Beinah hätte es noch eine Galerie gegeben, in der wechselnde Ausstellungen Arbeiten von bildenden Künstlern zur Musik gezeigt hätten. Aber den Gedanken ließen die Planer irgendwann fallen, als das neue Leipziger Gewandhaus am Augustusplatz nach und nach Gestalt annahm. Kunst ist trotzdem drin, sogar mehr, als der Betrachter von außen sehen kann, wo ihm das riesige Deckengemälde „Gesang vom Leben“ von Sighard Gille entgegenleuchtet.

2021 jährt sich die Eröffnung des Gewandhauses am Augustusplatz zum 40. Mal. Mehrere Millionen Euro hat die Stadt in den letzten Jahren investiert, um das Haus fit zu machen für die Zukunft. Man sieht ihm die 40 Jahre nicht an – noch nicht.

Denn mit dem Bau gelang Rudolf Skoda eines jener architektonischen Kleinode, die heute exemplarisch für die moderne Architektur in der DDR stehen. So modern, dass es auch im Jahr 2020 noch modern wirkt. Erst der Blick auf Details zeigt, dass man es trotzdem mit einem Bau der 1970er Jahre zu tun hat. Was aber auch heißt: Das Haus hat Charakter. Es verleugnet seine Entstehungszeit nicht.

Und das tun auch die Kunstwerke im Haus nicht, die in diesem Bildband erstmals alle versammelt sind. Auch wenn nicht alle aus jener Auftragszeit um 1980 stammen, als die künstlerische Ausstattungskonzeption für das Gewandhaus umgesetzt wurde – mit Ruckeln und auch ein, zwei kleinen Skandalen.

Sigrid Hofer erzählt in ihrem Einleitungstext sehr akribisch, wie das Kunstprogramm fürs Gewandhaus entstand, wie die SED anfangs zumindest noch versuchte, dem Programm einen ideologischen Stempel aufzudrücken. Eine Direktive sollte 1975 das „bildkünstlerische Themenspektrum spezifizieren“.

Doch schon ein Jahr später versank diese Kraftgeste im Nirwana. Das hat so bisher kaum jemand so beispielhaft geschildert, was die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 eigentlich bedeutete. Meist wird immer nur von der beginnenden Ausreisewelle kritischer Künstlerinnen und Künstler, die jetzt begann, berichtet. Gern auch von der Machtgeste der SED erzählt.

Aber tatsächlich war die Ausbürgerung eine Geste der Schwäche. Und das wusste selbst der SED-Machtapparat, der 1989 so sprachlos war, weil er die Chance, die er sich mit dem Eigentor 1976 verschafft hatte, nicht genutzt hatte. Denn wer nicht über Fehler sprechen kann, kann sich auch nicht verändern und korrigieren.

Aber das Zeug hatte die erstarrte Partei nicht mehr. Wer sich nicht mehr bewegen kann, kann auch nicht mehr reagieren, wenn die anderen am Tisch neue Freiräume einfordern. Und das taten sie. Die einen mit dem Wissen um ihre Funktion, wie der HGB-Rektor Bernhard Heisig, die anderen mit ihren Themenvorschlägen und Kunstwerken.

Sogar der eigentlich staatsverbundene Willi Sitte, der mit seinem nackten Rockstar vielleicht sogar glaubte, die von Starallüren beherrschten Musiker der Unterhaltungsmusik karikieren zu können. Aber Anstoß erregte nicht die Karikatur, sondern die ausgestellte Nacktheit. Das wollte auch Gewandhauskapellmeister Kurt Masur so nicht im Haus hängen haben. Heute hängt es trotzdem. Auch über diese Prüderie sind wir hinweg.

Die Nackten in Sighard Gilles Riesengemälde hingegen erregten keinen solchen Skandal. Das Bild erfuhr sogar höchstes Lob in der DDR-Presse, als das Gewandhaus eröffnet wurde. Und auch die ganz und gar nicht mehr allmächtige Partei beschwerte sich nicht, dass hier keine Arbeitermusikkapelle abgebildet worden war, sondern ein furios aufspielendes Orchester, das ausgerechnet Gustav Mahler intonierte.

Das war das Gewandhaus auf höchst expressive Weise auf den Punkt gebracht – und all die grau gewordenen Ideen von der Arbeiterkunst waren einfach beiseite gefegt.

Was wohl auch die SED-Funktionäre spürten: Musik auf höchstem Niveau braucht ein professionelles Orchester und ein Publikum, das musikalischen Sachverstand oder wenigstens tiefste Liebe zur Musik mitbrachte. Und das wollte beim Schlendern im Foyer und auf den Etagen ganz bestimmt keine Propaganda sehen. Eher so etwas, was in diesen Jahren programmatisch im Palast der Republik in Berlin umgesetzt wurde: das Haus auch als Schaufenster für die Kunst des Landes. Und zwar für die phantasievolle Kunst, die auch mal aneckte.

Und die sieht man noch heute. Und sie wirkt – großformatig auf allen Etagen, egal, ob Volker Stelzmanns Hommage an Jimi Hendrix „Drifter’s Escape“ oder Arno Rinks „Musikstillleben“, beide Werke genauso extra für das Gewandhaus-Kunstprogramm entstanden wie Nuria Quevedos „Eine Art den Regen zu beschreiben, für Hanns Eisler“ oder Heidrun Hegewalds „Der Tanzmeister, ein Bild über die falschen Töne“, das auch 1981 ein deutliches Bekenntnis war. Hier geht es nicht nur abstrakt gegen den Krieg, sondern sehr konkret um die Aufrüstung mit Kurzstreckenraketen, die damals in West und Ost vorangetrieben wurde.

Manche Bilder sind auch selbst wie Musik – selbst das scheinbar so musiklose von Walter Womacka, in dem weniger das versteckte Radio als die großen Meeresmuscheln vom Hören erzählen, oder Susanne Kandt-Horns „Die begeisterten Musen“. Es ist, als hätten die Künstler/-innen ihr eigenes Bild von Musik in Farbe verwandelt. Denn ist es nicht so? Jeder sieht etwas vollkommen anderes, wenn er gute Musik hört. Die Bilder gehören ihm ganz allein. Und aus jedem Konzert geht jeder mit völlig anderen Eindrücken hinaus. Nur die üblichen Alleswisser erklären einem danach immer jede Stelle, an der sie mit der Interpretation des Kapellmeisters nicht zufrieden waren.

Zum Kunstprogramm des Gewandhauses gehören natürlich auch all die Büsten der berühmten Komponisten und Musiker, die überall auf den Gängen herumstehen und natürlich auch ein Bekenntnis sind. Ihre Musik wurde und wird hier tatsächlich mit Leidenschaft gepflegt – von Tschaikowski bis Schumann, von Mozart mit Grieg.

Im Erdgeschoss findet man auch gleich die berühmten Gewandhauskapellmeister gewürdigt – Franz Konwitschny, Carl Reinecke, Arthur Nikisch, Kurz Masur und Felix Mendelssohn Bartholdy. Nicht zu vergessen Vaclav Neumann, der 1968, nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag, sein Leipziger Dirigat niederlegte.

Natürlich steht das alles nicht in großen Texttafeln neben den Kunstwerken. Das holt jetzt dieses Buch nach. Der kundigen Einführung von Sigrid Hofer in die zunehmend zerbröselnde Kunstpolitik der DDR rund um das Gewandhaus-Kunstprogramm folgt eine von Luisa Senkowsky und Peter Sondermeyer erarbeitete Übersicht übe alle Kunstwerke, in der es genauere Informationen zu allen Künstler/-innen und zu Herkunft und Inhalt ihrer Kunstwerke gibt.

Denn nicht alle Werke stammen aus den Jahren 1980/1981. Manche wurden erst später dem Gewandhaus geschenkt, einige sind auch Zeugnisse des 1944 zerstörten Gewandhauses im Musikviertel. Zu dieser katalogischen Übersicht kann man immer wieder zurückblättern, wenn man sich die großen Bildtafeln im dritten Teil des Buches anschaut, die dann sorgfältig nach der Etage sortiert sind, auf der man sie finden kann.

Nur einen findet man nicht, obwohl er – wie Sigrid Hofer es ausdrückt – die Chance zum „autonomen Themenwandel“ ebenfalls nutzte: Wolfgang Peuker, dessen Arbeit bei der Baubegehung am 1. April 1981 in den Augen der Kommission nicht „dem festlichen Charakter des Hauses“ entsprach. Wahrscheinlich harmonierte der Fries auch tatsächlich nicht mit Sighard Gilles Werk, sodass die begonnene Arbeit überstrichen wurde und mit Tafeln verdeckt. So findet man Peukers Bild auch nicht in diesem Band. Man kann sich also kein Bild machen.

Dennoch bekommt man ein ganz gutes Gefühl für die Inszenierung und die Atmosphäre des Gewandhauses. Man spürt das sanfte Beharren auf Festlichkeit und feierlicher Gediegenheit. Und selbst die 21 Bildtafeln fügen sich ein, wirken auch wie ein stiller Triumph über die gescheiterte Besserwisserei einer Partei, die immer dann glaubte reagieren zu müssen, wenn Künstler tatsächlich einmal Gefühle zeigten. Und wer die Bilder immer nur so im Vorbeischlendern sah, erfährt jetzt einige Hintergründe und merkt, dass er eigentlich die ganze Zeit durch einen alten DDR-Diskurs marschiert, in dem am Ende die Künstler das letzte Wort hatten.

Andreas Schulz; Sigrid Hofer Die Kunst im Gewandhaus, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2020, 40 Euro.

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