Dichter/-innen schlafen nicht. Dichter machen auch keinen Urlaub und gehen auch nicht ins Homeoffice. Denn der Ort, an dem sie sind, ist kein Bรผro. Sondern immer die Welt. Die Innen- und die Auรenwelt. Sie kennen den Spagat und die Verwirrung, die entsteht, wenn Innen und Auรen nicht zusammenpassen. Wenn die Welt verrรผckt wird, bekommen sie es als allererste mit. Und verzweifeln dran. Wie Friedrich Hรถlderlin, dem dieses Bรผchlein tatsรคchlich gewidmet ist.
Am 20. Mรคrz wรคre er 250 Jahre alt geworden. Ein Groรteil der Party fiel wegen Corona ins Wasser. Aber die Gesellschaft fรผr Zeitgenรถssische Lyrik wollte sowieso anders feiern โ nicht mit Feuerwerk รผberm Neckar. Sondern mit einer Einladung an all die stillen Dichterinnen und Dichter im Land, ihre Texte einmal ganz diesem Verstummten zu widmen, der heute als Dichter klassischer ist als die Klassiker, beliebter sowieso. Bei ihm klingt beides so intensiv zusammen, wie selten sonst bei รคhnlich Begabten โ Inhalt und Ton. Er wusste, wie man das innere Klingen hรถrt. Und wurde verrรผckt am Lรคrmen und Drucksen in Jena.
Andere spรผren das genauso und nehmen, wenn ihnen die biedere Eseligkeit des bรผrgerlichen Anstรคndigseins zu viel wird, trotzdem den gepflasterten Weg โ und opfern die Unbarmherzigkeit dem Gefรผhl eines lauwarmen Eingefรผgtsein. Wer ist da der Verrรผckte? Wer ist da der Narr?
Und warum lesen รผberhaupt noch Leute Gedichte? Oder lassen sich welche vorlesen und nicken und wรคrmen sich daran wie an einem Feuer im Herbst? Im Heft findet sich ein kleines Interview mit Lutz Rathenow, der sich darรผber auch Gedanken macht. Schon damals gemacht hat, als eine Obrigkeit Dichter und Dichterkreise fรผr hochgefรคhrlich hielt. Wahrscheinlich mit Recht. Denn gute Gedichte bringen Menschen auf Gedanken. Denn sie zeigen ihnen das, wonach sie sich immer gesehnt haben โ aber nie im Laden bekommen: das ganze Da-Sein in der Welt.
Weshalb man in diesem Heft tatsรคchlich kaum ein Gedicht รผber Narrheit findet. Keine der Autorinnen, keiner der Autoren, die ihre Texte beigesteuert haben, kam nur auf den Gedanken, diesen Hรถlderlin als nรคrrisch zu denken oder gar als verrรผckt. Eher รผberwiegt das Staunen, das Bewundern fรผr den, der zur Hรคlfte seines Lebens radikal zum Aussteiger wurde, nichts mehr zu tun haben wollte mit all dem Betteln und Laufen um รmter, Pรถstchen und Anerkennung.
Bei keinem deutschen Dichter ist die stille, immens freundliche Verachtung fรผr all die biederen Schleimer und Kriecher so spรผrbar wie bei diesem Burschen in seinem Turm. Keiner hat sich so vehement und so frรผh gegen das aufkommende Nรผtzlichkeitsdenken und die komplette Einvernahme als Dienstesel fรผr die aufschwemmende Profitgesellschaft gewehrt.
Also รผberwiegt in diesen Texten die Bewunderung, das Gefรผhl der Nรคhe, das tiefe Verstรคndnis fรผr den grรถรtmรถglichen Akt der Rebellion: einfach nicht (mehr) mitzumachen. Und natรผrlich gehรถren dazu auch all die vielen Ermunterungen, so wie Hรถlderlin รผber das Vergรคngliche und das Unvergรคngliche nach-zu-denken.
Den Dingen nach zu denken, dem eigenen Sein auf die Spur zu kommen. Und damit natรผrlich der riesigen Spanne zwischen Alltag und Berรผhrtsein. Immer wieder der Bezug auf Hรถlderlins berรผhmten Roman โHyperionโ, dessen Name heute sogar ein Hotel in Leipzig trรคgt, das mit Hyperion und Hรถlderlin รผberhaupt nichts zu tun hat.
รbernachtet hรคtte dort einer wie Hรถlderlin sowieso nicht. Eher bei Freunden, die ihm ein Bett angeboten hรคtten bei sich daheim, fรผrsorglich. Weil sie seine Verletzlichkeit kennen.
Dichter sind verletzlich. Auch heute noch. Was ein wenig verwundert, weil sich auf einmal Texte in das โPoesiealbum neuโ schieben, in denen auch jรผngere Autoren darรผber schreiben, dass ihr Schreiben auf einmal an ein Ende kommen kann. So wie Dietrich Machmer, Jahrgang 1966: โIch kann nicht mehr / Abstand halten, im Traum / verschwinden die Schlupf-/ lรถcher, an denen ich wachen / und Freiheit entdecken kann, / bis die Lider schwer und Gedanken / leichter zu fassen sind.โ
So kann es auch Hรถlderlin gegangen sein, auch wenn er den Lรคrm unserer Zeit noch nicht kannte. Heute wรคre er unter Garantie verrรผckt geworden. Weil es in seinen Ohren geschrien hรคtte, all dieses Gelรคrme um nichts, all diese Eitelkeiten von Menschen, mit denen man sich wie ein Mensch nicht mehr unterhalten kann, denn sie hรถren nicht zu. Und antworten nicht. Selten waren wir so verstummt, so taub, so mundtot gemacht.
Nein, โDiotimas Schattenrissโ hรคngt nicht an der Wand im โHyperionโ. Da irrt Wolfgang Franke in seinem Gedicht โHyperion โ รbernachtung mit Frรผhstรผckโ. Die Hotelstylisten haben das Buch nie gelesen und kรถnnten mit Hรถlderlins Gedichten nicht einmal etwas anfangen. Und wer Diotima war, wรผssten sie eh nicht. In ihrem Haus รผbernachten nicht die Dichter, sondern die Geschรคftsreisenden. Die haben selten einen Gedichtband im Koffer.
Anne Rauen (Jahrgang 1952) hat schon recht, wenn sie รผber Dichter schreibt: โSie schreiben vom Rauch dem / Boten aus hohen Schornsteinen / Nicht von Heimat / Von der Guillotine / Nicht von Revolution / (โฆ) Frei und fremd sind sie dem / Zeitgeist Stรถrenfriede / Narren die Widerstand / Wagen eine Gefahr / Fรผr die Mรคchtigen โฆโ
Das wussten die Mรคchtigen ostseits der Mauer einst sehr genau. Deswegen wurden die Gedichtbรคnde dort auch in tausender Stรผckzahlen gedruckt und verkauft. Weil Dichter โ wenn sie gut sind โ immer nach dem Kern des Menschlichen fragen. Rauen kommt zwar aus Passau. Aber auch bei ihr merkt man, wie lebendig das alte Hรถlderlinsche Nicht-mit-mir auch heute noch ist bei all denen, die sich gedrรคngt und getrieben fรผhlen, sich mit Versen selbst auf die Spur zu kommen, das sagbar zu machen, was uns lebendig sein lรคsst in unserem Leben. Das zwingt zum Hinschauen, zum Einfรผhlen in Fluss, Himmel und Landschaft, ins eigene Betroffen- und Erschrockensein.
Zu Recht fragt Michael Spyra (Jahrgang 1983), woher man dafรผr noch die Krรคfte schรถpfen kann, abends, nach einem langen Tag in schweren Stiefeln? Sie wissen es alle noch, dass dafรผr nicht Raum, nicht Kraft, nicht Zeit bleibt, wenn man sich dem รblichen und Erwarteten anheim gibt, der mittlerweile wilden Hatz nach Geld und Posten und Dingen, die kein Mensch wirklich braucht, die sich auftรผrmen, die Aufmerksamkeit fressen und uns quรคlen mit ihrer bombastischen รberflรผssigkeit.
Hรถlderlin, so deutet es Wolfgang Braune-Steininger im Vorwort an, spรผrte diese Ent-Fremdung frรผh schon, als die Industrialisierung in Deutschland gerade begann, das Entkernen des menschlichen Da-Seins. Denn wer ist noch da, wenn er immerfort fort ist in medialen Fluten und รberwรคltigungen? Wann kann so einer noch stundenlang mรผรig aus dem Turmfenster schauen auf den Fluss und die Weiden und sein eigenes Flieรen durch diese Welt?
Die heutigen Mรคchtigen sind ja nicht mehr die einst Mรคchtigen. Vielleicht haben sie sogar viel mehr Macht, weil sie den Menschen bei seinen Eitelkeiten und Selbsttรคuschungen packen, da, wo die meisten zu mรผde, zu รคngstlich sind zu sagen โNicht mit mir.โ
Deutlich wird das Gefรผhl bei Ariane Hassan Pour-Razavi (Jahrgang 1974): โVervollpfostung. Fast voll รผberall. / Vom Land der Dichter und Denker / hin / zum Land der Vollen und Pfosten. (โฆ) Und ich sing erst wieder, / wenn / ich nicht mehr verstimmt bin.โ
So gegenwรคrtig ist dieser Hรถlderlin. So hochaktuell. Nein, das ist nicht Utopie oder, wie Manfred Klenk schreibt, โDichters Aufbruch / Ins Ungewisse kommender Zeit โฆโ Da hat ein Philologe etwas hineingelesen in Hรถlderlins Texte. Dem ging es nie um das โUngewisse kommender Zeitโ. Dem ging es um die eigene, ganz konkrete Zeit im Hier und Jetzt. Das Grรถรere, so hรคufig hymnisch besungen, ist lรคngst da. War immer da. Wer sein Leben nicht als Hymne singen kann, der lebt nicht. Der ist tot.
Oder der irre Fahnentrรคger einer kommenden Zeit, auf die sich der Bursche im Turm ganz bestimmt nicht gefreut hat. Der ahnte schon, dass das nicht besser werden wรผrde und dass es ganz genau so werden wรผrde, wie es Rรผdiger Stรผwe (Jahrgang 1939) in seinem Gedicht skizziert: โMit schweren Traktoren hรคnget / Und voll mit Umweltgiften / Das Land in den See, / Ihr lieben Broker, / Und trunken von Gier / Steckt ihr die Finger / Ins heiligflรผchtige Kapital โฆโ
Es lodert eine erstaunliche Wut in etlichen dieser Gedichte, zwischen die auch ein Hรถlderlin-Text gepasst haben wรผrde, wie er in einem unvergleichlichen Ton den Lebenden in den Kopf hรคmmert, dass man nur die Augen aufmachen und hinausschauen muss aus dem Fenster: Das da, das was da lebt und flieรt und leuchtet, das ist das Heilige. Und ihr, ihr Nimmersatte und Vielgefrรครigen? Ihr verschlingt es, zertrampelt es, entheiligt es und behandelt es wie Abfall, baut Mauern und Zรคune darum.
โWegsperren, Mauern um sie auftรผrmen / Schneidenden Draht zum Verhau schichten: / Alles wurde versucht, zu allen Zeiten neuโ, schreibt Patricia Falkenburg, die 1961 geboren wurde โ aber nicht im Osten Deutschlands. Sie weiร es, weil sie die Augen aufsperrt, wie all die Besessenen und Besitzenden Mauern und Zรคune und Drahtverhaue bauen und damit die Welt zerstรผckeln und die Freiheit beschneiden. Sie sind keine Spur anders als andere Mauerbauer.
Aber das sieht man nur, wenn man sich herauszunehmen wagt aus dem Getรผmmel der โsterblichen Gedankenโ, wie Hรถldelin in โAndenkenโ schrieb. Die ganze Passage: โNicht ist es gut, / Seellos von sterblichen / Gedanken zu sein. Doch gut / Ist ein Gesprรคch und zu sagen / Des Herzens Meinung โฆโ
รndert das etwas an unserer Zeit, wenn die Dichter wieder erstaunlich wรผtend werden? Vielleicht. Wer sonst sollte uns so genau sagen, wie sehr wir uns selbst und damit die Welt verloren haben. Von kommenden Zeiten mรผssen wir da gar nicht reden. Das Malheur ist lรคngst angerichtet.
Und noch โ so sieht es aus โ lesen erstaunlich viele Menschen Gedichte. Und fรผhlen sich diesem Hรถlderlin aufs Allernรคchste nah und verwandt.
Poesiealbum neu โPoesie & Narrheitโ, edition kunst & dichtung, Leipzig 2020, 7,50 Euro
Tipp: Am 26. September gibt es dazu um 15 Uhr im Schillerhausgarten eine Lesung mit Musik zu Ehren von Friedrich Hรถlderlin. Und hier kann man Tickets gewinnen:
Ticketverlosung: Hรคlfte des Lebens. Poesie & Narrheit โ Lesung und Musik zu Ehren von Friedrich Hรถlderlin
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