Eigentlich fuhren Julia Kastein und Sebastian Hesse-Kastein vor einem Jahr in die USA, um das zerrissene Land im Jahr der Präsidentschaftswahlen zu erkunden und herauszubekommen, warum es so zerrissen ist. Was ist noch übrig vom „Sehnsuchtsland der Freiheit“? Oder haben wir in Europa einen völlig falschen Blick auf die Supermacht und ihre Bewohner? Aber dann kam ja bekanntlich Corona dazwischen.

Was nun einmal auch Journalisten behindert. War es vorher normal, Leute einfach anzusprechen, sich in Demonstrationen zu wagen, gar in Wahlkampfveranstaltungen, ist das alles seit März nicht mehr möglich. Zumindest hochgradig unvernünftig. Auch dann, wenn man nicht gerade dem Trump-Zirkus hinterherreist, um vielleicht doch noch irgendwie herauszubekommen, warum die Leute diesen arroganten und egoistischen Immobilientycoon und TV-Darsteller wählen.

Natürlich muss man dazu nicht zu seinen Wahlkampfveranstaltungen fahren, wo Donald Trump augenscheinlich immer wieder dieselbe Show abzieht, mal mit neuen Versatzstücken, mal mit neuen Verleumdungen. Und immer wieder denselben Tiraden gegen die Medien.

Aber Julia Kastein und Sebastian Hesse-Kastein, die als Korrespondenten für die ARD unterwegs sind, haben sich dort auf die Spurensuche begeben, wo die meisten Leute wohnen, die 2016 Trump gewählt haben und ihn auch vier Jahre später noch wählen würden. Und das sind nicht nur die Waffennarren und Evangelikalen, Abtreibungsgegner und die Farmer aus dem Mittleren Westen.

Denn auf ihrem Roadtrip vor allem durch die Staaten des Mittleren Westens wird den beiden Journalisten bald klar, dass Trump auch von einer Spaltung profitiert, für die auch Hillary Clinton stand, als sie sich im Präsidentschaftswahlkampf 2016 verächtlich über die Trump-Anhänger äußerte. Sie regelrecht zu Aussortierten und Abschaum erklärte. Was gerade bei den sowieso schon von Arbeitslosigkeit und Abstieg Bedrohten ganz und gar nicht gut ankam. Der Ausspruch bestätigte geradezu das Gerede von der Ostküsten-Elite, gegen die Trump behauptete anzutreten. Deren Abgehobenheit und Arroganz.

So etwas kommt in keinem Wahlkampf gut an. Schon gar nicht in einem Land, das sowieso schon tief zerrissen war. Vom kaputten Gesundheitssystem berichten die beiden Reisenden, von der massiven Kriminalisierung der Schwarzen, von den riesigen Problemen der Landwirtschaft und der allgegenwärtigen Angst, morgen selbst zu den Menschen zu gehören, die ihr sauer erspartes Eigenheim verlieren und von der Hand in den Mund leben müssen. In der amerikanischen Gesellschaft ist noch viel mehr Druck als in der deutschen.

Aber es wird nicht gejammert. Das ist vielleicht das Verblüffende. Amerikaner scheinen auch dann nicht ihre Kampfeslust zu verlieren, wenn es ganz dicke kommt. Das ist gerade in dem Kapitel mit den Waffennarren sichtbar. Warum halten die Amis den Besitz einer Schusswaffe für so wichtig, dass es für sie ein Bürgerrecht ist?

Natürlich steht es in der Verfassung. Aber es hat auch mit etwas zu tun, was zum Grundverständnis der Amerikaner von Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie gehört: Im Ernstfall sich und die eigene Familie auch gegen einen übergriffigen Staat verteidigen zu können. Also im Sinn des Wortes genau das zu sein: wehrhafte Demokraten.

Selbst dann, wenn alle Statistiken belegen, dass die Gesellschaft dadurch nicht die Bohne sicherer wird, sondern viele Waffen genau da landen, wo sie eigentlich nie hingelangen dürften – direkt in der Straßenkriminalität und bei Amokläufern. Aber auch das Thema packen die beiden nicht oberflächlich an, sondern sprechen auch mit den Betroffenen, mit Müttern, die ihre Kinder bei Amokläufen oder Polizeiübergriffen verloren haben, und Ex-Polizisten, die den Waffenbesitz propagieren.

Auf einmal erlebt man auch ein wenig das von Depressionen, Drogen und Selbstmorden gebeutelte Amerika. Ein Amerika der stillen Überforderung. Das sich diese Überforderung aber nicht eingestehen will, weil es einfach nicht passt zur großen Legende vom Selfmade-Man. Wer scheitert, ist an seinem Scheitern genauso schuld wie die, die am Ende den Sieg einheimsen.

June Star at the Purple Fiddle August 21, 2018

Doch Hilfsangebote sind rar und schweineteuer. Amerikaner lernen es früh, dass man seine Rechte selbst verteidigen muss. Eindeutig ist das noch ein Kern dieses selbstbewussten Amerikas, das die Welt jahrzehntelang fasziniert hat. Ein Kern, der augenscheinlich auch mit Offenheit und Herzlichkeit zu tun hat.

Denn wie so viele andere USA-Reisende zuvor erzählen die beiden von sehr offenen Begegnungen mit Menschen unterschiedlichster Einstellung und Parteipräferenz. Man ist stolz auf das, was man erreicht hat. Und selbst wenn es einen gebeutelt hat, zeigt man Würde und spricht sachlich über die Dinge und über das, was man vom Präsidenten erwartet.

Auch wenn die Bilanz durchwachsen ist. West Virginia wird nie wieder von der Kohle leben können, Maryland nie wieder vom Tabakanbau. Die Dinge ändern sich. Und gerade weil die beiden mit den Betroffenen vor Ort reden, merkt man, dass auch die amerikanische Bevölkerung nicht so monolithisch ist, wie es einem in den Nachrichten oft vorkommt.

Auch dort verändern sich die Dinge, ist man sich auch der Bedrohungen bewusst. Julia Kastein und Sebastian Hesse-Kastein sind extra in die großen Nationalparks und auch ins Tal des Todes gereist, Orte, an denen der Klimawandel längst studiert werden kann. Wo man aber auch lernt, dass das Bewusstsein der USA für den Wert der Wälder wesentlich älter ist als in Deutschland.

Es ist wirklich das Land der Extreme – auch in diesem Fall. In Thomas in West Virginia, einer Stadt, die einst vom Kohlebergbau lebte, erleben die beiden, wie Künstler und Kunstliebhaber den sterbenden Ort für sich entdeckt haben und ihn mit Kunst und Musik zum Pilgerziel gemacht haben. Dort erleben sie die Band June Star (die wir im Video verlinkt haben) in der „Purple Fiddle“.

Aber sie erleben Thomas auch im Lockdown. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie veränderten logischerweise die Recherchen ab April, aber auch den Wahlkampf, der zumindest bei den Demokraten spannend war. Denn als sie über den Caucus in Iowa berichten, liegt noch Pete Buttigieg vorn und hätte nach den Regeln dieses Wahlkampfs später fast automatisch der Kandidat der Demokraten werden müssen, während Joe Biden da noch blass und müde wirkte.

Als das Buch dann zusammengestellt wurde, war Joe Biden der Präsidentschaftskandidat. Man erfährt auch ein wenig, warum. Denn die Vizepräsidentschaft unter Obama hat Biden das Vertrauen der schwarzen Wähler eingetragen. Am Schluss taucht zwar öfter die Frage auf, ob vielleicht was dran ist an Trumps Slogan, Amerika müsste wieder groß werden. Haben seine Maßnahmen nicht dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit sank und die Wirtschaft vom Handelskrieg mit China profitierte?

Die Bilanz ist durchwachsen. Und mit Corona erlebten ausgerechnet all jene, die dringend auf ihren Job angewiesen waren, wie schnell sie wieder gefeuert wurden. Und viele Schwarze konnten nicht ins Homeoffice gehen, sondern mussten trotzdem arbeiten – und wurden dann ziemlich schnell zur Bevölkerungsgruppe, die am häufigsten vom Coronavirus angesteckt und getötet wurde.

Eigentlich ist schon ziemlich bald klar, was für riesige Aufgaben vor dem künftigen Präsidenten stehen. Und dass die Frage, in welcher Form Amerika wieder „great“ werden soll, völlig verschiedene Antworten nach sich zieht, egal, wen man fragt. Weshalb im Titel dann auch ein Fragezeichen steht. Der Riss geht – wie wir erfahren – auch mitten durch Familien, durch Nachbarschaften und Bundesstaaten.

Aber augenscheinlich spüren es auch die befragten Amerikaner/-innen, wie sehr sich die Stimmung im Land verändert hat. Wahrscheinlich auch nicht erst seit Trump, auch wenn Trump mit dem Schüren von Hass und Verachtung den Spalt noch vertieft hat. Aber die Frage bleibt natürlich unbeantwortet. Die Reportagen zeigen ein Land, das selbst noch nicht weiß, wo es eigentlich hinwill. Denn die alte Größe wird es so nie wieder geben, auch wenn scheinbar eine Menge Leute daran glauben – und ihre konservativsten Wertvorstellungen damit verbinden.

Aber es ist auch wie so oft bei Amerika-Reportagen: Die Leute kommen einem zuweilen erstaunlich vertraut vor, gerade in ihrem offensichtlichen Wunsch, so wie sie sind auch gesehen und akzeptiert zu werden. Es ist ja nicht so, dass wir hier in Deutschland alles besser machen und mit Menschen aller Art besser umgehen. Man sieht sich immer im Spiegel, auch wenn zwei Neugierige wie diese beiden durch ein Land reisen, das uns in seinen Wahlentscheidungen zuweilen geradezu rätselhaft erscheint.

Julia Kastein; Sebastian Hesse-Kastein Great again?, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2020, 18 Euro.

Shortest Way Home: Die politische Autobiografie des Bürgermeisters und möglichen Präsidentschaftskandidaten Pete Buttigiegs

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