Hรคtte Jonathan Clements dieses Buch erst 2019 geschrieben, hรคtte er einige Akzente garantiert anders gesetzt โ€“ weniger รผber die heutigen selbst ernannten โ€žKritikerโ€œ Darwins geschrieben, dafรผr mehr รผber Darwins erstaunlich aktuelle Warnungen zum Aussterben von Arten. Aber 2009 war so ein Jahr, da waren die Kreationisten und รคhnliche Meinungsmacher ziemlich laut. Und Darwins 200. Geburtstag war mal wieder von schrillen Beiklรคngen begleitet.

โ€žKreuzzug gegen Darwinโ€œ, titelte damals z. B. die Deutsche Welle. Der damalige Artikel deutete zumindest an, worum es eigentlich geht. Um die Hoheit รผber die Kรถpfe. Wer Menschen einreden kann, dass die Bibel alles erzรคhlt, was man รผber die Entstehung des Lebens wissen muss, der kann ihnen auch einreden, dass Ausbeutung gerecht ist, Kriege gottgegeben und die Klimaerwรคrmung nur eine Erfindung. Auch die heutigen Corona-Protestanten gehรถren da hinein. Wer nie gelernt hat, die Welt mit wissenschaftlich geschultem Blick zu betrachten, ist manipulierbar. Und lรคsst sich โ€“ wie wir sehen kรถnnen โ€“ auch einreden, die anderen seien es, die manipuliert wรคren.

Das ist nicht harmlos. Denn es erzรคhlt davon, warum menschliche Gesellschaften immer wieder in Katastrophen gefรผhrt werden, weil Leichtglรคubige windigen Heilsverkรผndern hinterherlaufen und nicht den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, wie Kant einst meinte, damals, als das wissenschaftliche Denken gerade begann, die Welt mit rationalen Methoden besser zu erkennen.

Jonathan Clements hat in diesem tatsรคchlich wie ein Tagebuch aufgemachten Buch Darwins Leben sehr leserfreundlich aufgearbeitet โ€“ mit vielen Illustrationen, Originalzitaten und in รผbersichtlichen kleinen Kapiteln, die Schritt fรผr Schritt sichtbar machen, wie aus dem Arztsohn, der von Schule und Studium geradezu gelangweilt war, der bekannteste und folgenreichste Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts wurde.

Und das in einer Welt, in der die anglikanische Kirche noch mit strenger Observanz versuchte, ihre Sicht auf Schรถpfung und Leben in den Universitรคten zu behaupten. Etwas, was es in dieser Form nicht einmal im damaligen PreuรŸen oder Sachsen gab. Was dann auch etliche der โ€žSkandaleโ€œ erklรคrt, die es schon vor Darwins Verรถffentlichung von โ€žOn the Origin of Speciesโ€œ im Jahr 1859 gab.

Wobei ich eigentlich das Wort Skandal an der Stelle bis heute fรผr falsch eingesetzt halte. Denn weder war Darwins Verรถffentlichung ein Skandal, noch gab es darin einen. Und dass es einige seiner Zeitgenossen โ€“ darunter auch einige bekannte Naturwissenschaftler โ€“ so heftig angriffen, hat mit starren Denkmustern zu tun. Die meisten Menschen tun sich unendlich schwer, die Welt so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist. Entsprechend hartnรคckig verteidigen sie ihre gewohnten Denkmuster, erst recht, wenn die neuen Erkenntnisse tatsรคchlich die alte Schale sprengen. Eine Schale, deren Enge man sich kaum noch vorstellen kann, wenn man sie erst einmal verlassen hat.

Darwin wusste, was er der Welt da zumutete. Aber er war nicht der Erste und er war auch nicht allein. Auch wenn er seinen Weg ziemlich allein finden musste, weil weder die Provinzschule, an die ihn sein Vater schickte, noch die Universitรคt das boten, was seinen schon frรผh sichtbaren Sammel- und Forschungsinteressen entgegenkam. Natรผrlich stellt Clements auch diesen ungewรถhnlichen Jungen vor, der selbst in seiner spรคter geschriebenen Autobiografie etwas faul wirkt, unwillig, sich wirklich anzustrengen, wie es selbst seinem Vater schien. Obwohl schon frรผh sichtbar wurde, wie interessiert er am Experimentieren und am Sammeln von Kรคfern war.

Gerade hier wird deutlich, wie mager das Bildungsangebot dieser Zeit fรผr Menschen mit echter Neugier war. Schule ist eben nicht gleich Schule. Und selten ist Schule so organisiert, dass sie die Talente der Kinder tatsรคchlich fรถrdert und bestรคrkt. So gesehen hatte der kleine Charles ein riesiges Glรผck, dass sein Vater als Arzt gut verdiente und ihm eine finanziell unabhรคngige Kindheit und Jugend ermรถglichte und auch zustimmte, als dem eigentlich Theologie studierenden Jungen eine Fahrt auf der HMS Beagle mรถglich wurde, die ihn fรผr รผber drei Jahre in die Lรคnder und Meere des Sรผdens entfรผhrte. Eine Fahrt, von der wir ja heute wissen, wie sie die Forschungen Darwins erst regelrecht begrรผndete.

Und Clements macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Darwin noch viel mehr herausfand, als was wir heute mit der โ€žnatรผrlichen Zuchtwahlโ€œ verbinden. Im Grunde erschlieรŸt er seinen Leser/-innen die Entstehung eines geradezu von naturwissenschaftlichem Denken erfรผllten Geistes, der schlicht nicht anders konnte, als die ganze lebendige Welt mit der Faszination eines Forschers zu betrachten. Eines Forschers, der immer wissen will, warum die Dinge sich so entwickelt haben und wie das funktioniert, was wir als Leben vor uns sehen โ€“ und dessen Teil wir sind.

Der aber auch ahnte, wie kontrovers sein Vorschlag aufgenommen werden wรผrde, die Fortentwicklung des Lebens mit einem natรผrlichen Selektionsprozess zu erklรคren, der den jeweils am besten an ihre natรผrliche Umgebung angepassten Arten das รœberleben sicherte โ€“ und damit letztlich den โ€žSiegโ€œ im รœberlebenskampf. Auch wenn manche Begriffe durchaus diskutabel sind und auch von Leuten missbraucht wurden, die dann aus Darwins โ€žsurvival of the fittestโ€œ eine arrogante Rassentheorie strickten. Was natรผrlich auch in die Diskussion gehรถrt und davon erzรคhlt, wie unfรคhig viele Menschen sind, in wissenschaftliche Erkenntnisse eben nicht ihre persรถnlichen Vorurteile hineinzuprojizieren.

Im Grunde sind etliche der Kapitel, die Clements aus den groรŸen Lebensabschnitten Darwins extrahiert, freundliche Heranfรผhrungen an wissenschaftliche Denkweisen. Eben dadurch, dass er anschaulich zeigt, wie Darwin das gemacht, gedacht und gesehen hat. Wissenschaftliches Denken ist geradezu nรผchtern und unterkรผhlt. Es beschรคftigt sich nur mit Fakten, mit dem, was sichtbar und nachweisbar ist. Und mit Theorien, die logisch und mรถglichst lรผckenlos erklรคren, warum Dinge so und nicht anders geschehen sind. Naturerkenntnis braucht keinen รคuรŸeren Beweger oder groรŸen Kreator.

Manchmal braucht sie so etwas wie die groรŸe Fahrt der Beagle, die Darwin mit Phรคnomenen bekannt werden lieรŸen, die einen Schlรผssel zum Verstรคndnis dessen bieten, was einige Forscher schon vor Darwin Evolution nannten. Es war keine wirkliche Neuigkeit, die Welt des Lebens als eine verรคnderliche zu begreifen, auch wenn Darwin wohl der Erste war, der auch das Verstรคndnis dafรผr wachrief, dass die Evolution nicht in ein paar tausend, sondern in Millionen und Milliarden Jahren vor sich ging.

Dass winzige Varietรคten in jeder Generation genรผgen, um den faszinierenden Prozess der Artenvielfalt in Gang zu setzen. Und dass das selbst auf kleinem geografischen Raum sogar schon in beobachtbaren Zeitabschnitten passiert wie in einem Labor, weshalb ja sein Aufenthalt auf den Galapagos-Inseln zum entscheidenden AnstoรŸ wurde, auch wenn er erst nach der Reise bei der Auswertung seiner Sammlung wirklich verstand, was er da gesammelt hatte.

Und eigentlich war er ja schon 1839 so weit, seine Erkenntnisse zu verรถffentlichen โ€“ hielt sie dann aber lieber zurรผck, hรคtte sie gar erst nach seinem Tod verรถffentlichen lassen, weil er zu Recht befรผrchtete, dass die Meute der Lernunwilligen รผber ihn herfallen wรผrde.

Was sie ja dann auch tat. Aber 1859 hatte sich auch die wissenschaftliche Welt schon spรผrbar verรคndert und die Kirche hatte enorm an Deutungsmacht verloren โ€“ was wahrscheinlich auch mit den groรŸen Emanzipations- und Revolutionsbewegungen von 1848 zu tun hat. Auch diese ja dadurch befeuert, dass immer mehr Menschen das Gottgegebene der alten Machtstrukturen infrage stellten.

Womit wir ja am Knackpunkt all dieser โ€žSkandaleโ€œ sind: Menschen in Machtstrukturen haben immer ein elementares Interesse daran, dass die anderen Menschen nicht beginnen, die Dinge infrage zu stellen, die ganzen Heiligtรผmer und Alternativlosigkeiten.

Daran hat sich bis heute nichts geรคndert, auch wenn sich die Mittel der Propaganda verรคndert haben.

Und Darwins Theorien sind nach wie vor ein Stรถrfaktor in der Welt dieser Heiligen Grale. Denn keine andere wissenschaftliche Theorie zeigt so deutlich, dass sich die Welt immerfort verรคndert, dass nichts fรผr immer so bleiben kann, wie es gerade ist.

Das Erstaunliche ist eher, dass gerade Darwins Missdeuter seine Theorien vรถllig unsinnigerweise auf die menschliche Gesellschaft angewendet haben โ€“ Stichwort: Neo-Darwinismus. Als wenn ausgerechnet Darwin erklรคren wรผrde, warum ein paar rรผcksichtslose weiรŸe Europรคer und Amerikaner die Welt ausbeuten und unterjochen mรผssen. Als wรคren sie irgendwie dazu auserwรคhlt und das Ganze nicht tatsรคchlich Teil einer viel komplexeren Evolution der menschlichen Zivilisation (รผber die sich Darwin durchaus Gedanken machte), die aber eben nicht dazu fรผhrt, dass es irgendwelche โ€žรผberlegenen Rassenโ€œ gibt, sondern dass auch das Auf und Ab der Zivilisationen mรถglicherweise mit Prozessen zu tun hat, die natรผrlichen Evolutionsprozessen zumindest verwandt sind.

Aber bei denen geht es eben nicht um das รœberleben der โ€žFittestenโ€œ, sondern โ€“ wie Richard Dawkins es so schรถn erklรคrte (der im Buch natรผrlich auch erwรคhnt wird) โ€“ um die Weitergabe des eigenen Genpools, das sogenannte โ€žegoistische Genโ€œ. Was mit menschlichem Egoismus erst einmal nichts zu tun hat, sondern mit der simplen Fรคhigkeit der Lebewesen, ihre Gene rechtzeitig weiterzugeben. Denn Arten รผberleben nur, wenn sie immer neue Nachkommen zeugen.

Und auch Saurier und Raubtiere sterben einfach aus, wenn sie das nicht mehr kรถnnen. Zum Beispiel, wenn sich ihre natรผrliche Umgebung so verรคndert, dass sie darin nicht mehr existieren kรถnnen. Dann werden aus den โ€žFittestenโ€œ auf einmal Tiere, die in der sich verรคndernden Welt nicht mehr รผberleben kรถnnen.

Es ist gut mรถglich, dass diese Angst auch viele Gegner Darwins zu seiner Lebenszeit beschรคftigte. Denn solange man glauben kann, dass die ganze Schรถpfung von Gott fรผr seine โ€žKrone der Schรถpfungโ€œ erschaffen wurde, kann man ja so tun, als wรคre man fรผr immer geborgen und auserwรคhlt. Darwins Theorien aber reiรŸen die Illusion herunter. Und in einem seiner spรคteren Bรผcher erklรคrt er es ja den Lesern auch genรผsslich, dass auch der Mensch Teil der Evolution und ihr Produkt ist. Womit alle Gesetze, die fรผr das Leben auf der Erde gelten, auch fรผr den Menschen gelten.

Da hatten zwar Darwins Zeitgenossen stรคndig den Menschenaffen als Vorfahren des Menschen als Bild vor sich und fanden das geradezu ungehรถrig und lรคcherlich und anstรถรŸig. Aber das gilt eben auch fรผr die Zukunft des Menschen, der ja nun mit dem Coronavirus einmal mehr gezeigt bekam, dass er nach wie vor Teil der Natur ist und dem nicht entfliehen kann. Auch dann nicht, wenn er sich โ€“ wie amerikanische Fundamentalisten โ€“ einfach doof stellt (was wahrscheinlich eher zum Aussterben der Spezies Mensch betrรคgt als zu ihrem รœberleben).

Darwins Angebot, die Evolution zu begreifen, trifft also vor allem die menschliche Eitelkeit und den irren รœberlegenheitswahn, der oft genug in radikale Dummheit mรผndet und katastrophale Lรถsungen fรผr eigentlich simple Probleme.

Gerade weil Clements die damalige und heutige โ€žKritikโ€œ an Darwins Arbeiten so stark thematisiert, wird sichtbar, warum die Menschheit trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse รผber das Funktionieren der Welt heute derart in multiplen Problemen steckt, die alle miteinander zu tun haben. Und alle haben sie auch damit zu tun, dass die meisten Menschen (und gerade die in verantwortlichen politischen und wirtschaftlichen Positionen) nie wirklich gelernt haben, wissenschaftlich zu denken.

Deswegen bieten sie fรผr elementare Probleme auch selten bis nie logische und wissenschaftlich fundierte Lรถsungen an, lassen sich lieber von Leuten treiben, die ihre Meinung fรผr wichtiger halten als die wissenschaftlichen Erkenntnisse. Aber Natur kรผmmert sich nicht um Meinungen. Warum sollte sie? Ihre Prozesse laufen so zwingend und selbstverstรคndlich ab, als gรคbe es keine Menschen.

Und dass es welche gibt, ist auch nur Ergebnis eines evolutionรคren Prozesses, der ein paar Primaten vor drei Millionen Jahren ein kleines bisschen mehr an Gehirnkomplexitรคt geschenkt hat, mit der sich wunderbare Sachen machen lassen, mit der sich gar die Welt in all ihren GesetzmรครŸigkeiten erkennen lรคsst, wenn man sie klug und unvoreingenommen benutzt.

Das geht jetzt schon ein Stรผck weit รผber dieses Buch hinaus, das eigentlich eher so eine Art Bilderbuch zu Darwins Leben ist. Nicht zu verwechseln mit den drei Tagebรผchern, die er tatsรคchlich gefรผhrt hat. Aber fรผr jeden, fรผr den Darwins Bรผcher selbst noch ein bisschen einschรผchternd wirken (obwohl er einen sehr lebendigen und lesbaren Stil pflegte), ist das Buch ein sehr lesefreundlicher und farbenreicher Einstieg in das Leben des Mannes, der uns tatsรคchlich den Schlรผssel in die Hand gegeben hat, die Faszination der Entstehung des Lebens zu begreifen. Wer das verinnerlicht hat, der braucht keine Schรถpfungsmythen mehr.

Freilich schaut der dann auch mit wachsendem Entsetzen auf das, was die Ignoranten unter uns Menschen mit der Welt inzwischen angerichtet haben. Auf all die inzwischen tatsรคchlich ausgerotteten Arten und zerstรถrten Landschaften. Wozu dann natรผrlich das Zitat Darwins passt, das Clements ganz bewusst ans Ende des Buches gesetzt hat: โ€žUnwissenheit erzeugt viel hรคufiger Sicherheit, als es Wissen tut. Es sind immer diejenigen, welche wenig wissen, und nicht die, welche viel wissen, welche positiv behaupten, dass dieses oder jenes Problem nie von der Wissenschaft gelรถst werde.โ€œ

Zu finden in โ€žDie Abstammung des Menschenโ€œ von 1871.

Jonathan Clements Darwins Notizbuch, wbg Theiss, Darmstadt 2020, 28 Euro.

30 Jahre deutsch-deutsche Parallelwelt: Hรถchste Zeit, die betonierten Vorurteile zu demontieren

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