Ich glaube nicht daran, dass Menschen tatsรคchlich so vergesslich sind. Aber wenn es um Macht, Einfluss, Geld und Imponieren geht, dann schmeiรen sie alle Moral und alle Bedenken รผber Bord. Und da ist es egal, in was fรผr einer Gesellschaft sie an die Schalthebel kommen: Sie walzen alles nieder, was ihnen in den Weg kommt. Dรถrfer und Landschaften. Mรผhlrose in der Lausitz ist nicht das erste Dorf, das sie mit Finten und Vertrรคgen โdevastierenโ wollen. Keiner weiร das besser als der sorbische Schriftsteller Jurij Koch.
Na gut, das war jetzt eine Zuspitzung. Es gibt in der Lausitz noch andere Unermรผdliche, die sich seit Jahrzehnten gegen den Raubbau an ihrer Heimat engagieren. Aber Jurij Koch machte schon in der spรคten DDR Furore, als er 1987 auf dem 10. Schriftstellerkongress eine โ wie er es nennt โ โwiderborstigeโ Rede hielt, in der er nicht nur die Zerstรถrung seiner Heimat durch den Kohlebergbau anprangerte, sondern auch die damit verbundene bewusste Zerstรถrung des Klimas.
In DDR-Zeiten mit jubelnden Inszenierungen kaschiert, die Koch noch viel erbรคrmlicher fand: โDoch ich vermochte die feierliche Abfahrt des ersten Kohlezuges im neuen Tagebau nicht als Erfolg zu begreifen und sah das absurde Bild von jubelnden Menschen auf dem Ast, an dem sie sรคgen.โ
Die Rede hat er mit aufgenommen in seine jetzt im Domowina-Verlag verรถffentlichten โGrubenrandnotizenโ. Sie entfaltete 1987 ihre Wirkung weit รผber den Schriftstellerkongress hinaus, war Teil der aufflammenden Debatte um die massiven Umweltzerstรถrungen in der DDR, die auch noch dem Letzten klar machten: So kann das nicht weitergehen.
Doch es ging so weiter. Zumindest, was die Besessenheit von der Kohle als Energielieferant war. Und die Kรคmpfe โ die im Dorf Horno seit 1977 schon nachweisbar sind โ hรถrten deshalb nicht auf mit der Deutschen Einheit. Auch die Neugewรคhlten setzten auf Kohle. Und 1996 hatte der Schriftsteller und Journalist Jurij Koch endgรผltig das Gefรผhl, dass die Sorben wieder derselben gesichtslosen Maschinerie gegenรผberstehen, die sie schon aus DDR-Zeiten kannten. Denselben Manager-Typen in ihrer ingenieurtechnischen Schroffheit, wie man sie vor der โWendeโ schon gekannt hatte. Und einem ganz รคhnlichen Politikertypus, der die Sorgen der Betroffenen kleinredete oder gar nicht erst zu den Diskussionen und Demonstrationen erschien.
Das Gefรผhl, von โder Politikโ im Stich gelassen zu werden und vor โWirtschaftsinteressenโ nicht mehr zu zรคhlen, machte sich in der Lausitz schon in den frรผhen 1990er Jahren breit. Jurij Koch beobachtete es, notierte es fast beilรคufig aus seinen vielen Gesprรคchen am Rande seiner Arbeit als Journalist. Die stille Wut derjenigen, die ihre Hรถfe nicht verlassen wollten, die Prozess um Prozess anstrengen, weil die gesetzlichen Grundlagen fรผr die Zerstรถrung ihre Dorfes Horno (sorbisch: Rogow) fehlten, und dann doch erlebten, wie der Landtag in Potsdam ihr Dorf zum Abbruch freigab.
Die Leipziger kennen eine ganz รคhnliche Tragรถdie mit dem Dorf Heuersdorf im Sรผdraum. Auch dort schmiedete ein von Kohle geradezu trunkener Landtag extra ein Gesetz, damit das Dorf abgerissen werden konnte.
In der Lausitz wurden so im Lauf der Zeit รผber 80 Orte und Ortsteile vom Erdboden getilgt. Koch spricht sogar von 115. Doch die Besitzer des Braunkohlekonzerns wechselten โ aus dem VE Braunkohlenkombinat Senftenberg (BKK Senftenberg) wurde die LAUBAG, die dann von Vattenfall รผbernommen wurde, das dann 2016 โ auf Druck der schwedischen Regierung โ ihre klimaschรคdliche Kohlesparte zum Kauf anbot.
Die tschechische EPH kaufte und betreibt das Lausitzer Revier heute mit der LEAG. Die ja bekanntlich genauso stur weiteren Zugriff auf neue Kohlefelder haben will und deshalb die Eliminierung von Mรผhlrose betreibt. Mit denselben Methoden, die LAUBAG und Vattenfall schon bei Horno in Brandenburg angewendet hatten.
Koch schreibt nicht wirklich jeden Tag, sondern setzt sich in der Regel dann an seinen Schreibtisch, wenn das Thema ihn wieder einmal aufgewรผhlt hat. Trotzdem entsteht ab 1996 eine Geschichte des Endes von Horno, werden die Urteile der Gerichte gedeutet, die Landtagsentscheidungen erzรคhlt mit ihren Wirkungen bis in die Dorfgemeinschaft.
Fรผr wie doof halten Politiker eigentlich die Menschen, die sie regieren?
Der Brandenburgische Kohleausschuss brachte es 1997 tatsรคchlich fertig, fast parallel zur Klimakonferenz in Kyoto den Abbauplan fรผr den Tagebau Jรคnschwalde โ und damit fรผr die Zerstรถrung Hornos โ zu genehmigen. 20 Jahre Kampf um das Dorf โ mit einem Federstrich beseitigt. Und das, wรคhrend in Kyoto um eine deutliche CO2-Reduzierung gerungen wurde. Denn wir alle wussten es โ seit 1992 (Rio de Janeiro) erst recht โ dass wir den CO2-Ausstoร massiv drosseln mรผssen, um das aushaltbare Klima auf unserem Planeten zu retten. Aber 1997 waren schon wieder zehn Jahre vertan. Und wie wir wissen, geht das bis heute so weiter, sind wieder 20 Jahre vertan. Tatenlos. Wertvolle Jahre, in denen die alternativen Energien mit aller Kraft hรคtten ausgebaut werden kรถnnen.
Jurij Koch belรคsst es nicht bei dem fokussierten Blick auf das sterbende Dorf, dessen Todeskampf sich bis 2005 hinzieht. Zuletzt machen die Versuche, die alte Dorfkirche in die Luft zu sprengen, Schlagzeilen. Er schaut auch auf die groรen Verstรถrungen der Zeit, die sich aber ganz beilรคufig mit dem Drama in der Lausitz verbinden: Die Bombardierung Jugoslawiens, die Jurij Koch vรถllig inakzeptabel fand.
Die dann aber bekanntlich im Krieg im Irak ihre Steigerung fand. Welche enormen Ressourcen da fรผr kriegerische Einsรคtze da waren โ aber nicht fรผr die รผberfรคllige Energiewende. Aber die Jahre haben ja auch erstmals gezeigt, wie schnell der Klimawandel selbst hier in Sachsen und in der Lausitz spรผrbar wurde. Niemand kann sagen, er hรคtte nichts gemerkt. Koch erzรคhlt im Tagebuch von den massiven Hochwassern an der Weichsel 2001 โ noch nicht ahnend, dass wenig spรคter, 2002, genau solche Hochwassermassen die Elbe und die Oder hinabdrรคngen wรผrden.
Und am 31. August 2000 vermerkt er in seinem Tagebuch: โErstmals seit Menschengedenken das Eis am Nordpol aufgebrochen โฆโ
Niemand kann sagen, er hรคtte es nicht gewusst.
Und natรผrlich suchte Koch schon damals nach einem Bild, wie er das Drama um die verkohlten Dรถrfer in der Lausitz greifbar machen kรถnnte. Er findet dafรผr schon 1998 das Bild eines terroristischen Aktes. Dessen โHeldโ ist der Ingenieur Rudolf von Bรถckler, der beschlieรt, an einem Freitagnachmittag den Damm eines Stausees zu sprengen und die Stรคdte, Dรถrfer und Tagebaue, die darunterliegen, in einer Flut zu begraben. Eine Geschichte, die Fragment geblieben ist, vielleicht auch bleiben musste, weil es in terroristischen Begriffswelten kein Ende gibt, keine Lรถsung.
Nur den Vollzug der vรถlligen Vernichtung. Das Fragment ist zwischen die Tagebucheintrรคge gestreut. Der Leser kann sich also durchaus aufgefordert fรผhlen, die sture Zerstรถrung der Lausitz fรผr die Gewinnung des klimaschรคdlichsten Brennstoffes mit einem terroristischen Akt und dessen Ziel- und Sinnlosigkeit zu vergleichen. Wobei Kochs โHeldโ auch noch Wert darauf legt, stets bei klarem Verstand gehandelt zu haben.
Ja, das ist leider das Erschreckende daran. Und dazu gehรถren auch Kochs รberlegungen zur ingenieurtechnischen Prรคzision, mit der vier entfรผhrte Flugzeuge es geschafft haben, die USA in genau den sinnlosen und endlosen โKrieg gegen den Terrorโ zu verstricken, der bis heute die komplette Weltpolitik verblรถdet.
Ein wenig werden auch Victor Klemperers Tagebรผcher 1933 bis 1945 zum stillen Begleiter von Jurij Kochs eigener Tagebuchschreiberei. Immer wieder zitiert er daraus Stellen, die mit der Lausitz und der Gegend um Horno zu tun haben. Und immer wieder reflektiert er auch das Gnadenlose und Gefรผhllose in unserer alten Energiepolitik, in der alles Nachdenken und Zukunftsdenken so vรถllig zu fehlen scheint.
Schon 2003 kann er รผber die erste groรe Dรผrre in der Lausitz schreiben. Es war das erste Jahr, das darauf hindeutete, was uns 2018, 2019, 2020 dann heimsuchte. Und kรผnftig immer รถfter heimsuchen wird. In den Kohlegebieten dadurch verstรคrkt, dass hier รผber Jahrzehnte das Grundwasser abgepumpt wurde und unter den Tagebauen ein riesiger wasserloser Trichter entstanden ist, den die kรคrglichen Regen der Gegenwart nicht mehr auffรผllen kรถnnen.
Das Entsetzen ist immer ganz still im Hintergrund mit dabei. Auch Jurij Kochs andauerndes Entsetzen รผber die โVergesslichkeitโ der Menschen, die keine wirkliche Vergesslichkeit ist: Unsere aktuelle Energiebeschaffung, schreibt er im Dezember 2006 zum Ausklang seines Tagebuchs, โist auf dem Niveau wendischer Schildbรผrger, die einst in Salow bei Wittichenau im kalten Hause sitzend auf die Idee gekommen waren, das Holz des Dachstuhls zu verfeuern. Und sie waren fรผr kurze Zeit glรผcklich.โ
Das gilt 14 Jahre spรคter immer noch. Immer noch steht ein sorbisches Dorf auf der Zerstรถrungsliste. Immer noch sollen hunderte Millionen Tonnen von Kohle in Sachsen und Brandenburg verfeuert werden. Obwohl in der Atmosphรคre genau das passiert, wovor die Klimatologen seit 50 Jahren beharrlich warnen. Die Gletscher und Polkappen schmelzen ab. Die Wรคlder brennen. Und in der Lausitz ist das Misstrauen in die Politik mit Hรคnden zu greifen.
Die โGrubenrandnotizenโ lesen sich so lebendig und aktuell wie in den Jahren, als Jurij Koch sie schrieb. Er echauffiert sich nicht einmal, sondern bleibt stets der aufmerksame, nachdenkliche Beobachter und Zeuge des Verschwindens eines alten sorbischen Dorfes โ und damit auch der Gefรผhllosigkeit gegenรผber einer schwindenden Minderheit, die mit ihren Dรถrfern auch ihre Kultur verliert.
Man kรถnnte mutlos werden, wenn man sieht, wie wenig Erfolg der Widerstand gegen die Zerstรถrung der Lausitz seit 1987 genรผtzt hat. Ganz รคhnlich dรผrften sich alle fรผhlen, die heute um das Dorf Mรผhlrose kรคmpfen, von dem wir endgรผltig wissen, dass die 145 Millionen Tonnen Kohle unterm Dorf niemand jemals brauchen wird noch verfeuern darf.
Bilder von der Zerstรถrung Hornos ergรคnzen das Buch, das tatsรคchlich mit eindringlicher Stimme in die Gegenwart mahnt, den Zerstรถrungen endlich Einhalt zu gebieten. Koch muss an den Passagen seiner Rede von 2006, die er im Tagebuch zitiert, nichts รคndern. Sie sind so aktuell, dass man sie an die Giebel aller vom Abriss bedrohten Scheunen und Wohnhรคuser schreiben kรถnnte.
Wir kรถnnen uns nicht auf unsere Vergesslichkeit berufen. Es ist alles aufgeschrieben und dokumentiert. Und wir wissen spรคtestens seit 1997, was zu tun ist. Und zwar sofort und nicht irgendwann spรคter, wenn die Konzerne ihre Geschรคftsbรผcher schlieรen und unsere Ernten verdorren und die Wรคlder verbrannt sind.
Das muss nicht einmal ein Vorwort erklรคren: Jetzt ist die Zeit, endlich die Augen aufzumachen. Jetzt.
Jurij Koch GrubenRandNotizen, Domowina-Verlag, Bautzen 2020, 16,90 Euro.
Hana: Jurij Kochs Erzรคhlung von 1963 und eine Spurensuche nach dem Leben des Mรคdchens Annemarie aus Horka
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