Ein neuer Clemens Meyer? Einer voller Irritationen? Aber die Irritationen kennt man ja schon von ihm. Das hat seinen Romanen „Als wir träumten“ und „Im Stein“ ihre Wucht gegeben und seinen Figuren jene Unsicherheit, die ja tatsächlich so typisch ist für das menschliche Leben. Die klaren Einsichten und Überzeugungen, die die meisten vor sich hertragen wie eine Fahne, kaschieren das nur. Und nichts ist so betrügerisch wie ein allwissender Erzähler.
Nichts ist so illusorisch wie eine klare Linie im Leben und der Glaube daran, alles in der Hand zu haben. Der Mensch handelt nicht so souverän. Was wir eigentlich gelernt haben sollten nach dem „Jahrhundert der Extreme“. Aber augenscheinlich machen wir immer wieder dieselben Fehler, gibt es viele unter uns, die nur zu bereit sind, die Macht über ihr Leben in die Hände narzisstischer und rücksichtsloser Männer zu legen, die die Macht (über andere) nicht deshalb anstreben, weil sie das Rüstzeug für ein gutes Regieren hätten, sondern weil sie felsenfest der Überzeugung sind, dass ihre eingefärbte Sicht auf die Welt die einzig richtige ist.
Nein, wir haben das blutige 20. Jahrhundert noch immer nicht hinter uns gelassen. Davon erzählt Clemens Meyers Novelle, auch wenn er seine Leser/-innen diesmal mitnimmt in die serbische Stadt Novi Sad im Jahr 1942, in die eisigkalten Tage des 21. bis 23. Januar 1942, als der ungarische Befehlshaber General Ferenc Feketehalmy-Czeydner in dieser von Ungarn besetzten Stadt 1.246 Menschen ermorden ließ.
Eins der vielen verstörenden Ereignisse in diesem Krieg, der Männern wie Feketehalmy-Czeydner alle Mittel in die Hand gab, ihrer Mordlust zu frönen. Das Absolute in diesem Krieg, das Unbarmherzige und Menschenverachtende, war von Anfang an da.
Und es ist längst so viel darüber geschrieben worden, dass dabei die eigentliche Frage fast vergessen wurde: Wie erlebten das eigentlich die Betroffenen, die nicht das wussten, was wir heute wissen, die auf die Staatsmacht (und sei es auch eine fremde) versuchten zu vertrauen, die Worte der Befehlshaber zu glauben und auch in Zeiten der Besatzung ein einigermaßen menschliches, normales Leben zu führen versuchten – weiter mit den Früchten ihres Hofes auf den Markt in der Stadt zu fahren, auf dem Schwarzmarkt nach Zigaretten zu fragen, ins Kino zu gehen und sich von den Sorgen des Tages abzulenken.
So, wie es Meyer schildert in dieser Geschichte, die er gleich mit dunklen Tönen beginnt, denn anders als seine Figuren kennt er das Ende schon. So wird alles symbolisch, schreibt er das schlimme Ende schon in die kargen Szenen und tastenden Gespräche hinein. Denn noch haben zwar die Deutschen mit ihrem Sinn für radikale Verwaltung den Laden irgendwie im Griff, stehen die Soldaten in grüner Uniform neben den Ungarn in Blau, scheinbar nur auf einer endlosen Wache in trister Winternacht.
Meyer lässt keine Mordkommandos durch Novi Sad rollen (oder Újvidék, wie es die Ungarn nennen) und auch keine Bewaffneten ausrücken. Er lässt auch den Mann in seinem innerstädtischen Palast nicht auftreten, der das alles angeordnet hat. Nur seinen Hauptdarsteller in einem Mantel aus Wolfspelz lässt er erst die Brücke über die Donau überqueren und dabei ein Gespräch mit den Wachposten führen, bei dem man nicht recht weiß: Was führt er im Schilde? Zu welcher Seite gehört er überhaupt? Wissen das die Wachposten selbst, die in den Tagen zuvor mit Schauergeschichten über die Mordlust der Partisanen getränkt wurden?
Kein Stiefelknallen, keine gebellten Befehle. Nur dieser Mann, der durch das alte Novi Sad läuft, ziellos, wie es scheint, und doch alles registrierend. Mit dieser Stadt verbindet ihn eigentlich nur die Erinnerung an das Bioskop und eine viel zu dünne Bäckerstochter, vor der er sich in dieses Kino flüchtete, um sie nicht heiraten zu müssen. Auch diese Geschichte endet im Bioskop, jenem seltsamen Raum, der damals, als der Stummfilm vom Tonfilm abgelöst wurde, noch voller Magie war.
Eine Magie, die Clemens Meyer noch heute fasziniert. Und die Kino-Enthusiaten bei der Rettung alter Kinosäle immer wieder aufs Neue versuchen zu retten. Orte, die eine magische zweite Welt bedeuten. Doch die gesehenen Filme spielen sich ja auch in unseren Köpfen ab – die Magie geschieht in unserem Erinnern. Sodass das Bioskop selbst zum Ort der Bilder wird. Einem Ort, an dem wir nicht mehr wissen, ob der Mann im Wolfspelz die blonde Frau vom Bahnhof gerettet hat.
Ob überhaupt jemand in diesem seltsamen Traumraum überlebt hat. Oder ob wir mit Clemens Meyer nur zuschauen, wie Schicksale enden – einfach so. Eben noch ernsthaft mit all den Dingen beschäftigt, die das Leben ausmachen, dem Spiel der Kinder oder den kleinen Besorgungen für den Haushalt.
Und dann geht etwas Unsagbares durch die Stadt, etwas Schweres und Schweigendes, und löscht Menschen einfach nur deshalb aus, weil ein von Macht besessener Mann es befahl. Befahl, ein Zeichen der Vergeltung zu setzen für die Aktionen der Partisanen. Meyer tippt das, was wirklich geschah, nur mit sehr starken, teilweise poetischen Bildern an. Das genügt vollkommen. Man hört keine Schreie. Nur Flüstern hin und wieder, während der Mann vor der verschlossenen Synagoge steht.
Oder zu den Wachen hinüberschaut, in einer Stadt, in der schon längst Totenstille herrscht. Einer ganz normalen europäischen Stadt, von der Clemens Meyer gar nicht erst erzählt. Dazu lässt er alte Stadtansichten von Novi Sad sprechen, die jene Stadt zeigen, bevor der Große Krieg begann und der Irrsinn der befehlenden Männer das Land verheerte.
Eine Stadt, die durchaus auch ein wenig an das Leipzig der damaligen Zeit erinnern kann. Wer die alten Postkarten anschaut, kann sich schlicht nicht vorstellen, dass hier einmal die Mordkommandos herumfahren wĂĽrden, Menschen einfach eliminiert werden wĂĽrden aus dem Leben einer lebendigen, quirligen und von StraĂźenbahnen durchzuckelten BĂĽrgerstadt.
Und doch ist es passiert – in hunderten europäischer Städte. Und die meisten Bewohner dieser Städte hatten gar keine Vorstellung von dem, was ihnen da geschah, waren nicht vorbereitet auf die Dimensionen des Unfassbaren. Und auch nicht auf die Dimension der Verrohung, die sich eigentlich literarisch gar nicht mehr beschreiben lässt. Auch wenn es die begabtesten Autor/-innen immer wieder von neuem beginnen.
Denn wenn wir diesen Abgrund vergessen, geraten wir wieder in Gefahr, dass Ähnliches von neuem geschieht. So wie im Jugoslawienkrieg 50 Jahre nach den Ereignissen in Novi Sad. Aber man muss nicht einmal über Landesgrenzen schauen, um zu sehen, dass von ihrem Recht auf Macht und Gewalt beherrschte Männer verbal längst wieder genauso unterwegs sind und das Unmenschliche wieder sagbar zu machen versuchen.
Und damit Anhänger finden, die ihnen hinterherlaufen, stolz auf ihre neu gefundene Meinung, die sie für Freiheit halten. Es ist im Grunde eine warnende Geschichte, die Clemens Meyer da geschrieben hat. Eine, die in einem schwebenden Ton davon erzählt, wie unvorbereitet die meisten Menschen sind, wenn wieder mächtiggewordene Männer von „Vergeltung“ träumen und eben noch lebendige Landschaften in Totenhäuser verwandeln.
Die Überlebenden können später nicht viel anderes erzählen als das, was Meyer seine Protagonisten sehen lässt. Das Grauen bleibt immer unfassbar und die eindeutigen Geschichten mit den Happyends erfinden immer nur die Sieger, die hinterher Geschichte so schreiben, wie sie sie gern gehabt hätten – mit klaren Fronten, mit eindeutigen Zuordnungen von Gut und Böse.
Und möglichst ohne Schuld. So vergisst man, dass solche Wunden nie heilen, wenn man sich ihrer nicht annimmt. Und sei es mit dieser poetischen Nüchternheit, mit der Clemens Meyer erzählbar zu machen versucht, was im Januar 1942 in Novi Sad geschah.
Clemens Meyer Nacht im Bioskop, Faber & Faber 2020, 18 Euro.
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