Mit ruhiger Hand baut die in der Evangelischen Verlagsanstalt beheimatete Edition Chrismon eine kleine Reihe Weihnachtsgeschichten auf. Nur dass dort nicht die alten und bekannten Weihnachtserzählungen von Charles Dickens oder Ludwig Thoma erscheinen, sondern Texte heutiger Autorinnen und Autoren, die keine Scheu davor haben, auch die modernen Probleme mit diesem oft in Ritualen und Kaufrausch erstarrten Fest zu beschreiben.

Dass das Fest eigentlich schon lange im kompletten Widerspruch zu unserer völlig überdrehten Gesellschaft steht, ist eigentlich nicht nur Schriftsteller/-innen klar. Jedes Jahr landen Millionen Menschen in einem eklatanten Widerspruch, wollen das schönste Familienfest in aller Ruhe und Besinnlichkeit feiern und landen trotzdem im schlimmsten Stress des Jahres. Alle Jahre wieder. Da kann man das Gedudel aus den Beschallungsanlagen schon lange nicht mehr hören.

Und in manchen Familien verwandelt sich der Wunsch nach Frieden schon Tage vor Heiligabend in echten Ärger mit Erwachsenen und Kindern. Und das ist nicht erst heute so. Das war auch schon so, als Rainer Moritz selbst ein Junge war, da hinten in den 1960er Jahren, bei denen man an rebellische Studenten denkt, aber weniger an die Spießigkeit einer Republik, die sich nach dem großen Krieg in einer ziemlich kleinkarierten Moral eingekastelt hatte.

Das schwingt am Rande mit, wenn Rainer Moritz seinen Helden, den zehnjährigen Konrad, dem unvergleichlichen Fräulein Schneider begegnen lässt, kurz zuvor noch die respektierte und gefürchtete stellvertretende Buchhalterin in Vaters Unternehmen, nun augenscheinlich als einsame Seniorin lebend – und trotzdem nicht vergessen. Zumindest von Konrads Vater nicht, der seinen Sohnemann kurz vor Heiligabend hinüberschickt zu der Alleinlebenden, um ihr ein paar Weihnachtsgeschenke zu bringen.

Lang ist das her, denn dass sich Konrad überhaupt wieder an Fräulein Schneider erinnert, das hat eine kleine Zeitungstraueranzige ausgelöst. Fräulein Schneider ist hochbetagt gestorben und der nun mitten im Leben stehende Mann taucht noch im Hausflur ab in die Erinnerung an die Frau, die ihre Arbeitskollegen auch wegen ihrer frappierenden Ähnlichkeit heimlich als Miss Marple bezeichneten.

Eine Miss Marple, die ihre Geheimnisse immer für sich behalten hat, weil ihr Familientratsch und Smalltalk nie gelegen haben. Und so lernt sie Konrad auch kennen, als er sie nun des öfteren besucht. Denn schnell merkt die rüstige Frau, dass sie in Konrad einen gefunden hat, der ihre größte Leidenschaft teilt und begreift – Tischfußball.

Dem älter gewordenen Konrad ist das auf einmal alles wieder präsent. Denn die geteilte Leidenschaft führte damals zur Etablierung eines über die Region hinaus Schlagzeilen machendes Weihnachtsturnier für einen guten Zweck, bei dem Fräulein Schneider als Organisatorin erst so richtig zur Hochform auflief. Vielleicht hatte sie tatsächlich erst diesen aufmerksamen Jungen gebraucht, der sich nicht mit Floskeln aus der Affäre zog, sondern durch Miss Marples ganz und gar nicht förmliche Gesprächsführung erst richtig neugierig wurde.

So, wie man tatsächlich auf Menschen erst aufmerksam wird, wenn sie den normierten Höflichkeits-Ton verlassen und ihre Gesprächspartner überraschen und fordern. Und in Jungen wie Konrad die Wachsamkeit wecken, so, wie das gute Lehrer/-innen schaffen: Solche Menschen möchte man nicht enttäuschen und ist auf Überraschungen gefasst.

Nur scheinbar geht es in dieser Weihnachtsgeschichte darum, wie diese beiden Fußballvernarrten durch ihr gemeinsames Hobby die Weihnachtszeit retten – oder vielleicht genauer: das Loch zwischen den Jahren, in dem so viele Menschen vor lauter Frustration und Verzweiflung und Einsamkeit versinken. Eher schaut man mit den aufmerksamen Blicken des Jungen der ganz und gar nicht zum Stillsitzen bereiten Frau zu, wie sie nach und nach den Mut findet, zu ihrer kleinen Fußballleidenschaft zu stehen und daraus einen richtigen Lebensinhalt für ihr Rentenalter zu machen.

Denn nichts stimmt gerade für den Renteneintritt so sehr wie der Spruch: „Wer rastet, der rostet.“ Nicht ganz beiläufig erzählt Moritz von anderen ausgeschiedenen Arbeitskollegen, die fast verzweifelt immer wieder auf Betriebsfeiern auftauchen und die Jüngeren mit ihren Erinnerungen an früher plagen, die kein Mensch mehr hören will.

Vielleicht ist das ein Grundproblem für etliche der heute so jammervoll klagenden Alten, die sich für Widerständler und Retter des Abendlandes halten, obwohl sie nichts mehr wirklich beitragen können für eine Gesellschaft, die ihnen nicht mehr verständlich und greifbar ist. Sie wollen noch irgendetwas tun – vergessen aber, dass ihr Altersstarrsinn wie eine Verachtung der jungen Leute wirkt, die tatsächlich den Karren ziehen und schieben müssen.

So eine jämmerliche Rolle hätte sich Fräulein Schneider strengstens verbeten, auch wenn sie zumindest ahnt, was für einen Wirbel sie auslöst, wenn sie tatsächlich erst einmal loslegt und alle mitreißt, die sie für ihr Weihnachtsturnier braucht. Und diese wiedergewonnene Energie merkt auch Konrad, als Fräulein Schneider auch ihre Wohnung entrümpelt und aufhört, ihre alten Sammelstücke zu putzen, als wäre sie nun wirklich schon fertig mit ihrem Leben. Als käme da nichts mehr.

Denn wenn einen zuvor mehr als nur der Weg zur Arbeit am Leben erhalten hat, dann sollte das auch nach dem letzten Arbeitstag eine Rolle spielen. Und in diesem Fall blühen auch noch ganz andere Leute auf, die die Rigidität der alten Dame als Herausforderung annehmen, jetzt selbst auch wieder in die Pötte zu kommen. Und selbst Konrads Eltern verändern sich – auch deshalb, weil sie ihren sonst sehr zurückhaltenden Sohn auf einmal selbstbewusster und ernsthafter erleben.

Da färbte die Direktheit von Miss Marple augenscheinlich ab. Eine wohltuende Direktheit, die auch dazu führt, dass die Dialoge, die Moritz schreibt, voller überraschender Wendungen und Kurven sind. Auch dann, wenn die alte Frau direkt auf ihr Ziel zustrebt und Konrad zwingt, zu reagieren. Ganz so, als spielten sie auch noch im Gespräch miteinander trickreichen Fußball.

Dass sich die beiden dann nach Konrads Schulabschluss aus den Augen verloren, verwundert zumindest ein wenig. Es gibt ja nun wirklich nicht so viele Menschen, die einen im Gespräch durch Frischheit und Offenheit überraschen. Aber andererseits hat ja Fräulein Schneider ihr neues Betätigungsfeld gefunden. Sie braucht keine Anbeter, das hatte sie ja schon Konrads Vater und seinen Arbeitskollegen klargemacht.

Und irgendwie war die Begegnung für Konrad auch elementar, so elementar, dass erst der Hausmeister den Mann im Hausflur aufschrecken muss: Geht es Ihnen nicht gut?

Menschen wie dieses Fräulein Schneider lösen zuweilen erstaunliche Dinge aus, auch dann, wenn sie eigentlich nur ein wirksames Mittel gegen die bedrückende Weihnachtseinsamkeit suchen. Es könnte ruhig mehr von ihnen geben, mehr Ältere, die eben nicht mit bärbeißiger Miene ständig einfordern, von den jungen Leuten respektiert und angehimmelt zu werden und ihre ein volles Leben zurückliegenden Erfahrungen als Allheilmittel für die Zukunft anpreisen. Mehr Fräulein Schneiders bitte, die wirklich das Gespräch suchen und die Kinder und Jugendlichen ernst nehmen. So ernst, dass sie ehrlich zu ihnen sind.

Das ist selten. Sehr selten. Da wundert es wirklich nicht, wenn der erwachsen gewordene Konrad allein durch die kleine Traueranzeige schon so tief berührt ist, dass ihn die komplette Geschichte noch im Hausflur überfällt.

Was einen auch daran denken lässt, dass Weihnachten all das eben nicht ist, was einem jedes Jahr anzudrehen versucht wird. Denn vor der ganzen zuckrigen Besinnlichkeit kommt das Besinnen. Wozu man meistens jemanden braucht, der wirklich zuhört und mitspielt. Aber wer hat schon Zeit zum Zuhören, wenn man durch die Rituale hetzt, um am ersten Arbeitstag nach den Festtagen das flaue Gefühl zu haben, zwei Wochen des Irrsinns erlebt zu haben und keine einzige Stunde bei sich selbst gewesen zu sein?

Rainer Moritz “Fräulein Schneider und das Weihnachtsturnier”, Edition Chrismon, Leipzig 2020, 12 Euro

„Die schönste Blume des Gartens“: Wer sagt dem Riesen, warum in seinem Garten nur noch Winter ist?

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Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 83: Zwischen Ich und Wir

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