Erst jüngst geriet Immanuel Kant ja bekanntlich mitten hinein in eine Diskussion, in der man den Professor aus Königsberg gar nicht erwartet hätte: als Vordenker des Rassismus. „Die Anstalt“ machte sich sogar daran, ihn vom Sockel zu stürzen. Und wahrscheinlich ist es auch höchste Zeit dafür. Nicht weil Kant ein bösartiger Mensch war, sondern weil er die Bretter vorm Kopf hatte, die zu seinem Zeitalter gehörten. Auch in Sachen Natur hatte er ein fettes Brett vorm Kopf, kann Ulrich Ruschig feststellen.

Ulrich Ruschgig ist nicht irgendwer. Lange Jahre stand er dem Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg vor. Der Lehrstuhl präsentiert auf seiner Homepage stolz einen Ossietzky-Spruch, der mit dem Satz endet: „Wir müssen die Wissenschaft wieder menschlich machen.“

Ein hoher Anspruch.

Aber zu dem gehört nun einmal gerade in der deutschen Philosophie, die riesigen Berge an Ur-Philosophie zu lesen und immer wieder neu zu bewerten, all diese schwer verdaulichen und hochtheoretischen Schriften, auf die sich auch Nicht-Philosophen immer wieder beziehen in Deutschland, weil das so verdammt gelehrig und kundig klingt, wenn sie mit Namen wie Kant, Hegel, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche um sich werfen.

Die Wahrheit ist: Kaum ein Mensch liest deren Schriften wirklich. Schon gar nicht Kants Schriften zur Kritik der praktischen Vernunft oder wie in diesem Fall „Die Metaphysik der Sitten“, insbesondere die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“.

Nie gehört? Da sind Sie nicht allein.

Dass Ruschig sich noch einmal mit diesem Text beschäftigt hat, hat mit Herbert Marcuse zu tun, dessen Schrift „Natur und Revolution“ Ruschig aus der Versenkung holt, weil er sich sicher ist, dass diese Schrift zu unrecht vergessen ist. Sie erschien 1972 – nicht ganz zufällig im selben Jahr wie „Die Grenzen des Wachstums“, die der Club of Rome herausgab, die ja bekanntlich für den Beginn unseres heutigen Nachdenkens über ein nachhaltiges Wirtschaften stehen.

Scheinbar ein Erfolg: Selbst die schmutzigsten Konzerne versuchen irgendwie, ihr Tun mit dem Mäntelchen Nachhaltigkeit aufzuhübschen. Politiker/-innen führen das Wort immerfort im Munde. Und: Es tut sich fast nichts.

Kann es auch nicht, stellte Marcuse eigentlich in seiner kleinen Schrift fest. Wenn die Grundannahme falsch ist, kommt man aus der fatalen Schleife nicht heraus.

Marcuse war bekanntlich ein ausgemachter Marxist. Und an der Forderung nach einer Revolution kommt er nicht vorbei. Aber mehrere seiner Schriften sind heute noch hochaktuell, weil sie sich konsequent mit dem Dilemma unserer Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft beschäftigen – von der Generalkritik an Hegels Staatsmodell bis zu „Der eindimensionale Mensch“. Er hat diese alten Perückenträger tatsächlich nicht nur gelesen und rezipiert, sondern die Logik in ihrem Denken und ihren Grundannahmen unter die Lupe genommen.

Denn ein philosophisches Gesamtkunstwerk kann noch so schön aussehen – wenn die Grundannahmen falsch sind, wird das Ergebnis fatal.

Und Kants „Die Metaphysik der Sitten“ sind ja der konsequente Versuch des nie aus Königsberg herausgekommenen Professors, die gesellschaftliche Moral mit unumstößlichen Grundannahmen zu untermauern. Er war leider kein Empiriker und Soziologe. Auch wenn es auf den ersten Blick fasziniert, wie er versucht, die Freiheit aus dem Wesen der bürgerlichen Gesellschaft heraus zu definieren.

Ein hochaktuelles Thema, wie man weiß: Allerorten rufen die seltsamsten Leute nach Freiheit, sehen sich bevormundet, sehen gar ihre Meinungsfreiheit beschnitten. Und die Partei mit dem „freiheitlich“ im Namen ist ganz konsequent und sieht immerfort die Freiheit des Unternehmertums und des Marktes beschnitten. Und könnte sich dabei auch auf Kant berufen.

Denn Kant war sehr wohl bewusst, dass es in einer menschlichen Gesellschaft keine absolute Freiheit gibt. Dass Freiheitsrechte immer eine Grundbedingung haben, etwas, das sie als Recht überhaupt erst einmal begründet.

Ich gehe jetzt da und dort ein wenig über Ruschigs Schrift hinaus, aber sie regt eben dazu auch an. Auch und gerade, weil er immer wieder auf die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ von Karl Marx zurückkommt, der sich darin natürlich auch mit dem Begriff Freiheit beschäftigt hat. Und mit der bis heute aktuellen Frage, wie frei eigentlich der Mensch ist, wenn er um seines Lebensunterhalts willen einer völlig entfremdeten Arbeit nachgehen muss.

Aber es geht ja um Kant und seinen Versuch, Freiheit aus den Grundbedingungen seiner Zeit heraus zu definieren. Aber er lebte längst in einer Gesellschaft, die ihr Recht schon gesetzt hatte, ein Recht, innerhalb dessen Kant aufgewachsen ist. Das hat Folgen, wie Ruschig feststellt. In „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ bemüht sich Kant – und darin ist er bürgerlicher Philosoph – darum, die These nachzuweisen, „daß grundsätzlich und unabhängig von jeder bestimmten Gesellschaftsformation ein jeder äußere Gegenstand meiner Willkür der Möglichkeit nach mein Privateigentum werden könne und daß das Gegenteil der grundsätzliche Ausschluß eines äußeren Gegenstands von als Privateigentum Genommen-Werden als rechts- und verfnunftswidrig betrachtet werden müsse.“

Bewundern Sie ruhig die Satzkonstruktion. Sie ist einer der Gründe dafür, warum kaum noch jemand Kant liest.

Aber was Kant hier macht, ist ein Zirkelschluss. Er erklärt es geradezu für vernunftswidrig, dass irgendetwas in der Welt kein Privateigentum sein könnte.

Und Ruschig hat sichtlich seine philosophische Freude daran auseinanderzudröseln, was für Folgen so ein Denken hat. Denn genau diese Denkhaltung sorgt dafür, dass einige Menschen sich immer mehr Dinge aneignen und Menschen, die nichts besitzen, in hohem Grade rechtlos sind. Denn Privateigentum definiert nach Kant nicht nur Recht, sondern auch Freiheit.

Wer Dinge – aber auch Böden, Wälder, Bodenschätze – mit einem Besitztitel belegt, schließt andere von deren Nutzung aus und definiert gleichzeitig sein Recht, dieses Besitztum auszuplündern. Denn es ist ja seins. Der Besitztitel erlaubt ihm die komplette Plünderung.

Es entsteht das Kantsche „Erlaubnißgesetz“, welches „uns die Befugniß giebt (…) allen andern eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben.“ So original Kant. Er macht die willkürliche Aneignung von Besitz zur Grundlage des Rechts.

Höchste Zeit, den Herrn Professor von seinem Sockel zu stoßen.

Kant, Marx oder Arendt – Wer war rassistischer? | Die Anstalt

Und so stellt auch Ruschig fest: „Dieses ,Erlaubnißgesetz‘ ist die philosophische Rechtfertigung dafür, daß das Privateigentum und damit das Kapital sich auf dem Globus grenzenlos ausbreitet …“

Wobei es nicht bleibt. Denn jede Menge Kopfschmalz verwendet Kant darauf, eben nicht nur leblose Dinge dem Besitzergreifen zu unterwerfen, sondern auch die Lebewesen und die lebendige Natur. Da wird er dann regelrecht zum Geistesakrobaten und definiert die Lebewesen zu zwecklosen Dingen.

Ein „methodischer Kniff“, wie Ruschig feststellt. Denn wenn die lebendige Natur keinen eigenen Wert und keine eigene Würde hat, ist sie per definitionem herrenloses Gut. Und was herrenlos ist, kann sich einer aneignen. Egal, ob das Wälder, Wiesen oder Tiere sind.

Natur ist also – nach Kant – nicht um ihrer selbst willen da und damit frei, sondern nur ein Objekt der Aneignung. Was Folgen hat, heftige Folgen, die Marcuse schon ahnte, denn damit sind der Maßlosigkeit und dem grenzenlosen Wachstumsdrang des Kapitals alle Türen geöffnet. Alles wird der Verwertungslogik unterworfen – die verkrüppelten Mastschweine in den Tierfabriken, die gezüchteten Leistungspflanzen, die Ressourcen der Meere … Obwohl wir alle wissen, dass all unsere Ressourcen begrenzt sind.

Die grenzenlose Verwertungslogik trifft auf eine eindeutig limitierte Welt. (Die übrigens auch noch einzigartig und unersetzbar ist. Aber das nur nebenbei.)

Aber nicht nur das ist das Problem, wenn Marcuse fordert: „Befreit die Natur!“ Denn was bei Kant überhaupt keine Rolle spielt, erleben wir heute als elementar (dazu brauchte es nicht einmal die Corona-Krise): Wir sind als Menschen selbst Teil der lebendigen Natur. Wenn wir den Reichtum der Natur zerstören, zerstören wir nicht nur unsere Lebensgrundlagen, sondern auch einen Teil von uns selbst.

Es wird noch schöner – und Ruschig deutet es zumindest an: Im menschlichen Bewusstsein erkennt die Natur sich selbst. Wenn wir die Natur „entmenschlichen“ – also einfach nur noch verwerten und „verbrauchen“ – entmenschlichen wir auch uns selbst, verlieren wir den Reichtum, der uns mit der Welt verbindet.

Es passiert genau das, was der einsame Professor in Königsberg in seinem A-priori-Setzen schon getan hat: Wir verlieren unser Lebendigsein als natürliches Wesen. Natur tritt uns nur noch als Privateigentum und „Ressource“ entgegen. Und das Denken sitzt tief – auch in den Köpfen der Politiker, die sich nicht einmal mehr wagen zu denken, dass (Privat-)Eigentum unrechtmäßig sein könnte.

Überall dominiert es, schafft sich Recht, hebelt Gesetze aus und erzeugt alle diese seltsamen Eiertänze von Amtsinhabern, die nicht in der Lage sind, Flüsse, Seen, Wälder, Meere, bedrohte Auen, Wiesen, Tier- und Pflanzenarten gegen die Zugriffe von Leuten zu schützen, die irgendwelche Besitztitel, Berg- und Nutzrechte vorweisen können.

Was eben bedeutet, dass mit dem auf Besitz gründenden Recht der Plünderung aller Ressourcen Tür und Tor geöffnet sind. Was – so Ruschig – nach Marcuse dazu führt, „daß das Kapital, angewiesen auf Gegenstände der Natur, gerade dadurch, daß es diese benutzt, die Natur erheblich und fortschreitend ramponiert und so die Grundlagen seines Produzierens untergräbt.“

Es liegt ein klassisches Herrschaftsverhältnis vor und es ist eben nur logisch, in diesem Sinn auch die Natur als geknechtet zu bezeichnen. Denn sie ist eben kein Ding an sich. Was wir ja nach all den Forschungsergebnissen der Naturwissenschaften inzwischen wissen. In dem Punkt widerspricht Ruschig Kant radikal: „Denn es gehört zur Daseinsweise des Menschen als vernünftiger Naturwesen, daß sie als die Art homo sapiens nicht für sich und vollkommen unabhängig von anderen Lebewesen und Arten leben können.“

Gerade weil wir als Menschen auf die lebendige Natur angewiesen sind und ohne sie gar nicht überleben können, ist es „moralisch geboten“, sie als wesentlich und selbstbestimmt zu akzeptieren. Und wenn Marcuse von Befreiung der Natur spricht, impliziert das eben zuallererst die Befreiung unseres Denkens aus den alten Brettern. Wir können die Natur nur schützen und bewahren, wenn wir wieder Respekt und Rücksicht lernen – das zu schonen und zu schützen, was uns überhaupt erst einmal Leben und Bewusstsein ermöglicht hat.

Was eben auch heißt, dass wir die stillschweigende Grundlage unseres Rechtssystems ändern. Denn das Kantsche Denken, dass erst Besitz Recht begründet, steckt in allen Bereichen und ist Grundlage der ungehemmten Wachstumslogik (die eigentlich nur eine Aneignungslogik) ist. Denn wer sich schon viel angeeignet hat, hat die Macht, sich noch mehr anzueignen.

Es ist die stille Macht, die hinter den Kulissen permanent wirkt und Staaten scheinbar völlig paralysiert und unfähig macht, wirklich wirksame Schritte zur Rettung unserer Lebensgrundlagen zu unternehmen.

Denn das geht nun einmal nicht ohne die Aufhebung von Besitzansprüchen auf Tiere, Pflanzen, Böden und Ressourcen, die nicht verwertet und zerstört werden dürfen. Ein paar kleine Reförmchen helfen da nicht. Das braucht einen großen Akt der Befreiung.

Denn das Gegenteil von dem, was Kant behauptet hat, ist wahr: Freiheit ist nur dort, wo sie nicht durch Privateigentum beschnitten wird. Das rührt an den Kern des bürgerlichen Denkens über Freiheit. Das war Marcuse klar, auch wenn selbst „der linke Mainstream“, wie ihn Ruschig nennt, lieber nicht ernsthaft darüber nachdachte, warum wir derart handlungsunfähig in der Wachstumsfalle sitzen.

Ulrich Ruschig Die Befreiung der Natur, PapyRossa, Köln 2020, 11,90 Euro.

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