Er ist wohl der bekannteste Mönch und spirituelle Ratgeber derzeit in Deutschland: der Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach Anselm Grün. Und er war auch der Mann, der vielen Redaktionen als erstes einfiel, als sie ab März jemanden suchten, der erklären kann, wie man mit erzwungener Einsamkeit im Corona-Shutdown zurechtkommen kann. Mönche müssen so etwas doch wissen.

Viele Menschen erlebten ab März etwas, was sie so vorher noch nie erlebt haben: Wochenlang waren sie auf ihre eigene Wohnung angewiesen. Der Weg zur Arbeit entfiel. Die Straßen waren wie leergefegt, Kontakte zu Mitmenschen radikal reduziert. Auf einmal war überall diese Stille. Kein Straßenlärm mehr, keine Partys. Selbst die familiären Kontakte schrumpften fast alle auf digitale Datenpakete.

Da fühlte sich so mancher wie ein Mönch in der Zelle. Dazu kamen die Ängste vor der unsichtbaren Gefahr. „Social distancing“ wurde auf einmal lebenswichtig. Und im Kopf rumorten die Fragen: Wie geht das weiter? Geht jetzt auch die Wirtschaft in die Knie? Kann man seine Miete noch bezahlen oder wird man jetzt arbeitslos?

Da merkten selbst Redakteur/-innen auf einmal, wie lächerlich und oberflächlich so viele Aufreger aus der Zeit vor Corona gewesen sind. Die dümmsten unter ihnen entwickelten dann seltsame Ratgeber: „Welche Netflix-Serien sollte ich jetzt anschauen?“ Man merkte schnell: Manche wollten nicht nachdenken, wollten sich lieber weiter zudröhnen, nur um ja nicht über sich selbst, Lebensängste, Sorgen und Hoffnungen nachzudenken.

Solche Typen werden natürlich auch nie ein Seminar bei Anselm Grün besuchen. Und zwar nicht nur, weil sie nicht gläubig sind. Man muss auch nicht gläubig sein, um bei Anselm Grün Rat und Trost zu finden. Oder vielleicht besser: Ermutigung und Entlastung. Denn nach Jahrzehnten in der Seelsorge weiß Grün nur zu gut, worunter die Bewohner der irre laufenden Gegenwart für gewöhnlich leiden, welche Last und Zweifel sie mit sich schleppen. Kaum einer ruht in sich.

Das war vor Corona ja nicht überhörbar: Immer mehr Menschen waren außer sich. Im ganzen Wortsinn. Nicht nur mit ihren Gefühlen waren sie auf 180, auch ihre Lebensvorstellungen, Wünsche und Erwartungen waren jenseits aller persönlichen Grenzen, waren auf Ego, Gier, Besitz, unendliche Ziele ausgerichtet. Zugekleistert mit völlig falschen Vorstellungen von Freiheit.

Dass gerade unser Planet in die Knie geht, weil diese Maßlosigkeit das Grundprinzip der so verbissen angefeuerten Wirtschaftsordnung ist, war Grün auch vorher nicht fremd. Ihn verwunderte weder die seelische Not, in die viele dieser Rastlosen auf einmal stürzten, noch die Tatsache, dass ein Virus genügt, um diese blinde Hatz auf einmal weltweit auszubremsen.

Denn das alles gehört zusammen. Und hat auch immer zusammengehört: die völlige Entgrenzung der Wirtschaft, in der Globalisierung Hand in Hand geht mit rücksichtsloser Plünderung aller Ressourcen, und die völlige Entgrenzung von Arbeits- und Konsumwelt. Keinen Spruch findet Grün so verhängnisvoll wie „Zeit ist Geld“.

Denn wer so denkt, macht seine wertvolle Lebenszeit zu Geld, und damit auch seine Träume, seine Beziehungen, all die Momente, die er eigentlich innehalten könnte, um den unerhörten Reichtum, das unerhörte Geschenk eines kurzen Lebens auf dieser Erde überhaupt wieder wahrzunehmen. Das tiefe Loch, in das so viele Menschen im Shutdown fielen, war schon vorher da.

Sie haben es nicht wahrgenommen, haben sich lieber in endlose Unrast gestürzt, um nicht auf einmal in Momenten der unerhörten Stille den eigenen Wünschen, Ängsten, Hoffen und Bangen zu begegnen. Dem, was übrig bleibt, wenn der Mensch keine aufgesetzte Rolle mehr spielt und nicht mehr den Erwartungen und Versprechungen anderer nachjagt, sondern unverhofft und erschrocken merkt, dass sein eigentliches Leben eine riesige, unerfüllte Leere aufweist.

Eine Leere, mit der sich die Mönche seit über 1.600 Jahren beschäftigen. Natürlich religiös konnotiert. Der Weg in die Einsamkeit und ins Kloster war immer ein bewusster Weg in die Stille auf der Suche nach Gott. Was dann schon früh für viele dieser Absentierten die harte Begegnung mit ihrem eigenen chaotischen Ich war, das sich in dieser auferlegten Stille natürlich heftig zu Wort meldet. Schon damals war das so, staunt auch Anselm Grün, der die Schriften der Vorvorderen intensiv gelesen hat.

Auch auf der Suche nach seinem eigenen Verhältnis zum Mönchsein. Denn das hält man eigentlich nicht aus, wenn man seine Beziehung zum Leben, zum Dasein und vor allem zu sich selbst nicht klärt. Und eigentlich ist dieses Buch, das Grün nun auch mit den Erfahrungen aus der Corona-Zeit geschrieben hat, eine intensive Beschäftigung genau mit diesem Klärungsprozess, den nicht nur Mönche durchmachen. Und den auch Mönche viel vielschichtiger durchmachen, als man so als Außenweltbewohner mitbekommt. Auch sie müssen sich mit ihren rebellischen Gefühlen herumschlagen, müssen die Beziehungen zu ihren Mitmönchen klären, müssen den Furor in sich verstehen, mit Ängsten und Panik umgehen lernen.

Und zwar nicht nur therapeutisch, auch wenn Anselm Grün einer ist, der auch intensiv die Bücher heutiger Philosophen, Psychologen und Therapeuten liest. Denn die schlagen sich ja alle mit denselben Problemen herum und der Frage, die am Anfang und am Ende jeder Therapie stehen muss: Was ist ein gutes Leben?

Da tauchen die alten Griechen auf, die mittelalterlichen Denker, Paulus, Johannes und natürlich Jesus. Wenn man die alle unter dem Licht dieser Frage liest, merkt man schnell, dass sie alle Teil einer jahrtausendelangen Suche nach der Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben waren. Und dass ihre Antworten – so verschieden sie sind – allesamt hilfreich sind.

Und deswegen muss man hinterher auch gar nicht ins Kloster gehen, wenn man Grüns Buch gelesen hat, in dem er auch analysiert, ob Corona nun nur eine Unterbrechung oder ein Zeitenwechsel ist. Aber auch Grün kommt zu der simplen Feststellung, dass das Virus wohl so etwas wie ein Warnschuss war, eine heftige Mahnung, dass wir so wie vor Corona nicht weitermachen dürfen und dass die Zeit der Besinnung wertvoll ist, weil sie uns die einmalige Gelegenheit gab, über das wirklich Wichtige nachzudenken, das, was unser Leben wirklich reich und intensiv macht und was uns tatsächlich das Gefühl gibt, in einer einmalig reichen Welt zu leben.

Aber dazu muss man sich seinen Ängsten stellen, sie annehmen als Warnungen, die Angst verwandeln, wie Grün es formuliert. Denn erst wenn wir uns trauen, die Ängste wirklich wahrzunehmen und anzunehmen, schaffen wir uns die Besonnenheit, Lösungen für unsere Probleme zu finden.

Das hat auch mit Dingen zu tun wie Demut, Dankbarkeit, Begeisterung, Nächstenliebe und Selbstliebe, Versöhnung und Frieden … alles Dinge, die in uns selbst passieren. Im Grunde ist Grüns Buch ein Ratgeber, eine Handreichung für alle, die sich zum ersten Mal auf den Weg machen, ihr Verhältnis zur Welt und zu sich selbst zu klären, zu lernen, beides anzunehmen und lieben zu lernen.

Wer die lebendige Welt liebt, aber auch seine eigenen Bedürfnisse kennt, der kommt auch mit dem scheinbar unlösbaren Gegensatzpaar Verzicht und Disziplin klar, der sucht den Trost nicht in immer mehr Dingen, mit denen er sein Leben belastet. Der lernt auch, sich selbst wieder einen Wert zu geben und sich nicht immer (nur) von anderen bewerten (oder entwerten) zu lassen.

Irgendwann ist Anselm Grün so im Flow, dass man gar nicht mehr mitkriegt, wie viele kleine, aufmerksame Schritte man mit ihm geht. Und dass er eigentlich immer auch aus der Perspektive des Mönchs erzählt, der sich eben nicht im wilden Strudel des Lebens betäubt, da ja sein ganzer Alltag durch Stille, Rituale und In-Beziehung-Setzen zu Gott geprägt ist. Aber gerade deshalb merkt er natürlich, wie bereichernd Achtsamkeit, Staunen und Ehrfurcht sind. Ein Kapitel übrigens, das erst nach der Erfahrung des eigenen Körpers kommt.

Denn wer nicht lernt, sich selbst zu schätzen, wer sich also immer nur abwertet und nicht für wettbewerbsfähig hält, der ahnt nicht einmal, wie bereichernd es ist auszusteigen aus der ständigen Bewertung und Abwertung. Denn wer immer nur bewertet, der entwertet auch. Der packt die Welt in Hierarchien und Rankings und wird todunglücklich, wenn er bei den „Wertvollen“ nicht mithalten kann.

So findet der Mensch natürlich seine von Minderwertigkeit durchkochte Hölle, aber nie seinen Seelenfrieden und auch nie das Maß seines Glücks. Es geht um das Mit-sich-Versöhnen, wie Grün schreibt, das Finden der eigenen Grenzen und den Ausgleich von Begeisterung und Nüchternheit. Und – auch das hat ja Corona vielen erst einmal wieder vor Augen gerückt – die Fähigkeit, das eigene Leben als endlich zu begreifen und anzunehmen. „Abschiedlich leben“ nennt es Grün. Also so zu leben, dass man nicht immer einer verkorksten Vergangenheit nachtrauert und nicht all das, was einem wirklich wichtig ist, aufschiebt bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern jetzt so lebt, wie man es sich immer gewünscht hat, das tut, was einen wirklich erfüllt. Wozu in der Zeit der Besinnung natürlich auch die Frage steht: „Was brauchen wir wirklich?“

Eine Frage, die sich ja vielen Menschen regelrecht aufdrängte, als auf einmal all die wilden Ablenkungen fort waren, die einem sonst halfen, sich seiner ureigensten Wünsche und Ängste nicht bewusst werden zu müssen.

Man merkt ziemlich schnell: Es gibt nicht den einen Ratschlag, der alle Probleme löst. Dazu ist der Mensch zu komplex. Was Anselm Grün nicht einmal erstaunt. Er hat sich ja wirklich mit der Rastlosigkeit und dem Verlorensein der Menschen in einer überdrehten Gegenwart beschäftigt.

Am Ende kommt er natürlich auf Gott, das, was Gläubige so gern „in Gottes Hand“ nennen, also das Urvertrauen, dass man sich für sein Dasein vor niemandem rechtfertigen muss, dass man ur-gelassen sein darf und sich nicht festkrallen muss am Irdischen, loslassen kann also schon mitten im Leben, was vielen so schwerfällt, die regelrecht Panik um sich verbreiten, wenn der Laden nicht brummt oder gar jemand nicht Gewehr bei Fuß steht und pariert.

Weshalb so viele Menschen nicht einmal mehr wissen, was Gelassenheit bedeutet oder gar „in Liebe leben“. Was eben auch heißt, nichts übers Knie brechen zu müssen, nicht immerfort andere zwingen zu müssen, ins erwartete Schema zu passen. Lernen, die Mitwelt wieder so sein zu lassen, wie sie ist.

Aber klärt das die Frage, wie wir hinterher weitermachen sollten? Das deutet Grün zumindest an, der sich sicher ist, dass die Veränderungen nicht mit Gewalt kommen. Sie kommen aus uns selbst: „Denn im Verändern steckt auch eine gewisse Aggression. Ich will ein anderer Mensch werden. Das bedeutet auch: So, wie ich jetzt bin, bin ich nicht gut. Und die Gesellschaft ist so, wie sie ist, nicht gut. Doch Veränderung erzeugt oft Widerstand, wenn wir uns nicht angenommen fühlen. Verwandlung dagegen meint einen inneren und langsamen Prozess, so wie ihn uns die Natur ständig vor Augen führt. Und Verwandlung meint, dass sich die Mentalität, die Denkweise, das Miteinander wandelt.“

Es ist eine sehr spannende Sichtweise, die Anselm Grün hier öffnet. Denn ihn beschäftigte in der Corona-Zeit auch die geradezu unbarmherzige Aggressivität, die vorher unsere Gesellschaft gebeutelt hat. Auch die gehört zu den Krisenerscheinungen, die sichtbar machen, wie unwohl wir uns in unserer Entwicklung fühlen. Aber Aggressivität löst keine Konflikte, im Gegenteil: Sie bestärkt die Macht all dessen, was wir bekämpfen.

Das ist vielen selbst nach dem Shutdown nicht wirklich bewusst.

„Verwandeln kann ich nur das, was ich angenommen habe“, schreibt Anselm Grün. „Das, was wir ablehnen, bleibt an uns hängen. Das gilt für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft.“

Wir müssen also bei uns selbst anfangen, uns zu verwandeln, zu dem zu werden, was wir gern sein möchten oder was wir eigentlich sind, nur nie wahrzunehmen wagten. Zum Verwandeln gehört die Gelassenheit, schreibt Grün. Was auch mit Zulassen zu tun hat und der Fähigkeit, Dinge, Menschen und Welt so lassen zu können, wie sie sind. Die Veränderung kommt aus uns selbst. Was auch so viele vergessen haben, die immerfort Wunder von „der Politik“ erwarten, sich selbst aber nicht ändern wollen.

Anselm Grün: „Bei diesem Nachdenken sollten wir bei uns selbst anfangen und nicht sofort Forderungen an die Politiker und Wirtschaftslenker stellen. Es ist immer leichter, andere zur Umkehr aufzurufen, als selbst anzufangen.“

Wahrscheinlich ist das die einzige Stelle, an der ich nicht zustimmen kann. Denn wenn man das weiterdenkt, merkt man schnell: Es ist leichter, selbst anzufangen und sich zu ändern, als auch nur einen dieser völlig überzogenen Wünsche von „den Politikern“ erfüllt zu bekommen. Die Politiker folgen eher, wenn sich unten, da wo wir sind, die Dinge schon ändern. Wer glaubt, sie liefen vorneweg, der irrt. Sie laufen hinter uns her und versuchen unsere Wünsche zu verstehen. Und wenn wir die falschen Wünsche äußern, bekommen wir die falsche Politik und genau diesen Berg ungelöster Krisen, von denen Corona nur eine ist. Vielleicht eine lehrreiche. Es lohnt sich, sich mit diesem klugen Mönch in einen Schaukelstuhl zu setzen und darüber nachzudenken, was eigentlich ein gutes Leben ausmacht. Und wie viel davon in unseren eigenen Händen liegt.

Anselm Grün Was gutes Leben ist, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2020, 22 Euro.

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