Am heutigen Sonntag, 11. Oktober, startet in der ARD die dritte Staffel von โ€žBabylon Berlinโ€œ. Die erste Staffel wurde 2018 zu einem Erfolg, den selbst die Macher so nicht erwartet hatten. Denn sie sorgte nicht nur in Deutschland fรผr Furore. Sie wurde in die halbe Welt verkauft. Und das hat Grรผnde, die nicht nur mit der Teamarbeit der drei Regisseure zu tun haben, sondern auch mit der Vorlage des Krimiautors Volker Kutscher. Dieses mit eindrucksvollen Fotos vollgepackte Buch erzรคhlt ein wenig davon.

Der Verlag nennt es selbst โ€žopulentโ€œ. Und hat natรผrlich recht damit. Das Wort trifft auf so vieles zu, was diese Serie leistet. Und was auch die seit 2008 erscheinenden Kriminalromane des Kรถlner Autors Volker Kutscher um den Kriminalkomisar Gereon Rath leisten. Sie gehรถren in das seit einigen Jahren geradezu explodierte Genre des historischen Kriminalromans, der eigentlich wie kein anderes Genre die Herzen der Leser/-innen erobert hat.

Schon vorher war der Krimi eine Sparte, in der Autor/-innen unterschiedlichster Herkunft zeigten, wie gut sich diese Art der Erzรคhlung eignet, nicht nur Spannung zu erzeugen und die Leser/-innen in mitfieberndes Entsetzen bis zum Finale zu versetzen, sondern auch zur klugen und genauen Gesellschaftsanalyse.

Denn wรคhrend eine ziemlich traumnasige Mehrheit immerfort so tut, als wรคren Ordnung und Sicherheit Probleme, die man mit noch mehr Kontrolle und Polizei in den Griff bekommen kรถnnte (wohinter wohl das Ideal einer klinisch reinen Gesellschaft vor sich hin wabert), wissen Krimi-Leser/-innen, dass dem so nicht ist, nie war und nie sein wird.

Und zwar nicht nur, weil Kriminalitรคt etwas ist, in das die schwachen Charaktere einfach so hineinstรผrzen, sondern weil das Kriminelle Teil der menschlichen Persรถnlichkeit ist. Die meisten zรคhmen es nur โ€“ oft mit jeder Menge Groll und Verbitterung, weil sie sich fรผrs Schafsein auch noch bestraft und genรถtigt fรผhlen.

Gut mรถglich, dass sie am heutigen Abend auch den Fernseher anschalten und fasziniert sind und trotzdem nichts begreifen. Obwohl es natรผrlich Kutschers Romane sehr deutlich zeigen und die Zeit, die er fรผr die Ankunft seines Gereon Rath in Berlin gewรคhlt hat, symptomatisch ist fรผr diese unlรถsbare Verstrickung des Kriminellen, des Wirtschaftlichen, des Politischen und der seelischen Abgrรผnde ihrer Protagonisten.

Mit Staffel 3 von โ€žBabylon Berlinโ€œ landen wir wieder im Jahr 1929, dem โ€žSchicksalsjahrโ€œ der Weimarer Republik, dem Jahr, als mit Gustav Stresemann einer der letzten Hoffnungstrรคger dieser Republik starb, als die Goldenen Zwanziger (die drei Jahre, in denen endlich die schlimmsten Folgen des Krieges und der Inflation รผberstanden schienen) auf ihrem Hรถhepunkt waren, aber auch dem Jahr, in dem der Bรถrsencrash in New York die Weltwirtschaftskrise auslรถste und damit auch Deutschland wieder in eine tiefe Depression stรผrzte, die am Ende den Aufstieg der Nazis ermรถglichte.

Das alles verdichtet sich in Staffel 3, in der die drei Regisseure Henk Handloegten, Achim von Borries und Tom Tykwer noch ein Stรผck weiter die Erzรคhlvorgabe von Volker Kutscher verlassen. Was er im Interview nicht so schlimm findet. Denn natรผrlich unterliegt ein Blockbuster ganz anderen Regeln als ein Buch, das man abends in aller Ruhe liest und bei dem die Bilder im Kopf entstehen. Man erlebt Zeit auch anders.

Und trotzdem waren es natรผrlich Kutschers Vorlagen, die die drei Regisseure erst dazu animierten, so ein Projekt anzugehen โ€“ fรผr Deutschland ein echtes Novum. Und trotzdem im Vergleich mit berรผhmten Netflix-Serien fast eine Low-Budget-Produktion. Was freilich nur mรถglich ist, weil die drei auf ein professionelles Filmgelรคnde zugreifen konnten, dessen Geschichte in diesem Buch auch erzรคhlt wird. Dazu kommen noch etliche stimmungsvolle Schauplรคtze in Berlin, die tatsรคchlich bis heute das architektonische Flair der Kaiserzeit bewahrt haben.

Babylon Berlin โ€“ Staffel 3 โ€“ Official Trailer

Die Serie macht ja auch sichtbar, wie sehr sich im diesem Jahr 1929 die Konflikte ballten, das alte, fast Reaktionรคre mit seinen รผberzogenen Mรคnnlichkeitsbildern genauso weiterwirkte (und bald schreckliche Folgen haben wรผrde), wie das Moderne. Worรผber die Regisseure besonders staunten, die sich ganz รคhnlich wie Kutscher in die Filme, die Literatur und die Medien dieser Zeit einarbeiteten und verblรผfft waren, wie modern diese Medienlandschaft war.

Im Film inszeniert mit der modernen Tageszeitung โ€žTempoโ€œ, um die herum der berรผhmte Spionage-Skandal um die Aufrรผstung des Heeres erzรคhlt wird, der sich damals tatsรคchlich um Verรถffentlichungen der โ€žWeltbรผhneโ€œ entfaltete, was dann zum โ€žWeltbรผhne-Prozessโ€œ fรผhrte, in dem die Pressefreiheit vor Gericht stand โ€“ und unterlag.

Es ist kein Zufall, dass viele Erzรคhlstrรคnge in der Serie an unsere Gegenwart erinnern. Womit wir auch wieder bei Volker Kutscher wรคren, dem es besonders gut gelungen ist, mit seinen Kriminalromanen nicht nur die Atmosphรคre der spรคten Weimarer Republik in Berlin (und auch den Glanz und die Zerrissenheit der Hauptstadt) zu zeichnen. Er zeigte mit seinen Gereon-Rath-Romanen eben auch, wie nah uns diese am Ende von Stiefeltrรคgern zertrampelte Republik noch heute ist und wie sehr die damaligen Themen auch unsere Zeit zerreiรŸen. Und das nicht nur in Deutschland.

Hรคtten Handloegten, von Borries und Tykwer wieder nur eine der รผblichen deutschen Geschichtsverfilmungen geliefert, es hรคtte auรŸerhalb der Bundesrepublik niemanden interessiert. Doch sie haben die durchaus vorhandenen Qualitรคten dieser Geschichtsinszenierungen auf geniale Art verknรผpft mit modernen filmischen Erzรคhlformen bis hin zum film noir und dem klassischen amerikanischen Gangsterfilm und damit natรผrlich auch eine mitreiรŸende Erzรคhlform gefunden, die auf einmal sichtbar macht, dass dieses kleine dramatische Stรผck deutscher Geschichte auch Dramen erzรคhlt, die so und รคhnlich den Zuschauern weltweit vertraut sind.

Gereon Rath ist ja schon bei Kutscher nicht der allwissende Kommissar, sondern selbst ein Getriebener. So wie andere Figuren auch. Den einen treiben die Leidenschaften regelrecht in den Wahnsinn, andere werden vom Bรถrsenhype zu blinden Spielertypen, die alles auf eine Karte setzen. Wir erleben den eiskalt auf seinen Gewinn fixierten Unternehmer, der auch mit den aufkommenden Nazis paktiert, die finsteren Geschรถpfe der Unterwelt, die nun auch im Film-Business mitmischen, oder den erzkonservativen Offizier, der preuรŸische Strenge mit mythischem GrรถรŸenwahn verbindet.

Deutlicher kann man die Tatsache, dass Menschen immer auch eine Rolle zu spielen versuchen, nicht zeigen. Und viele spielen die Rolle unbewusst, merken gar nicht, wie sie Mustern folgen, die gar nicht die ihren sind. Zum Ende der Weimarer Republik gehรถrt nun einmal auch die Verfรผhrbarkeit des Menschen. Und der ist oft mit wenig verfรผhrbar, gerade dann, wenn er das Gefรผhl hat, dass ihm oder ihr keine andere Wahl bleibt.

Es ist wirklich kein Wunder, dass die Serie weltweit funktioniert. Sie macht auch denen, die das Phรคnomen in historischen Kriminalromanen noch nicht gefunden haben, sichtbar, dass Geschichte nicht einfach vorbei ist. Und dass uns die Akteure der Geschichte โ€“ auch in ihrer Verbohrtheit, ihren Lebenslรผgen und ihrem Opportunismus โ€“ so fremd nicht sind.

Der Mensch รคndert sich nicht so schnell. Und wenig genรผgt, ihn immer wieder genauso irrational handeln zu lassen, wie das ab 1929 geschah โ€“ bis in die hohen politischen Intrigantenkreise hinein, wo sich ja in der Regel die Zockertypen sammeln, die glauben, sie wรผrden die Dinge steuern kรถnnen.

Dieser faszinierende Foto-Band hรคlt sich natรผrlich mit Analysen zurรผck. Er zeigt vielmehr, wie die dritte Staffel entstand โ€“ und das in groรŸen Fotostrecken von Joachim Gern und Frรฉdรฉric Batier, die die Filmarbeiten 2019 begleitet haben und dabei auch die Menschen hinter der Kamera ins Bild gerรผckt haben, sodass erst recht die Faszination dieses Films sichtbar wird.

In Portrรคts und kleinen Interviews kommen die Regisseure, Szenen- und Kostรผmbildner, Storyboard-Zeichner und Requistitenbeschaffer zu Wort, sodass der Leser auch einen Eindruck davon bekommt, wie viel Arbeit und Detailfreude hinter dieser stimmigen Inszenierung des Jahres 1929 steckt.

Die einzelnen Folgen der dritten Staffel werden in kurzen Szenen ebenso szenisch erzรคhlt. Und in drei essayistischen Beitrรคgen wird auch erzรคhlt, wie es zum starken Bild Babylon kam, was es mit der Rezeption der alten Stadt im Zweistromland auf sich hat, wie stark die Rezeption des groรŸen deutschen Films der 1920er Jahre in โ€žBabylon Berlinโ€œ eingeflossen ist und welche historische Sprengkraft der Bรถrsencrash von 1929 entfaltete.

In einem kleinen Lexikon werden dann auch noch wichtige Stichworte zum Umfeld des Films erlรคutert. Man bekommt also eine Menge zusรคtzliche Informationen geboten โ€“ bis hin zum Berliner Kriminalpolizeirat Ernst Gennat, dessen moderne Ermittlungsprinzipien ja schon Volker Kutscher faszinierten.

Aber so wie Kutscher machen Handloegten, Tykwer und von Borries ja auch Berlin selbst nicht nur zum Schauplatz, sondern eigentlich zur furiosen Heldin โ€“ eine Stadt, die damals wie keine andere in Deutschland fรผr die Moderne stand, fรผr Weltoffenheit und das berauschende Tempo einer anderen Zeit, damit auch fรผr einen vรถllig anderen Weg, der Deutschland mรถglich gewesen wรคre, wรคre es gelungen, den irrationalen Rรผckfall in Mythos und Machtbesessenheit zu verhindern.

Im Grunde gibt โ€žBabylon Berlinโ€œ erst eine erste Vorstellung davon, wie spannend und brisant deutsche Geschichte eigentlich ist โ€“ und zwar gerade auรŸerhalb der kindischen Selbstinszenierungen des Nazi-Reichs, das die gefรผhllosen alten Mรคnner von heute auf einmal wieder so begehrenswert finden.

Und gerade dieser Ausschnitt wirkt so modern, weil jedes einzelne Land weltweit immer wieder vor genau diesen Weichenstellungen steht: Lรคsst man sich von der martialischen Wucht der Erzkonservativen einschรผchtern und wieder in irre Verhรคltnisse fรผhren, in denen Befehl und Bevormundung jede menschliche Regung ersticken? Oder schafft man es, die ganze Gesellschaft mitzunehmen in ein wirklich modernes und offenes Land?

Da traf โ€žBabylon Berlinโ€œ auch einen Nerv in Deutschland. Keine Frage. Und nicht nur die Schauspieler/-innen in dieser Staffel dรผrften gestaunt haben, wie vertraut einem diese spรคte Weimarer Republik ist, wie modern sie wirkt โ€“ und wie altzopfig und provinziell so vieles, was uns heute wieder vorgesetzt wird als Politik und Nicht-Vision.

Denn genau an dem Punkt besteht ja die grรถรŸte ร„hnlichkeit: Dass die kleinen Karrieristen, die sich so gern auf die groรŸen Sessel drรคngeln, wieder mal keinen blassen Schimmer davon haben, wie die Zukunft aussehen soll. Ergebnis ist natรผrlich ein zunehmendes Gefรผhl von lauter unabwendbaren Apokalypsen. Vom โ€žapokalyptischen Gefรผhlโ€œ schreibt auch Alexandra Vasa.

Ein Gefรผhl, das bekanntlich all jene nur zu gern schรผren, die aus ihren alten Korsetts und Denkmustern nicht herauskommen wollen.

Und gerade weil โ€žBabylon Berlinโ€œ damit weit รผber die primitiven Erzรคhlmuster der Serien aus Amerika hinausgeht, hat die Serie weltweit fรผr Aufmerksamkeit gesorgt. Geschichte ist nun einmal viel komplexer und aufregender als diese ewigen Gut-gegen-Bรถse-Muster, bei denen am Ende immer mit jeder Menge Gewalt das Gute das Bรถse besiegen muss.

In der Realitรคt hat das noch nie funktioniert. Die ist immer viel undurchschaubarer, brรผchiger und uneindeutiger als diese Mรคrchen fรผrs Kinovolk. So uneindeutig wie die Helden, die in โ€žBabylon Berlinโ€œ von begnadeten und beeindruckenden Schauspieler/-innen dargestellt werden.

All das zeigen die vielen Fotos in diesem Band auf einfรผhlsame und dennoch mitreiรŸende Weise. Sie zeigen aber auch, was fรผr starke Bilder die drei Regisseure gefunden haben, um Kutschers Vorlage mit ihren Mitteln weiterzuerzรคhlen und bildmรคchtig zu machen. Man sieht regelrecht vor sich, was die drei in Kutschers Krimis gesehen haben. Unsere Geschichte steckt voller atemberaubender Ereignisse, die nur deshalb immer wieder โ€žvergessenโ€œ werden, weil immer wieder die falschen Helden inszeniert werden.

Geschichte aber findet stets auf mehreren Bรผhnen gleichzeitig statt โ€“ mit kleinen und groรŸen, irren und zerbrochenen Helden. Und man merkt auch, dass Chandlers Philip Marlow fรผr diesen Gereon Rath ein bisschen Pate stand โ€“ ein Bursche, der im Grunde zeitlich parallel in der genauso zerrissenen und von Lebenslรผgen erfรผllten amerikanischen Bรผrgerwelt seiner Arbeit nachging, zutiefst ernรผchtert und desillusioniert.

Auch so funktioniert โ€žBabylon Berlinโ€œ: Als ein Prozess zunehmender Ernรผchterung รผber die falsche Anstรคndigkeit und Selbstglorifizierung von bรผrgerlichen Saubermรคnnern, die nie etwas anderes im Sinn haben, als ihren eigenen, schรคbigen Vorteil. Und wenn dann darรผber die Welt kaputtgeht. Das ist diesen ach so Braven schon immer egal gewesen.

Aber blรคttern Sie nur. Lassen Sie sich mitreiรŸen. Denn in gewisser Weise ist dieser Bildband wie die Filmserie selbst. Und danach schnappt man sich die Romane von Volker Kutscher und Alfred Dรถblin. Und wird sich ein weiteres Mal wundern, wie frisch dieses Berlin von damals heute noch wirkt.

Michael Tรถteberg (Hrsg.) โ€žBabylon Berlinโ€œ, Zweitausendeins, Leipzig 2020, 39,90 Euro.

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