Der Torgauer Geschichtsverein hat sich ein richtig dickes Buch gegönnt über Johann Walter, den „Urkantor“, den Mann, der die evangelische Kirchenmusik geradezu erfunden hat, und der vor 450 Jahren in Torgau starb. Die Historikerin Christa Maria Richter hat die Quellen durchforstet, um das Leben und Schaffen Walters zu rekonstruieren. Ein Leben, das so geradlinig nicht verlief, wie es die Formel vom „Urkantor“ suggeriert.
Eher ist es das Leben eines Mannes, der genauso wie sein Vorbild Martin Luther „nicht anders konnte“ und dafür auch in Kauf nahm, Studium und Lebensunterhalt zu verlieren. Und dabei räumt Richter auch mit zahlreichen Legenden auf, denn Walter ging es so wie den meisten Berühmtheiten in der sächsischen Geschichte: Irgendwer hat irgendwann einfach irgendwas erzählt, von dem er glaubte, es könnte stimmen. Und dann haben Generationen von Faulpelzen einfach abgeschrieben.
Auch im Johann-Walter-Artikel auf Wikipedia könnte schon der erste Satz so vielleicht nicht zutreffen: „Johann Walter wurde 1496 als Sohn seines gleichnamigen Vaters im ernestinischen Kahla geboren.“
Geboren wurde er wohl als Sohn eines Kahlaer Bürgers namens Blanckenmüller. Das rekonstruiert Richter gleich im ersten Kapitel. Augenscheinlich wurde er als Schuljunge von einem Kahlaer Bürger namens Walter adopiert. In späteren Dokumenten ist noch von seinen Blanckenmüller-Brüdern die Rede. Dass er adoptiert wurde, hat möglicherweise mit seinen musikalischen Talenten zu tun, die auch dem in Kahla wohnhaften kursächsischen Hofkapellmeister Conrad Rupsch auffielen, der später einer seiner wichtigsten Unterstützer wurde.
Ab 1517 studierte er an der Universität Leipzig, wo er wohl die Grundlagen der Musiktheorie kennenlernte und wahrscheinlich mit den Ideen Luthers bekannt wurde, sodass Richter es durchaus für möglich hält, dass er auch die Disputation zwischen Luther und Eck miterlebte, ein so einschneidendes Ereignis, dass er sein Studium in Leipzig ohne Abschluss verließ und möglicherweise nach Wittenberg ging.
Wovon er dann die nächsten Jahre lebte, wird nicht so recht klar, denn erst 1523 bekam er seine erste Anstellung als Bassist in der sächsischen Hofkapelle in Torgau. Richter vermutet, dass seine Beziehungen zu Rupsch hier eine Rolle spielten. Vieles kann nur aus den vorhandenen Quellen geschlussfolgert werden.
Eine Autobiografie hat er nie geschrieben. Oft sind es seine Briefwechsel mit bekannten Vertretern der Reformation, die über seine Beziehungen, Freundschaften und Denkweisen Auskunft geben. Sie zeigen einen Mann, der zutiefst überzeugt war, dass Luthers Lehre tatsächlich die einzig gültige christliche Lehre sein müsse.
Und mit Luther verband ihn natürlich auch die gemeinsame Arbeit an der Gestaltung der evangelischen Kirchenmusik, die 1526 als „Deutsche Messe“ erschien. Berühmt geworden ist Walter aber durch sein „Geistliches Gesangbüchlein“, das 1524 erstmals erschien und in weiteren Auflagen immer mehr erweitert wurde.
Christ ist erstanden, by Johann Walther (1496–1570)
Den Titel des „Urkantors“ bekam er quasi verliehen, weil er 1526 auch in Eigeninitiative die erste Stadtkantorei in Torgau gründete. Vorher gab es quasi nur die kursächsische Hofkantorei, die auf höchstem Niveau auch die Ansprüche Friedrich des Weisen an eine präsentable Hofmusik erfüllte. Dessen Bruder und Nachfolger Johann der Beständige war in Sangesfragen freilich nicht so beständig. Er löste die Hofkantorei auf, unterstützte dann aber Johann Walter ab 1527, der ab 1530 dann tatsächlich als Schulkantor in Torgau wirkte.
In Luther und Melanchthon hatte Walter natürlich seine starken Fürsprecher, denn mit Walter sahen sie ihre Vorstellungen, dass Musik eine zentrale Rolle im evangelischen Gottesdienst erfüllen müsste, erfüllt. Luther selbst, so Richter, hätte das nicht gekonnt, dazu brauchte es schon einen wie Walter, der augenscheinlich mit nie nachlassender Energie darum rang, in Torgau eine anspruchsvolle Kantorei aufzubauen.
Bestätigt wurde seine Arbeit durch die beiden großen Kirchenvisitationen in dieser Zeit. Und auch Johanns Nachfolger Friedrich der Großmütige unterstützte Walters Arbeit. Es hätte ein Leben in Frieden werden können, hätte es da nicht 1547 den Schmalkaldischen Krieg gegeben, Friedrichs Niederlage und den Verlust der Kurwürde an die ernestischen Wettiner in Dresden, die auch noch Torgau dazubekamen, sodass für Johann Walter der Landesfürst wechselte.
Was eigentlich nicht das Problem gewesen wäre, denn seit 1539 war auch das ernestinische Sachsen protestantisch und die dortigen Herzöge und Kurfürsten wussten Walters Wirken durchaus zu würdigen. Wäre da nicht das Leipziger Interim von 1548 gewesen, die sogenannten Leipziger Artikel, die Elemente evangelischer Theologie und reformkatholischer Positionen vermischten.
Ein Kompromiss, den nicht nur Walter nicht als Kompromiss sah, sondern als eine Aufgabe der klaren Lutherschen Positionen. Als er dann tatsächlich zum Hofsängermeister am Dresdner Hof berufen wurde, wurde das für ihn zu einem Gewissensproblem, das er nicht lösen konnte. Gesteigert noch durch die heftige Konkurrenz von italienischen und niederländischen Musikern, die Kurfürst August in die Hofkapelle berief.
Da bat Walter lieber um seinen Abschied und kehrte nach Torgau zurück, wo er freilich weiterhin emsig komponierte und veröffentlichte. Er war der wohl produktivste Musiker seiner Zeit, was die Veröffentlichungen betraf, von denen etliche im Grunde auch Streitschriften waren. Ganz so allein in seinem Kampf gegen die Philippisten, die das von Philipp Melanchthon mit ausgearbeitete Leipziger Interim mittrugen, wie es im Buch den Anschein hat, war er natürlich nicht. Auch seine anspielungsreichen Verse wurden emsig gekauft und gelesen. Einige seiner streitbaren Lieder fanden später den Weg in den festen Bestand der evangelischen Liederbücher.
Nun komm der Heiden Heiland, Johann Walter (1496-1570) / con anima
Und wie die Videoclips hier zeigen, werden seine Lieder noch heute von anspruchsvollen Ensembles gesungen. Sie scheinen – aus der Sicht späterer Komponisten – relativ einfach gestrickt zu sein. Aber dass sie deshalb einfach zu singen wären oder gar simpel wirken, kann niemand behaupten. Im Gegenteil: Sie zeigen, dass Walter nicht zu Unrecht zu den besten Komponisten seiner Zeit gezählt wurde. Und sie lassen die Faszination ahnen, die auch die sächsischen Kurfürsten spürten, wenn diese Choräle und Lieder in den Messen, zu Hochzeiten und auch bei der Tafel vorgetragen wurden.
Man ahnt stellenweise, was für ein Pensum sich Johann Walter selbst auferlegt hatte, um insbesondere Torgau zum Vorbild für gute evangelische Kirchenmusik zu machen. Christa Maria Richter lässt in ihrer Recherche nicht nur die von Walter veröffentlichten Bücher sprechen, sondern durchforschte die Archive auch nach den Spuren, die ein solches Leben hinterlassen haben könnte – Rechnungen für die Kantorei, für Notenbücher, Gratifikationen.
Eine Stiftung an seine Kahlaer Familie kam dabei zum Vorschein, ein späterer Rechtsstreit, der seinen Geburtsstatus klärte, und natürlich viele Briefe an jene gebildeten Briefpartner, die so klug waren, die Schreiben zu archivieren. So lernen wir auch die kämpferische Beharrlichkeit kennen, mit der Johann Walter um seine religiösen Überzeugungen kämpfte. In den in Büchern überlieferten Versen noch viel vehementer, auch wenn er die eigentlichen Gegner aus guten Gründen nie beim Namen oder Titel ansprach, sondern lieber in den lutherschen Kategorien von Teufel und falscher Lehre.
„Allein auf Gottes Wort“ – Johann Walter – Johann-Walter-Kantorei Kahla/Thür.
Die Veröffentlichungen analysiert Richter in einem eigenen, sehr umfangreichen Teil, genauso reich mit Abbildungen gespickt wie auch die Teile zum Leben und Schaffen Johann Walters. (Nur ein Bildnis des „Urkantors“ fand sich nirgends.) Am Ende aber lässt sie sich mitreißen und schreibt einen Satz, den ich als Verlag und Verein lieber gestrichen hätte.
Denn zu Walters Zeit waren Endzeitvorstellungen allgegenwärtig. Der frühe Protestantismus war regelrecht durchtränkt davon. Aber es stimmt halt nicht, dass „die Zensur“ die theologischen Fragestellungen aus den heute noch gesungenen Walterschen Texten entfernt hätte. Auch in den Kirchen und Kantoreien ist es nun einmal so, dass man dort lieber Lieder auswählt, die dem eigenen Gefühl und Zeitempfinden noch nahe sind.
In diesem Sinne sind die Lieder Johann Walters noch hochaktuell, nicht im Sinn der alten theologischen Kämpfe. Und warum hier das Jahr 2036 als letztes verbleibendes Jahr verheißen wird, erschließt sich beim besten Willen nicht. Da hat Christa Maria Richter die Rolle der unparteiischen Quellenforscherin völlig verlassen. Hätte sie wenigstens das Jahr 2046 hingeschrieben, dann hätte das noch ein wenig Sinn gemacht, denn dann wird Walters 550. Geburtstag gefeiert. Und ich bin mir sicher, dass das passieren wird – mit Kantoreien in Torgau und Kahla und anderswo.
Christa Maria Richter Johann Walter, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2020, 24,80 Euro.
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