibt: Die nimmersatte Lust aufs Lesen und aufs Aufbrechen in immer neue unendliche Weiten.
Laura Miller Wonderlands, wbg Theiss, Darmstadt 2020, 28 Euro.
Die Wunderkammer der deutschen Sprache: Ein liebevoll gemachtes Buch über den Reichtum unserer Sprache
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