Je öfter man die Romane osteuropäischer Autor/-innen liest, umso stärker wird das Gefühl, dass die Westeuropäer (und die (Ost-)Deutschen eingeschlossen) in einer Blase leben, einer Wohlstandsblase, die sie blind macht für die Wirklichkeit des eigenen Kontinents. Auch wenn Kaśka Bryla in Wien geboren wurde, am Leipziger Literaturinstitut studiert hat und auch heute wieder in Wien lebt. Ihre zweite Heimatstadt heißt Warschau.

Und in gewisser Weise steckt ein Stück ihres eigenen Rebellentums in ihrer Heldin Mania, die am Beginn der Geschichte in Berlin ihre Koffer packt, um einem Hilferuf aus Wien zu folgen, denn ihr Jugendfreund Tomek ist verschwunden – die Zettel, die er auf dem Tisch zurückließ, verheißen nichts Gutes. Denn seit einem Jahr lebt er in einer dramatischem Beziehung mit der selbstmordgefährdeten Marina. Wohin sind sie verschwunden?

Nicht nur Zahid, den Mania 2015 nach seiner Flucht aus Syrien durch Ungarn schleuste und in Wien vorerst in Sicherheit brachte bei ihrem Freund Tomek, ist alarmiert. Verzweifelt ruft er bei Mania an – was er später bereut, denn alles, was er fortan erlebt, stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was er in seiner Heimat über das Mannsein gelernt hat.

Und nicht nur das. Denn aus dem Hilferuf entwickelt sich in fesselnder Geschwindigkeit ein echtes Roadmovie, das ausgerechnet auch noch denselben Weg nimmt wie Ziemowit Szczereks On-the-road-Roman „Sieben“: Es geht nach Warschau, wo die hochbegabte Hackerin Ruth Tomeks Smartphone geortet hat.

Mit den Notizen, die Tomek zurückgelassen hat, kann sich Mania schnell zusammenreimen, wohin Marina Tomek gelotst hat. Tomek, der so unfähig ist, sich gegen Übergriffe und Manipulationen zu verteidigen, der felsenfest davon überzeugt ist, man könne Menschen verändern, wenn man sich nur genug aufopfert.

Doch nicht nur Mania, die extra Psychologie studiert hat, ahnt, dass Tomek da wohl nur versucht, etwas gutzumachen, zu reparieren in seiner eigenen Geschichte, in der es ein Ereignis gibt, in dem seine Wehrlosigkeit tatsächlich in einer großen Verletzung endete. Vielleicht sogar zwei. Denn auch der Tod seiner Mutter spielt da hinein.

Mit Mania und Ruth hat Kaśka Bryla zwei Heldinnen erschaffen, die sich mit Oberflächlichkeiten nicht abgeben und ihren rationalen Verstand dazu nutzen herauszufinden, warum Dinge in ihrem Leben so verlaufen sind, wie sie verliefen. Es gibt beiden eine Stärke, die man bei 99 Prozent der weiblichen Roman„heldinnen“ in der gesamten Weltliteratur zu Recht vermisst.

Die meisten Autor/-innen pflegen tatsächlich noch immer so ein Frauen-sind-anschmiegsam-Weltbild, ohne es zu merken. Sind also eigentlich auch blind dafür, was Frauen wirklich denken, tun und wollen. Was natürlich mit den üblichen Frausein-Schablonen in unseren Gesellschaften zu tun hat.

An einer Stelle klingt das sogar an, wenn Kaśka Bryla ihre Heldinnen über die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Gehirns diskutieren lässt und darüber, dass es Dinge, für die es kein Vergleichsbild hat, nicht zu erkennen vermag. Also schlichtweg blind ist dafür.

Das bezieht Kaśka Bryla zwar nicht auf das Frausein. Aber es gehört dazu. Quasi als unausgesprochener Untergrund dieser Emanzipations-Migrations-Geschichte. Denn sowohl Manias als auch Ruths Lebensgeschichten sind Emanzipationsgeschichten. Was aus Frauen-Perspektive eben nicht heißt, sich in einer Männerwelt gegen Männer durchzusetzen (was ja die Hauptinterpretation der üblichen Emanzipations-Debatten ist), sondern sich all der Zumutungen zu entledigen, die Männer und Machthaber für normal halten.

Deswegen schwärt der Übergriff auf Tomek in Mania so lange, dass sie die Rache quasi zu ihrem Lebensinhalt macht, erst recht, als sie erfährt, dass der Täter sogar mehrere Kinder ermordet hat. Auf der Fahrt nach Warschau scheint es zwischen Mania und Ruth mehrmals kurz vor der Explosion zu stehen, weil Ruth bei all ihrem zum Teil untergründigen Engagement nicht wirklich akzeptieren kann, dass Mania ihr Wissen so gnadenlos anwendet, um den Täter zu bestrafen. Der ihr als Psychologin nicht gewachsen ist, weil er nicht ahnt, wie sie ihn regelrecht dazu zwingt, die Tragweite seiner Taten zu begreifen und zu bereuen.

Aber dieser Teil der Geschichte (der der eigentliche Grund für Manias Flucht aus Berlin ist) ist auch wieder nur ein Kontra-Punkt. Kaśka Brylas Erzählung (in der der „Rote Affe“ in Wirklichkeit nur zwei Mal motivisch anklingt) ist wie ein Musikstück komponiert, eines, in dem sich die Leitmotive Mania, Ruth, Tomek verflechten. So, wie sich echte Freundschaften im Leben tatsächlich verflechten.

Die anderen sind immer Teil der eigenen Wahrnehmung, man verlässt sich auf sie, weiß, dass sie einen besser verstehen als man sich selbst. Es sind immer konfliktreiche Beziehungen. Denn von niemandem sonst ist man so leicht durchschaubar und möchte doch nur das Beste von sich zeigen. Und dennoch genügen Andeutungen und nichts ist mehr geheim. Man ist ertappt. Das schöne Selbstbild ist im Eimer. Oder die versuchte Schonung der jeweils anderen.

Es könnte sich also auf dem langen Weg nach Warschau zu einem regelrechten Mania-Ruth-Drama aufschaukeln – wären da auf der Rückbank des Leihautos nicht Zahit und Tomeks Hund Sue. Und Zahit ist eigentlich nur dabei, weil in Wien bald die Polizei vor der Tür steht, denn er hat mit Drogen gedealt.

Die Geschichte könnte also auch in Leipzig spielen. In Österreich benehmen sich die Ausländerbehörden genauso schizophren wie in Sachsen. Statt den vor dem Bürgerkrieg Geflohenen einfach eine Aufenthaltsberechtigung zu geben und ihnen die Chance zu geben, eine Arbeit aufzunehmen, werden sie wie Kriminelle behandelt und regelrecht in jenes Abseits gedrängt, in dem der Schritt zur tatsächlichen Kriminalität nur noch klein ist. So geht man nicht mit Menschen um. Und mit einem ehrlichen Asylangebot hat das auch nichts zu tun.

Und Mania kann das genauso nachempfinden wie Ruth, auch wenn Ruth den quengelnden Zahit erst einmal richtig zusammenstaucht, weil der nun ausgerechnet auf dieser Tour versucht, noch einmal Mitleid zu schinden aus seiner Fluchterfahrung.

Aber was Migration ist, wissen Mania und Ruth aus ihrer eigenen Familiengeschichte, auch wenn sie schon die zweite und dritte Generation sind: Manias Eltern sind aus Polen weggegangen, weil es dort für sie keine Zukunft mehr gab, Ruths Großeltern haben den Holocaust erlebt und den Antisemitismus in ihrer polnischen Heimat. Die Gefühle von Heimatlosigkeit und Fremdheit, so muss sich Zahit erklären lassen, wird er niemals los. Und auch seine Kinder und Enkel nicht.

Und gerade dieses Osteuropa ist ein Ort, wo Migrations- und Vertreibungserfahrungen allgegenwärtig sind – alte Wunden, die nicht verheilt sind, neue Verluste, die ganze Gesellschaften zerreißen. Nicht nur, weil die Jugend ihre Koffer gepackt hat, um ihr Glück im Westen zu suchen, sondern weil sich die Enttäuschung breitgemacht hat, dass das Wohlstandsversprechen des Westens sich auch nach Jahrzehnten nicht einlösen ließ.

Aber die Jagd nach dem Goldenen Kalb hat Spuren hinterlassen, vor allem – so interpretiert es zumindest Kaśka Bryla – das Gefühl, die eigene Seele verloren zu haben. Weshalb Polen nicht nur rechts und rechtsextrem wählt, sondern alle Werte der Moderne rigoros ablehnt als fremd und übergestülpt.

Das kommt einem doch sehr vertraut vor. Denn in schwächerer Form schwelt diese Ent-Täuschung ja auch in Ostdeutschland. Und sie stammt aus derselben Illusion: Dass man sich das Glück kaufen könne. Dass man einfach die D-Mark wählt und dann zieht das Paradies ein, denn etwas anderes war ja mit „blühenden Landschaften“ als Wahlkampfslogan nie gemeint. So wird der Mensch aber zur Spielfigur und nicht mehr zum Handelnden. Und es füllt sich der Kopf mit lauter Vorwürfen an, wer alles am eigenen Nichtglücklichsein schuld haben muss.

Die Wohlstandsgesellschaft schafft sich ihren eigenen Frust. Und nicht zu knapp.

Denn das verblüfft schon an Kaśka Brylas Heldinnen: Sie haben zwar ihre Last zu tragen und kämpfen mit dem tiefsitzenden Gefühl, ihre Fehler aus der Vergangenheit irgendwie ausbügeln zu müssen. Aber sie versuchen gar nicht erst, den gesellschaftlichen (männlichen) Erwartungen zu entsprechen, zermartern sich auch nicht den Kopf mit inneren Monologen. Sie handeln. Ganz rational und konsequent, erst recht, als sie wissen, dass sie nicht viel Zeit haben und schleunigst nach Warschau müssen, wenn sie Tomek retten wollen.

Natürlich bleibt die Diskussion völlig offen, ob Mania nun tatsächlich das ist, was man eine „Mörderin“ nennt. Dazu weiß auch Ruth mittlerweile zu viel über menschliche Prägungen und die doch sehr verwirrende Tatsache, dass es „das Böse“ eigentlich nicht gibt. Dass auch Verbrecher nicht in dieser religiösen Weise böse sind, auch wenn sie andere Menschen quälen und töten. Inwieweit wird Mania wie sie, wenn sie sich professionell einfühlt in diese Menschen – und sie zur Reue zwingt? Empathie als Voraussetzung des wirklich Bösen?

Man ist so ganz nebenbei drin in einer sehr aufregenden, aber auch beängstigenden Diskussion, die sich aber eben nicht nur auf Kaśka Brylas Roman beschränkt. Die Diskussion betrifft auch unser heutiges Rechtssystem, die moderne Bestrafungspraxis und die Psychologie, die alle immer wieder vor der Frage stehen: Kann man Menschen ändern?

Nein, sagen die Heldinnen von Kaśka Bryla. Und haben wohl recht. Auch wenn dieser Glaube daran, Menschen könnten geändert werden, zum festen Glaubensbestandteil unserer Gesellschaft gehört. Was eben zu etlichen sentimentalen Verirrungen führt – bis hin zu diesem frustrierten Wohlstandsbürger, der nach 30 Jahren immer noch glaubt, das Leben wäre ein ewiges Weihnachtsfest. Und der sich nicht einmal bemüht, sein eigenes Glück zu suchen, seine eigenen Fähigkeiten, Stärken und Beweggründe.

Die meisten Menschen sind deshalb so leicht manipulierbar, weil sie manipuliert werden wollen.

Springe ich da schon aus dem Stoff des Romans heraus? Nicht wirklich. Denn eigentlich handelt diese Geschichte ja von nichts anderem. Denn Tomek gerät ja deshalb in eine bedrängnisvolle Lage, weil er glaubt, die Geliebte dadurch überzeugen zu können, dass er sich bedingungslos verbiegt.

Wie viele Männer und Frauen machen das eigentlich so in ihren Partnerschaften? Und würden es niemals zugeben, egal, wie sie darunter leiden?

Es ist auch eine Das-Leben-am-Schopf-packen-Geschichte. Und natürlich eine über Schuld und Sühne, Selbstbehauptung und den Mut, das eigene Leben zu leben. Ein Mut, ohne den man in Zeiten wie diesen gar nicht auskommt, schon gar nicht in Osteuropa. Zeiten, in denen das Alte seine Versprechen nicht mehr hält und jeder selbst die Kraft finden muss, seinen Rucksack zu packen und seinen Weg zu suchen.

Wie kompliziert das dann mit den Gefühlen, Absichten und Schuldgefühlen trotzdem ist, komprimiert Kaśka Bryla am Ende noch in ein dichtes, poetisches Gespräch zwischen Mania, Ruth, Tomek und Zahit. Einige Autoren, die man dann in Kaśka Brylas Leseliste erwartet hätte, tauchen dort gar nicht auf – Dostojewski zum Beispiel.

Dafür jede Menge Literatur aus Philosophie und Psychologie, denn Kaśka Bryla schreibt nicht nur über das Gefängnis, sie gibt seit 2016 selbst Kurse im kreativen Schreiben in Gefängnissen und für Migranten. Sie kennt also die Menschen, über die sie schreibt. Es sind keine Schablonen, sondern erstaunlich vertraut, wenn man selbst erst einmal die Schablonenbrille absetzt. Und das betrifft nicht nur die Flüchtlinge von 2015, sondern alle unsere Nachbarn, denen wir meist so kenntnislos begegnen, als kämen sie von einem anderen Planeten.

Ein mitreißendes Buch gegen etliche unserer üblichen Schablonen.

Kaska Bryla Roter Affe, Residenz Verlag, Salzburg/Wien 2020, 22 Euro.

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