Früher standen Gedichte sogar im Wirtschaftsteil der Zeitung. Ach nein, das ist ja Unfug. Das hat ja gar nicht Rainer Nahrendorf geschrieben sondern Gabriel Garcia Marquez. Aber auch bei Rainer Nahrendorf bekommt man so ein Gefühl, dass im Wirtschaftsteil der Zeitung auch mal ein Gedicht stehen sollte. Denn Wirtschaftsberichterstattung in Deutschland leidet oft unter Blutleere. Nahrendorf war immerhin 34 Jahre lang bei einem der wichtigsten Wirtschaftsmagazine des Landes, beim „Handelsblatt“. Und nun? Nun schreibt er Tiergeschichten.
Wenn man wie er seit 2006 im Ruhestand ist (aber nebenher fleißig weiter als freier Journalist arbeitet), hat man jede Menge mehr Zeit, sich dem Eigentlichen im Leben zu widmen. Und das sind weder Quartalszahlen noch Aktienkurse, weder Bilanzkonferenzen noch die Gehälter überbezahlter Manager, die niemandem wirklich verantwortlich sind für ihr Tun.
„Wirtschaft“ hat meistens wenig mit Wirtschaft zu tun. Was der Mensch spätestens dann merkt, wenn er sich seine heimische Haushaltskasse, seine Rücklagen und die Kosten seines kleinen Grundstücks anschaut. Denn auch wenn Nahrendorf einen kämpferischen Hahn aufs Cover gehoben hat und meint, es ginge in seinem Büchlein eher um den richtigen Umgang mit angriffslustigen Hähnen, die ihre Hühner verteidigen, heißt der eigentliche Held des Buches Georg Krapinski, ein Mann, der sich nach 45 Jahren als Erntehelfer, in denen er sich krumm und bucklig geschuftet hat, einen kleinen Hof in der Eifel gekauft hat.
Das ist die Heimatregion von Rainer Nahrendorf, der er schon einige Bücher gewidmet hat. Seinen Helden stattet er mit einem ganz großen Herzen aus, denn der möchte schon gern etwas Lebendiges auf seinem Hof haben. Und bald hat er auch seinen ersten lebendigen Gast: einen Wanderesel, der in die Jahre gekommen ist und nun sein Gnadenalter erlebt. Vielleicht ein bisschen einsam auf Krapinskis Hof, sodass auch bald ein Pony dazukommt.
Und ein Hund, der vorher therapeutisch in der Schule im Einsatz war. Ein Glücksferkel bringt die Polizei vorbei. Katzen sind sowieso da, bald kommen noch Hahn und Hühner dazu, denn es spricht sich herum, dass sich hier jemand um Tiere kümmert, die anderswo keinen Platz mehr haben. Also beinah so wie in den Bremer Stadtmusikanten, wo es die vier Musikanten selbst in die Hand nahmen, sich ein neues Zuhause zu suchen.
Und da Nahrendorf das mit der Wirtschaft verinnerlicht hat, weiß er, dass auch Krapinskis Gnadenhof nicht funktioniert, wenn er dabei keine finanzielle Unterstützung bekommt. Und die Unterstützer finden sich. Und man denkt ganz beiläufig darüber nach, dass es wohl doch viel mehr wirtschaftlich sinnvolle Modelle gibt als das, welches uns die heutigen Großkonzerne in ihrer Renditewut demonstrieren. Und dass es davon wahrscheinlich sogar mehr gibt, als es offizielle Wirtschaftsbilanzen ausweisen.
Nämlich genau dort, wo Menschen sich gegenseitig helfen, gemeinsam Projekte verwirklichen oder – wie im Fall des Dörfchens Wiesental – Georg Krapinski helfen, seinen Gnadenhof zu betreiben. Denn da haben ja alle was davon. Die einen müssen ihre geliebten Tiere nicht einschläfern lassen, die anderen bekommen echte Bio-Eier aus der Schar des Raufbolds Frederick, der auf Störungen genauso reagiert, wie ein richtiger Hahn nun einmal reagiert – mit geschwelltem Kamm und entfesselter Angriffswut. Was einige Kinder und Neugierige dazu animiert, ihn erst recht zu ärgern.
An der Stelle wird Nahrendorfs Geschichte dann wirklich zu einer Verteidigungsschrift für kampflustige Hähne, erklärt er die natürlichen Grundlagen ihres Verhaltens und warum Menschen das lernen sollten zu respektieren. Auf einmal wird es eine kleine Streitschrift zur Zeit – nicht nur gegen die in einigen Ländern noch immer erlaubten Hahnenkämpfe, die die zum Duell eingesetzten Hähne oft nicht überleben.
Noch viel mehr stellt die reich bebilderte Geschichte die Frage nach unserem Verhältnis zu den Tieren. Eine Frage, die ja seit dem Auftauchen von Corona ebenso steht. Denn die Menschheit dringt ja in ihrem Kultivierungswahn nicht nur immer weiter in die verbliebene Reste von Wildnis und damit in zuvor geschützte Tierreservate vor, sondern wird auch – weil er augenscheinlich jedes Verständnis für Tiere verloren hat – bei der Begegnung mit Haustieren übergriffig, behandelt sie wie kleine dumme Spielgefährten, regelrecht wie Spielzeug. Und dann wundern sich die Übergriffigen, dass sich die Tiere wehren und den Störenfrieden richtig zusetzen.
Und Hähne, die ihre Hühnerschar verteidigen, sehen tatsächlich rot und gehen aufs Ganze. Was eigentlich kein Thema für lustige Videoclips ist (auch wenn es auf Youtube von scheinbar lustigen Clips wimmelt, in denen erzürnte Hähne auf Menschen losgehen, die in ihr Revier eingedrungen sind), sondern eins, sich wieder mit tiergerechter Haltung zu beschäftigen. Die man heute kaum noch irgendwo beobachten kann, weil die traditionellen Bauernhöfe flächendeckend von riesigen Tierfabriken verdrängt wurden. Wo sollen Kinder dann eigentlich lernen, wie Tiere sich normalerweise benehmen? Selbst Haustiere wie Hähne und Hühner?
In gewisser Weise schildert Nahrendorf ja so die Kollision einer von echten Tierbegegnungen fast völlig entblößten Gegenwart mit der sich bedrängt fühlenden Kreatur.
Und der Gnadenhof wird auch zu einem Symbol für unsere Entsorgung der Tierwelt. Hier bekommen die Tiere ihr Gnadenbrot und machen gleichzeitig das kleine Dorf berühmt, weil man hier noch einen richtigen Hahn erleben kann.
Auch wenn Nahrendorf die Geschichte nicht ganz so weit erzählt. Denn bei ihm kommt nur der Mensch in die Konkurrentenrolle, wenn er dem aufgeregten Frederick zu nahekommt. Aber ist es nicht eher noch viel umfassender? Dringt der Mensch nicht überall so rücksichtlos in die Rückzugsräume der Tiere ein und benimmt sich, als wären die Tiere die Störenfriede?
Das bleibt offen. Am Ende verweist Nahrendorf noch auf mehrere Youtube-Clips, die sich mit Hähnen und ihrem Verhalten beschäftigen. Vielleicht lernt man ja was draus. Zum Beispiel, dass man auch diese wütenden Tiere respektieren lernen muss, dass wir nicht immer und überall mit der belebten Welt umgehen sollten, als wäre das alles nur Spielzeug für unsere Langeweile.
Hab ich da zu viel hineingelesen? Keine Ahnung. Das Thema liegt eigentlich mitten auf dem Platz. Man kann sich auch auf so eine leicht erzählte Weise nähern. Und ein bisschen Respekt lernen – auch vor stolzen Hähnen, die sich nicht zum Schmusetier machen lassen.
Rainer Nahrendorf Der Raufbold, Tredition, Hamburg 2020, 8,99 Euro.
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